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Dienstag, 24. Juli 2018

Wenn Fußballer meinen, Politiker zu sein...

Meine Zuneigung zum Fußball ist hinlänglich bekannt. Dennoch hat sich die Causa Özil in den letzten Tagen, insbesondere heute, vehement in meinen Tagesablauf gedrängt und ich wurde verschiedentlich um Kommentar gebeten.

Mesut Özil ist ein im Oktober 1988 in Gelsenkirchen geborener Fußballspieler. Ende 2007 legte er seine türkische Staatsbürgerschaft ab, um eingebürgert zu werden. Zu der Zeit spielte er für den FC Schalke 04 und wurde in die U19 Nationalmannschaft Deutschlands aufgenommen. Ob Ablegen der türkischen und Annehmen der deutschen Staatsangehörigkeit mit der Aufnahme in die U19 im Zusammenhang steht, konnte ich nicht zweifelsfrei klären. Allerdings misst er selbst der Staatsangehörigkeit nach eigenen Worten keine große Rolle bei. 2012 sagte er zur Frage nach seiner nationalen Identität:

"Ich habe in meinem Leben mehr Zeit in Spanien als in der Türkei verbracht – bin ich dann ein deutsch-türkischer Spanier oder ein spanischer Deutsch-Türke? Warum denken wir immer so in Grenzen? Ich will als Fußballer gemessen werden – und Fußball ist international, das hat nichts mit den Wurzeln der Familie zu tun."
(Mesut Özil, am 22.06.2012 in der FAZ)

Özils Entscheidung, für deutsche Auswahlmannschaften zu spielen, traf teils auf Unverständnis, teils auf offene Kritik seitens türkischer Fans. Hamit Altintop sagte der Süddeutschen Zeitung:

Altintop: "Ich weiß, wie es in Mesut ausgesehen hat, ich habe einen guten Draht zu ihm und vor seiner Entscheidung habe ich auch oft mit ihm gesprochen. (...) Fußball ist manchmal eine Herzensangelegenheit, aber viel öfter einfach ein Business."
SZ: "Mit anderen Worten: Özil hat sich vor allem für die Karriere entschieden."
Altintop: "Als deutscher Nationalspieler hat Mesut mehr Lobby, einen höheren Marktwert, er verdient mehr Geld. Hätte er sich für die Türkei entschieden, hätte er keine WM gespielt und wäre jetzt nicht bei Real Madrid. So einfach ist das. (...) Entschuldigung, aber ich finde, das hat auch nichts mit Integration zu tun."
(Hamit Altintop, am 6.10.2010 in SZ)

Altintop bestritt später mehrfach, dies jemals gesagt zu haben.

In den Fokus der Öffentlichkeit außerhalb des Fußballs geriet Özil, als er sich während der angespannten politischen Lage zwischen Deutschland und der Türkei mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan traf (in Begleitung von İlkay Gündogan und Cenk Tosun) ihm ein signiertes Trikot übergab und sich mit ihm fotografieren ließ.

Özil hatte sich in der Vergangenheit schon mehrfach mit Erdogan getroffen. Bekannt sind Treffen aus 2011, 2012 und 2016. Auch bei diesen Treffen wurden Trikots übergeben und Fotos gemacht. Diese Treffen jedoch fanden in einem anderen außenpolitischen Umfeld statt und wurden wohl auch deshalb in Deutschland weitestgehend ignoriert. Das letzte Treffen jedoch wurde als direkte Wahlkampfhilfe für Erdogan verstanden, der just zu der Zeit mitten in seinem umstrittenen Präsidentschaftswahlkampf steckte (den er schließlich auch gewann). Auch wenn DFB-Manager Oliver Bierhoff eine "Einladung von türkischen Unternehmern" als Grund des Treffens erwähnte.

Präsident Erdogan hatte sich in Deutschland in der Zeit unmittelbar zuvor besonders dadurch viele Freunde gemacht, dass er unter anderem das Deutschland von heute mit dem Dritten Reich auf eine Stufe stellte, gegen Jan Böhmermann und dessen Satire klagte und schließlich sogar Reporter der Welt ohne Anklage monatelang inhaftieren ließ und ohne Scheu als Druckmittel zum Durchsetzen von Lieferungen militärischer Rüstungsgüter einsetzte.

Nun wäre das alles kein großer Akt gewesen. Özil, mindestens 50 Millionen Euro schwer, Nationalspieler, hat garantiert ein potentes PR-Team zur Hand und wenn nicht, hätte man es ihm mit Kusshand quasi hinterhergetragen. Aber nein, Herr Özil hielt es für besser, dem sich deutlich abzeichnenden Unverständnis in Deutschland mit Stillschweigen zu begegnen, dass dann auch noch mit einem Kaffeeklatsch beim Bundespräsi inklusive Fototermin belohnt wurde. An der Stelle verließ mich damals schon jedes Mitgefühl und ich hatte den Verdacht, dass es hier nur ums Geld geht und nicht um irgendwelche echten Probleme.

Auch nach diesem Treffen blieb Herr Özil verbissen still und wollte das Problem "ausmerkeln". Klappte aber nicht. Es drohte die Fußballweltmeisterschaft in Russland - was auch nicht gerade auf universelle Gegenliebe stieß - und Özil, inzwischen in England beheimatet und noch immer für Arsenal spielend - sollte für die Deutsche Nationalmannschaft aufgestellt werden. Das fand die Vereinigte Fußballrepublik Deutschland super uncool und trat so richtig auf's Randalegas: Özil wurde in Stadien ausgepfiffen und offen angefeindet. Interessierte ihn aber auch nicht. Er hielt weiterhin die Klappe und die Hand auf (glaubt irgendjemand, dass zB die Fotos für die WM ohne Gage gemacht wurden?)

Jetzt aber wars ihm wohl zu blöd. Via Twitter - ganz Vorbild Trump entsprechend - trat Özil einmal allen in die Fresse: Dem Verband, der Nationalmannschaft und Deutschland insgesamt. Er kotzte sich so richtig aus und verkündete am Ende: "Für Deutschland spiele ich nicht mehr auf internationaler Ebene".


(via Twitter)

(via Twitter)

(via Twitter)

Ob er damit seinem Rauswurf aus der Nationalmannschaft zuvorkam, darüber darf spekuliert werden. Aber mit diversen Granden aus dem Pantheon des Fußballs hat er es sich wohl gründlich verdorben. Insbesondere Uli Hoeneß grätschte mit gestrecktem Bein in Özils Schritt und nannte ihn - zusammengefasst - jenseits seines Zenits als Sportler. Er nannte ihn auch "Alibi-Kicker", "Mitläufer" und sagte schließlich: "Er hat seit Jahren einen Dreck gespielt". (Siehe zB hier.)

Die Causa schlug solche Wellen, dass sogar Bundespolitiker sich befleißigt sahen, Stellung zu nehmen und zu instrumentieren. Zum Beispiel hier. Auch in der Presse ging das Thema steil. Einfach nach "Özil Rücktritt Nationalmannschaft" suchen.

Drei Statements markieren wohl die Extreme, zwischen denen die Debatte sich entfaltet.

"Ich glaube auch nicht, dass der Fall eines in England lebenden und arbeitenden Multimillionärs Auskunft gibt über die Integrationsfähigkeit in Deutschland"
(Heiko Mass, Außenminister, SPD)
"Dass #Özil geht, ist ein Armutszeugnis für unser Land. Werden wir jemals dazugehören? Meine Zweifel werden täglich größer. Darf ich das als Staatssekretärin sagen? Ist jedenfalls das, was ich fühle. Und das tut weh."
(Sawsan Chebli, SPD)
"Jetzt versucht er, aufgrund der massiven Kritik wegen seines Treffens [...] und der Huldigung für Erdogan, sich als Opfer des DFB darzustellen – oder der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. Das ist doch wirklich grober Unfug."
(Wolfgang Bosbach, CDU)

Ich gehe davon aus, dass diese Posse noch interessante Folgen haben wird. Eigentlich warte ich noch auf irgendeinen Politiker einen Untersuchungsausschuss fordert. Tatsächlich stelle ich mir bei dieser... ist das noch Realsatire oder ist das schon eine Groteske? Ich weiß es nicht. Egal wie. Ich stelle mir aber vor allem folgende Fragen:

Es ist seit Jahren bekannt, wie Özil über das Thema "Nationalität" und "Staatsangehörigkeit" denkt. Es ist auch bekannt, dass er zu Erdogan ein wie auch immer geartetes Verhältnis hat. Ob das nun rein privater, finanzieller, kultureller, idealistischer oder familiärer Natur ist, ist völlig egal. Es ist auch bekannt, dass er sich aus der deutschen Staatsbürgerschaft nicht besonders viel macht und ich möchte wetten, dass er die demnächst auch wieder abgibt, vielleicht zugunsten der Englischen. Alles das ist kein Geheimnis. Warum macht man da jetzt so einen Film drum von wegen "armer geschundener Sportler mit Migrationshintergrund"?

Wer glaubt eigentlich ernsthaft, dass es ausgerechnet beim Fußball, insbesondere bei Bundesligen und Nationalmannschaften in / aus Deutschland, um irgendetwas Anderes als ums Geld ginge? Darf ich exemplarisch an die WM 2006 erinnern? Wie kommt man auf das schmale Brett zu skandieren, Fußball würde "verbinden" und von "Gemeinschaft" und "höheren Idealen" und ähnlichem Blödsinn zu fabulieren?

Wann genau hat man in diesem gigantischen Rahmen um irgendeinen befähigten, talentierten Spezialisten irgendeiner Fachrichtung so ein Feuerwerk abgefackelt, als der gesagt hat "Deutschland ist Scheiße, ich gehe" und dann ausgewandert ist? Ist ja nicht so, dass alle Wissenschaftler in Deutschland bleiben. Um nur ein Beispiel zu nennen. Da waren auch genug mit Migrationshintergrund mit bei, die jetzt im Silicon Valley oder sonst wo die Kohle mit der Schubkarre nach Hause fahren.

Ich weiß, ich weiß. Ich habe eh keine Ahnung. Vom Fußball sowieso nicht. Aber meiner Meinung nach wird hier wieder eine Sau durchs Dorf getrieben, die man eigentlich getrost im Gebüsch und im Vergessen hätte verschwinden lassen können. Denn zwei Dinge werden ganz bestimmt nicht passieren: Weder wird Deutschland wegen Özil plötzlich begreifen, worum es bei "Integration" wirklich geht, noch wird sich irgendetwas am Machtgefüge des DFB ändern, abgesehen vom obligatorischen Austausch von zwei oder drei Gesichtern.

Montag, 16. April 2018

Ach deshalb...

Neulich hab ich noch festgestellt, dass Porton Down nicht den Auftrag hatte, den Hersteller bzw. die Herkunft des benutzten Kampfmittels festzustellen. Als dann das OPCW zumindest öffentlich auch keinen Hersteller benannte, war ich doch etwas ratlos, denn von denen hatte ich das eigentlich erwartet. Taten sie aber nicht und die Verschwörungstheorien gingen durch die Decke.

Als Russland dann genau jene OPCW für exakt das angriff, was die getan hatten, nämlich sich ansehen, was da eingesetzt worden war und entweder die Ergebnisse der Engländer bestätigen oder widerlegen, wurde ich doch etwas skeptisch. Bei Porton Down ergab das mit dem nicht auf Schuldige Zeigen ja noch Sinn. Aber bei der OPCW?

Und dann OPCW und Syrien. Auch hier geht es gar nicht darum festzustellen, wer das wahrscheinlich eingesetzte Giftgas hergestellt hat. Es geht einzig darum festzustellen, ob Giftgas verwendet wurde. Intensives Kopfkratzen.

Die Antwort? Es gab eine "JIM", ein Joint Investigative Mechanism der UN und der OPCW. DEREN Job wäre es gewesen, den Hersteller zu benennen. Die OPCW hat dazu aber kein Mandat. Selbst wenn die einen Hersteller erkennen und benennen würden, das Statement würde in keinem offiziellen Bericht auftauchen, weil - vereinfacht - die OPCW ohne JIM dazu gar nicht öffentlich Stellung nehmen darf.

Gab? Ja, gab. JIM basierte auf dem UN Mandat 2235 (2015). Das wurde per Resolution 2319 (2016) verlängert. Der Auftrag von JIM war es, in Syrien festzustellen, wer (Einzelpersonen, Organisationen, Gruppen oder Regierungen) Täter, Organisator, Sponsor oder anderweitig an der Verwendung von Chemikalien als Waffen, einschließlich Chlor oder anderen toxischen Chemikalien beteiligt war.

Als JIM am 26.10.2017 dem UN-Sicherheitsrat einen Bericht vorlegen soll, beschließt Russland in einer Abstimmung am 24.10.2017 das Mandat in Syrien nicht zu verlängern und JIM so am Abliefern des Berichts zu hindern. Angeblich weil "Die Resolution ist wieder einmal dazu da, um Russland an den Pranger zu stellen", so Vassily Nebenzia, Botschafterin Russlands bei der UN. "Aber", so Nebenzia, "die heutige Entscheidung wird in keinster Weise die künftige Arbeit des JIM beeinflussen." Ja. Sicher. JIM war damit de facto gestorben.

Also, Russland hatte den Einsatz der OPCW gefordert. Um jetzt aber JIM im Fall Skripal einzusetzen, wäre eine Resolution des UN-Sicherheitsrats notwendig gewesen und eine formale Erklärung Russlands, sich deren Urteil zu unterwerfen. Siehe oben. Gabs nicht, wird es auch nie geben. Wir erinnern uns an die Reaktion Russlands, als die OPCW die Erkenntnisse der Engländer bestätigte? Oder auch wer nach Ansicht Russlands die Chemiewaffen in Syrien eingesetzt haben soll? Die "Joint Investigation", die Russland übrigens im Fall Skripal forderte, hat gar nichts mit dem JIM zu tun. Das sind zwei völlig andere Paar Schuhe. Bei JIM wählt die unabhängige OPCW die Inspektoren aus. Bei der "Joint Investigation" entsendet jedes Mitglied des UN Sicherheitsrates Inspektoren eigener Wahl.

Noch Fragen?

Samstag, 14. April 2018

Trump, Macron und May lassen es in Syrien knallen

In der vergangenen Nacht haben die USA, England und Frankreich gemeinsam Ziele in Syrien angegriffen. Dieser Angriff galt als Vergeltung wegen des wiederholten Einsatzes chemischer Waffen durch das Regime von Baschar al Assad (eigentlich: Baššār Ḥāfiẓ al-Asad) gegen die eigene Bevölkerung.

Es gibt wenig, was durch die internationale Staatengemeinschaft übereinstimmend so sehr verurteilt wird, wie der Einsatz chemischer Waffen. 1925 wurde im Bewusstsein der grausamen Auswirkungen chemischer Waffen, die im Ersten Weltkrieg von nahezu allen Seiten ungehemmt eingesetzt wurden, das Genfer Protokoll über das "Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder anderen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege" von damals 36 Staaten unterzeichnet.

Das Genfer Protokoll ist eine Weiterentwicklung der Haager Landkriegsordnung, die bereits 1899 ein erstes Verbot von Gift oder vergifteten Waffen enthielt (Zweiter Abschnitt, Erstes Kapitel, Artikel 23 a). Es daher ist keine "neue" Idee, den Einsatz von Giften im Krieg zu ächten. Angesichts der geschätzt 100.000 getöteter und ca. 1,2 Millionen verwundeter Soldaten, die durch den Einsatz von 120.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe zu beklagen waren, schien eine erneute Auseinandersetzung mit dem Thema notwendig. Deutschland gehörte zu den Erstunterzeichnern und ratifizierte das Protokoll 1929. Bis heute sind dem Abkommen 140 Staaten beigetreten. Seit 2013 auch Syrien.

Eigentlich hätte die UN bzw. der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aktiv werden müssen, aber entsprechende Resolutionen wurden immer wieder durch Russland verhindert. Offenbar hatten Trump, Mey und Marcon jetzt den Kanal dicht und haben gehandelt - mit Vorankündigung.

Bereits vor einem Jahr hatten die USA eine Militärbasis in Syrien als Vergeltungsmaßnahme für den Einsatz chemischer Waffen angegriffen. Die Folgen waren damals politisch wie militärisch "überschaubar" und es war klar, dass der Angriff eher symbolischen Charakter hatte. Al Shayrat war bereits wenige Wochen nach dem Angriff wieder im normalen Einsatz.

Meine Kanzlerin hatte schon am 12. April ausgeschlossen, dass sich die Bundeswehr an einem militärischen Einsatz gegen Syrien beteiligen würde. Angesichts der Situation der Bundeswehr war das, obwohl Merkel eigentlich nie ungefragt und schon gar nicht ohne Not etwas kategorisch ausschließt, wohl auch eher eine offensichtliche Feststellung der Realität. Niemand mit ausreichend Hirn im Kopf würde auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen, dass sich die Bundeswehr an einem militärischen Angriff beteiligen könnte, egal wer das fordert oder befiehlt. Interessant ist allerdings, dass sie zwar die militärische Unterstützung ausschloss, aber zu finanziell und politisch kein Wort verlor. Man darf spekulieren.

Jetzt wurden mehrere Ziele in Syrien angegriffen und meine Kanzlerin sagt zu den Angriffen:

"Der Militäreinsatz war erforderlich und angemessen, um die Wirksamkeit der internationalen Ächtung des Chemiewaffeneinsatzes zu wahren und das syrische Regime vor weiteren Verstößen zu warnen." "Wir unterstützen es, dass unsere amerikanischen, britischen und französischen Verbündeten als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats in dieser Weise Verantwortung übernommen haben."
(Angela Merkel, Bundeskanzlerin, CDU)

Die Schwierigkeit des Themas zeigt sich in der international kontrovers geführten Debatte: Darf man Syrien militärisch angreifen, um das Regime dazu zu zwingen, den Einsatz chemischer Waffen zu unterlassen? Darf das ohne UN Resolution geschehen? Kann Assad auf diplomatischem Wege dazu gezwungen werden? Es ist ja nicht so, dass alles das nicht versucht worden wäre. Eine Beschlussfassung der UN wurde mehrfach versucht herbeizuführen - siehe oben. Auch auf diplomatischem Wege außerhalb der UN wurde viel und lange versucht.

Es ist auch nicht so, dass die US, England und Frankreich unmittelbare territoriale Interessen in Syrien zeigen würden, wie es z. B. Iran, Russland oder die Türkei tun. Allerdings ist "der Westen" am Konflikt in Syrien direkt beteiligt, der inzwischen durchaus als "Stellvertreterkrieg" bezeichnet werden kann.

Bevor man allerdings skandierend auf die Straße rennt und die jetzt handelnden Staaten pauschal in Bausch und Bogen verurteilt, sollte man sich über eins im Klaren sein: Das syrische Regime setzt Chemiewaffen gegen die eigene Zivilbevölkerung ein. Wenn es "wenigstens" gegen fremde Truppen wäre, man könnte anders diskutieren. Aber gegen die eigene Zivilbevölkerung? Darf die internationale Staatengemeinschaft, darf irgendein Staat da sagen "mir egal, mach mal"? Ich denke nicht.

Um sich eine Vorstellung zu machen, wie sehr sich das Assad-Regime an das Protokoll gegen Chemiewaffen gebunden fühlt, empfehle ich ein wenig Lektüre.

Die größere Frage ist allerdings, worin die langfristige, übergeordnete Lösung besteht. Angenommen, Assad würde abgesetzt - was angesichts der offensichtlichen Interessen Moskaus (Stichworte: Tartus, Khmeimim) und Teherans (Stichworte: Schiiten, Hisbollah) kaum realistisch ist. Aber spielen wir das mal durch. Assad ist weg vom Fenster. Und dann? Wer soll die Nachfolge antreten?

Die eine Opposition gibt es in Syrien nicht. Das, was an Opposition überhaupt noch am Leben ist, sitzt entweder in syrischen Foltergefängnissen (in denen, nebenbei bemerkt, angeblich auch ganz gerne mal durch die CERS / SSRC chemische Kampfstoffe an den Insassen ausprobiert werden). Oder die Gruppierungen wurden so weit zusammengeschossen, dass alleine der Gedanke an eine funktionierende Regierungsbildung durch eine Oppositionspartei so abwegig ist wie nur irgendwas. Sobald Assad aber weg vom Fenster wäre, entstünde zwangsläufig ein Machtvakuum, das alle sich in Syrien abwechselnd auf die Mappe hauenden Fraktionen versuchen würden auszufüllen. Der Zusammenbruch des Staates Syrien wäre unausweichlich.

Eine Regierung aus den unterschiedlichen Interessengruppen zu bilden und so die Einheit (und den Fortbestand) Syriens aufrechtzuerhalten (vergleichbar mit dem Libanon) ist unter anderem Idee Moskaus. Das wiederum würde aber einen kompletten Umbau des Staates Syrien erfordern, der im Moment keine Chance auf Erfolg hat, weil die Interessen der unterschiedlichen Interessengruppen, die in Syrien Gebiete halten, nahezu unvereinbar und teilweise sogar offen feindselig sind: Die Regierung Assad und ihre unmittelbaren Oppositionsgruppen, die pro-türkischen Milizen, die pro-iranischen Milizen, die Kurden.

Daneben gibt es noch internationale Interessengruppen, ganz vorne dabei Teheran. Teheran will um jeden Preis eine physische Verbindung zu seinen Verbündeten Gruppierungen halten und eine dauerhafte Präsenz auf syrischem Boden erhalten. Allerdings hat Israel so rein gar kein Interesse an militanten und bewaffneten schiitischen Milizen in Sichtweite der Israelischen Grenze. Die Kurden wiederum wollen einen eigenen Staat, der sich über mehrere Regionen im Irak, der Türkei und Syrien erstrecken würde. Diese Idee findet Ankara mal so gar nicht sexy.

Irgendein Regierungssystem unter der Aufsicht der UN? Nach den Erfahrungen des Afrikanischen Frühlings (Libyen, Ägypten, Tunesien, Sudan) will dieses Experiment niemand ernsthaft schon wieder anfassen und scheitern sehen. Unter Aufsicht der USA? Das werden Moskau, Teheran, Ankara nicht zulassen. Unter Aufsicht Moskaus? Das werden weder die Nato noch Israel erlauben.

Assad an der Macht lassen scheint die im Moment für das Volk finsterste, aber leider einzige irgendwie funktionierende Lösung zu sein. Ihn an der Macht lassen und dann das Land "von außen" wieder aufbauen, Oppositionen etablieren und dann irgendwann Wahlen... Ob das allerdings in der Praxis auch nur im Entferntesten eine realistische Idee ist, vermag wahrscheinlich im Augenblick niemand zu sagen, denn verglichen mit der syrischen Melange ist selbst die Situation in Israel / Gaza / Westbank "ausgeglichen".

Dienstag, 3. April 2018

Woher das Gift kommt war nicht die Frage

Ja, ich habe das Statement von Gary Aitkenhead mitbekommen. Ja, er hat gesagt, dass Porton Down den Hersteller nicht identifiziert hat. Aber folgendes sollte bei diesem Statement beachtet werden:

Porton Down ist das Defence Science and Technology Laboratory. Es ist das Labor des britischen Militärs zur Erforschung von biologischen und chemischen Waffen. Naheliegend, dass jede Aussage ausgerechnet dieses Labors zum Hersteller sofort als "von oben diktiert" diskreditiert würde. Darum sagt Aitkenhead auch in dem gerade durch die Nachrichten getragenen Interview:

"It is our job to provide the scientific evidence of what this particular nerve agent is, we identified that it is from this particular family and that it is a military grade, but it is not our job to say where it was manufactured."
(Gary Aitkenhead, Sky News)

Auftrag war eben NICHT, den Hersteller herauszufinden. Es war vielmehr Aufgabe herauszufinden, welches Gift es war und von welcher Qualität es war. Genau das hat Porton Down gemacht. Aus diesem Interview zu schließen, dass Russland nicht als Hersteller infrage kommt, wäre ungefähr auf dem Niveau wie die Aussage, dass es kein Leben auf anderen Planeten gibt, weil man auf dem Mond keine Lebewesen entdeckt hat.

Genau das war der Auftrag und der wurde auch erfüllt:

"We were able to identify it as novichok, to identify that it was military-grade nerve agent."
(Gary Aitkenhead, Sky News)

Es war Novitschok und es war "militärische Qualität". Das bedeutet, dass die Herstellung nicht am Küchentisch von irgendwelchen Hobby-Chemikern realisiert wurde. Welche Schlüsse man daraus wiederum zieht, ist eine ganz andere Frage, die aber auch nicht Aufgabe von Porton Down ist. Das ist vielleicht Auftrag der OPCW.

Montag, 26. März 2018

...und Du bist 'raus!

Die Causa Skripal zieht weitere Kreise. Westliche Staaten wiesen heute 119 (einhundertneunzehn) russische Diplomaten aus, Deutschland alleine 4. Spitzenreiter sind die USA, die 60 (sechzig) Diplomaten des Landes (12 davon arbeiten bei der UN) verwiesen. Außerdem wurde angeordnet, das russische Konsulat in Seatle zu schließen. Aus dem Auswärtigen Amt (aka: Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten) hieß es dazu:

Es ist klar, dass dieser Anschlag nicht ohne Folgen bleiben kann. Wir haben deshalb deutlich Stellung bezogen und uns in der Europäischen Union hinter Großbritannien gestellt.

Wir haben die Entscheidung zur Ausweisung der russischen Diplomaten nicht leichtfertig getroffen. Aber die Fakten und Indizien weisen nach Russland. Die russische Regierung hat bisher keine der offenen Fragen beantwortet und keine Bereitschaft gezeigt, eine konstruktive Rolle bei der Aufklärung des Anschlags spielen zu wollen.
(Heiko Maas, Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten)

Bislang steht eine Reaktion von höchster Stelle in Russland noch aus. Das russische Außenministerium teilte jedoch mit:

"Es versteht sich von selbst, dass der unfreundliche Schritt der Ländergruppe nicht folgenlos bleiben wird."

Als Reaktion auf die heftige Ausweisungswelle der USA sagte der russische Botschafter in den USA, Anatoli Antonow, dass die Beziehungen zu Washington "zerrüttet" sein. Die Ausweisung würde das Wenige zerstören, das von den russisch-amerikanischen Beziehungen noch übrig ist.

Es sei nur am Rande angemerkt, dass es sich bei den "Diplomaten" um Geheimdienstmitarbeiter handelt. 10 Downing Street reagierte mit kaum kaschierter Begeisterung und nannte die Aktion "die größte kollektive Ausweisung russischer Geheimdienstoffiziere der Geschichte".

Donald Tusk (der aus Brüssel, nicht der aus Washington) betonte im Zusammenhang mit den Ausweisungen, dass "weitere Maßnahmen, inklusive weiterer Ausweisungen (...) in den kommenden Wochen nicht ausgeschlossen" sind. Er sagte, dass der Europäische Rat die Europäische Kommission mit England darin übereinstimmt, dass es "sehr wahrscheinlich" (wörtlich: "highly likely") sei, dass die Russische Föderation für den Anschlag verantwortlich sei. Die EU stehe dem Vorgehen der russischen Regierung weiterhin kritisch gegenüber.

Die Ausweisung der 60 Agenten aus den USA folgt nur 15 Monate nach der unter Präsident Obama angeordneten Ausweisung von 35 russischen Diplomaten wegen Einflussnahme auf die Präsidentschaftswahlen 2016. Dennoch würden zur Zeit über 100 russische Geheimagenten in den USA tätig sein, so ein offizieller Vertreter der US Administration.

In Deutschland wurde die Ausweisung der vier Diplomaten von Stefan Liebich (Die Linke) kritisiert. Deeskalation sei notwendig, nicht Eskalation. Die Ausweisung sei ohne die Vorlage von Beweisen für eine Mittäterschaft staatlicher russischer Organe erfolgt, so Liebich. Fraktionsvorsitzende Sarah Wagenknecht sprach von "schlichtem Unverstand". Rolf Mützenich, stellvertretender Fraktionsvorsitzender für den Bereich Außen-, Verteidigungs- und Menschenrechtspolitik der SPD, sagte gegenüber der Welt:

"Die Ausweisung von vier russischen Diplomaten mit nachrichtendienstlichem Hintergrund ist übereilt und wird den politischen Kriterien, die an den Giftanschlag Skripal angelegt werden sollten, nicht gerecht."

Der außenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Omid Nouripour, hingegen sagte:

"Als Zeichen der Solidarität mit Großbritannien ist diese Maßnahme richtig. Es darf aber in keinem Fall dazu führen, dass die Gesprächskanäle nach Moskau abbrechen."

Ihm widersprach sein Parteikollege Jürgen Trittin:

"Die Ausweisung ist ein Akt symbolischer Solidarität mit Theresa May. Er erfolgt zu einem Zeitpunkt, wo der Hintergrund des Anschlags, Herkunft und Weg des Giftes nicht abschließend geklärt sind. Von Belegen für die Beauftragung ganz zu schweigen."

Er warf Maas vor, seine Entscheidung auf Grundlage von Indizien und Plausibilitäten getroffen zu haben. Trittin bezeichnete dies als "leichtfertig" und "Anfängerfehler" und warnte davor, dass Deutschland in einen neuen kalten Krieg stolpere.

Jürgen Hardt, der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, sagte, dass die Regierungen der EU-Staaten und die EU-Kommission die Beweislage für eine russische Verantwortung beim Nervengiftanschlag auf Skripal für "erdrückend" halten.

Abgesehen davon, dass nicht alle Bundespolitiker wissen, welche Informationen auf höchster Ebene ausgetauscht werden, ist es dumm, alleine Heiko Maas für die Ausweisung verantwortlich zu machen. Er hat diese Idee sicherlich nicht im eigenen Saft ausgekocht und dann "mal eben" verkündet. Mindestens meine Bundeskanzlerin wird in den Prozess involviert gewesen sein. Es ist in meinen Augen auch etwas kurzsichtig zu glauben, dass eine konzertierte Aktion dieser Größenordnung leichtfertig von 18 (achtzehn) Staaten links und rechts vom Atlantik angestoßen wird. Okay, bei Donald Trump bin ich mir da nicht 100% sicher.

Dennoch sollte man sich im Klaren sein, dass es Russland war, die die Doktrin der "Eskalation zur Deeskalation" eingeführt haben. Ursprünglich zwar in Bezug auf die nukleare Kriegsführung, aber es wäre doch etwas kurz gedacht davon auszugehen, dass eine sich insbesondere auf ihre Geheimdienste stützende Regierung nicht auf die Idee käme, diese Doktrin auch auf andere Bereiche zu übertragen.

Da inzwischen auch die OPCW eingeschaltet ist und seit spätestens dem 19.03. eigene Untersuchungen betreibt, dürften mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erste Ergebnisse vorliegen. Über diese dürften die Staats- und Regierungschefs auch "vorab" in Kenntnis gesetzt worden sein. Oder glaubt ernsthaft irgendjemand, dass bei einer diplomatischen Krise dieser Dimension irgendjemand sagt "och, lass mal, das hat Zeit"? Zwar gab die OPCW an, mindestens zwei Wochen für erste Ergebnisse zu brauchen, aber ich denke schon, dass bei der Organisation ein paar höher gestellte Persönlichkeiten vorstellig geworden sind und eine Bitte um bevorzugte Behandlung mit gewissem Nachdruck vorgetragen haben.

Es sollte auch nicht unterschätzt werden, dass es hier um einen Vorfall handelt, der aus einem Agentenkrimi stammen könnte. Hier rundherum "handfeste Beweise" zu verlangen, ist zwar ehrbar und grundsätzlich auch richtig, aber was erwarten die Damen und Herren, die dies fordern? Das persönlich vorgetragene Geständnis der oder des Attentäters? Eine schriftliche Erklärung aus dem Kreml "Sorry, wir waren das, war blöd, kommt nicht wieder vor"? Auch der Indizienbeweis ist ein Beweis und manchmal muss der (leider) ausreichen. Insbesondere hier, um klar Kante zu zeigen und die Linie in den Sand zu ziehen: "Bis hier hin, und nicht weiter".

Mal ganz abgesehen davon, dass dieser Fall auf angenehme Weise zeigt, dass der ansonsten ziemlich gerne heftig zerstrittene Westen doch manchmal noch in der Lage zu sein scheint, irgendwie zusammenzuarbeiten.

Zumindest ansatzweise.

(Quelle: Zeit, Welt, FR, SZ, SPON, Britische Regierung, Tagesschau, CNN)

Dienstag, 20. März 2018

Skripal - Warum deutet alles auf die Russen hin?

Die Tage war die Geschichte mit dem Gift-Anschlag auf den im englischen Exil lebenden Ex-Doppelagenten Skripal Thema. Das verwendete Gift Nowitschok (oder auch Novichok) spielt dabei ein maßgebliche Rolle. In einer Diskussion wurde mir vorgeworfen, voreilig den Schluss gezogen zu haben, dass Russland derjenige welche sei, denn das sei ja alles andere als klar und bewiesen. Darum möchte ich die Argumentation umreißen, die meiner Meinung zugrunde liegt.

Nowitschok wurde ursprünglich entwickelt in der UdSSR. Die Entwicklung des Programms ging bis in die 1990er Jahre hinein und fand überwiegend im staatlichen Forschungsinstitut für organische Chemie und Technologie (GosNIIOKhT) in Nukus, heute Usbekistan. Nowitschok gilt als Chemiewaffe der dritten Generation und eine Besonderheit dieses Kampfstoffes ist, dass er in binärer Form gelagert und transportiert werden kann.

Komponenten dieses Kampfstoffes sind vergleichsweise harmlos und kaum von Bestandteilen von Düngern und Pestiziden zu unterscheiden und können deshalb problemlos "in plain sight" versteckt werden. Deshalb gilt Nowitschok auch als Testfall für die Chemiewaffenkonvention (Chemical Weapons Convention, CWC), denn die Komponenten fallen eben nicht unter die CWC. Der CWC entsprechend, sind aber alle Chemikalien verboten, die für chemische Kampfstoffe verwendet werden, egal wofür sie eigentlich gedacht sind und verwendet werden.

Noch während die CWC verhandelt wurde, betrieb Russland intensive Forschung an Nowitschok. In einem Artikel ("A Posisoned Policy", Moscow News) machten Vil Mirazayanow und Lev Fedorov die Existenz dieses Kampfstoffs bekannt. Mirazayanow war beauftragt, Möglichkeiten zu entwickeln, mit denen die Armee Nowitschok aufspüren könnte. Dem Artikel zufolge, waren die Filteranlagen der Testlabore unzulänglich, was zu einer Kontamination von Luft, Wasser und Erdboden der Versuchsanstalt führte. Der Regierung wurde vorgeworfen, die Bevölkerung zu vergiften.

Dieser chemische Kampfstoff wurde aber nicht nur in Nukus getestet. Es ist bekannt, dass auch in Krasnoarmejsk, einem Vorort von Moskau, mit Nowitschok gearbeitet wurde. Es kann deshalb mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Nukus zwar das Hauptlabor war, aber nicht das einzige. Das ist insbesondere wichtig für die sich auf den Zusammenbruch der UdSSR beziehende Argumentation.

Seit sich Usbekistan sich von der UdSSR gelöst hat, arbeitet es eng mit den USA bei der Auflösung und Dekontamination der auf dem Hoheitsgebiet Usbekistans befindlichen Chemiewaffenlabore zusammen (Es gab da mehr als nur das in Nukus, wie es wohl insgesamt in der UdSSR mehrere Standorte gab, als nur im heutigen Usbekistan). Allerdings: Dieser Kampfstoff zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass seine Komponenten durch westliche Militärs nicht entdeckt werden können. Da die physischen und chemischen Charakteristika von Novitschok bis heute im Prinzip unbekannt sind, dürfte es schwerfallen, in den Laboren die Komponenten als solche zu identifizieren, selbst wenn man quasi direkt davorsteht.

Das Argument, die USA hätten ja selber den Kampfstoff inzwischen in Händen, weil sie ja uneingeschränkten Zugriff auf das ehemalig herstellende Labor in Usbekistan hätten, setzt aber voraus, dass neben dem Labor als solchem auch die dazugehörenden Unterlagen gefunden worden wären. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall, denn sonst wäre über Nowitschok spätestens jetzt sehr viel mehr bekannt geworden.

Das Argument, dass ja quasi jeder dieses Gift herstellen könnte, ist zwar theoretisch korrekt. Allerdings wird dabei ignoriert, dass man dazu erstens das Rezept benötigt, zweitens ein entsprechend ausgestattetes Labor und drittens Möglichkeiten herauszufinden, ob die Produktion erfolgreich war. Gerade wenn es darum geht, ob die Komponenten korrekt erzeugt wurden, muss man das Endprodukt daraus "entstehen" lassen. Das wiederum ist aber so dermaßen toxisch, dass es ausgeschlossen ist, dass ein solcher Versuch in irgendeinem Kellerlabor oder Wohnküche durchgeführt wurde. Dazu braucht es sehr spezielle Geräte und Einrichtungen, sofern die herstellenden Chemiker nicht Gefahr laufen wollen, während des Experimentierens Opfer ihrer Substanz zu werden. Die dafür notwendigen Räumlichkeiten, Filteranlagen, Schutzvorrichtungen, Gerätschaften und so weiter sind für Privatleute kaum zu beschaffen. Ein Staat jedoch, insbesondere einer, der eigene Erfahrungen bei Herstellung von und Umgang mit diesem Gift hat, sieht das ganz anders aus.

Ein weisteres Gegenargument lautete, dass man ja unmöglich ein Gift entdecken und analysieren könne, über das man nichts weiß. Das stimmt zwar grundsätzlich, aber einiges weiß man eben doch über dieses Gift. Es ist bekannt, dass es auf die Acetylcholinesterase wirkt. Die Symptome sind charakteristisch und der Nachweis, ob die Acetylcholinesterase beim Patienten gehemmt ist, ist vergleichsweise trivial. Dadurch weiß man auch, wo der Wirkstoff zu finden ist. Aus den Körperflüssigkeiten der Opfer dürften die betroffenen Enzyme extrahiert worden sein. Da die grundsätzliche chemische Struktur des Kampfmittels ebenfalls bekannt sind, muss bei der Untersuchung nicht ganz bei null angefangen werden. Auch für den Nachweis phosphorhaltiger Moleküle gibt es zuverlässige Nachweismethoden (zB. 31P-Kernresonazspektroskopie).

Es ist abwegig davon auszugehen, dass die 10 Downing Street mit einem direkten Vorwurf an eine konkrete Adresse an die Öffentlichkeit geht, ohne zumindest starke Indizienbeweise in der Hand zu haben. Die Konsequenzen einer falschen Anschuldigung wären viel zu dramatisch. Viel wahrscheinlicher ist, dass den Wissenschaftlern auf der Insel in wenigen Tagen ein sehr zuverlässiger Nachweis gelang, dass hier mit hoher Wahrscheinlichkeit Nowitschok zum Einsatz gekommen ist. Zusammen mit einer Menge anderer Indizien ergibt sich so ein schlüssiges Bild.

Ein viertes Argument lautet, dass 10 Downing Street sich nicht an das Protokoll gehalten hat, weil die Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) nicht eingeschaltet wurde. Die OPCW kann angerufen und eingeschaltet werden, aber es gibt keine Verpflichtung dazu. Das Hauptproblem dürfte sein, dass ein Staat die OPCW anrufen kann, wenn solche verbotenen chemischen Waffen eingesetzt wurden. Das war wohl streng genommen auch der Fall. Aber die diplomatischen Konsequenzen eines solchen Schritts wären noch mal eine Hausnummer größer ausgefallen.

Angenommen, England hätte die OPCW eingeschaltet. Das hätte den Vorwurf impliziert, dass Russland einen Angriff auf England mit Chemiewaffen ausgeführt hat, bei dem Menschen zu Schaden gekommen sind. Wenn das bestätigt würde, wäre das nicht nur ein Verstoß gegen den Vertrag zur Kontrolle chemische Kampfstoffe, es wäre auch ein direkter und nicht provozierter Angriff (wo habe ich das heute nur schon mal gelesen?) und das wiederum hätte eine Lawine an Folgen losgetreten, die weit über den Rahmen hinausgegangen wären. Zusätzlich könnte Russland dann argumentieren, dass der Umgang mit den einzelnen Komponenten ja nicht verboten sei und man habe keine Kontrolle darüber, was "irgendjemand" mit diesen Komponenten anstelle.

Ja, hier wurde ein Ex-Agent angegriffen und seine Tochter. Ja, das ist eine Sauerei. Aber das ist ein anderer Maßstab als beispielsweise der Einsatz von Giftgas in Halabdscha (Irak) 1988 oder Chan Schaichun (Syrien) 2017. Die Konsequenzen allerdings wären episch, denn dann könnte (und müsste) England den Bündnisfall ausrufen und dieses Fass wollte 10 Downing Street ganz bestimmt nicht wegen eines übergelaufenen Agenten aufmachen. So oder so: Das Einschalten der OPCW wäre zu dem Zeitpunkt wenig sinnvoll gewesen.

Der Vorwurf, dass dieser Angriff keinen Sinn mache und niemandem helfe, spricht aus einer Sicht- und Denkweise, der ein pazifistisches Miteinander als Prämisse zugrunde liegt. V. Putin und sein Regierungskonstrukt sind nicht unangreifbar, insbesondere so kurz vor der Wahl nicht. Vermutlich liegen genügend Leichen im Keller, die den Ausgang der Wahl erheblich gefährdet hätten. Es ging genau darum zu verhindern, dass irgendjemand diese "Leichen" ausplaudert. Es ging nicht darum, in erster Linie dem Westen eine Warnung zukommen zu lassen. Ja, das war auch beabsichtigt, aber das war nicht der Punkt, um den es ging. Es ging um eine klare Botschaft an alle Dissidenten, Überläufer, Whistleblower und sonstige "Informanten", die irgendwelche schmutzige Wäsche über das System Putin verraten könnten und sich mit diesem Gedanken tragen bzw. trugen: "Wir kriegen Euch, egal wo ihr seid. Und nicht nur Euch, auch Eure Familie. Und Ihr könnt absolut gar nichts dagegen tun."

Darum war England so wichtig als Austragungsort. England hat mit Abstand die höchste Dichte an Kameraüberwachung. Die Rechte zur Informationsbeschaffung für die staatlichen Behörden reichen weit über das hinaus, was wir bereit sind zu akzeptieren. Die britischen Geheimdienste haben einen exzellenten Ruf und arbeiten dicht mit denen anderer Staaten zusammen. Wenn es gelingt, einen Überläufer hier auszuschalten und unerkannt zu entkommen, dann gelingt das überall. Die Adressaten waren deshalb nicht in erster Linie Politiker, die NATO oder sonst jemand. Die Wirkung auf diese Kreise wurde aber mit Sicherheit sorgfältig erwogen und durchdacht und die möglichen Konsequenzen durchgespielt.

Dazu passt auch, dass nach der Konsultation zwischen der EU und Vertretern der englischen Regierung die verabschiedete Erklärung auf eine direkte Beschuldigung Russlands verzichtet - wohl auf Initiative Griechenlands. Man teile aber die Einschätzung, dass die Russen Urheber des Anschlags waren, denn man habe keine andere plausible Erklärung.

Es bleibt spannend und egal, wie die Untersuchungen auch ausgehen mögen: Wollen wir wetten, dass bei den westlichen Geheimdiensten seit dem 4. März 2018 ein etwas strengerer Wind weht?

Montag, 19. März 2018

Demokratie 2.01 - Was Firmen für Parteien tun

Ich erwähnte Cambridge Analytica (CA) im Zusammenhang mit Facebook und der Datenauswertung. Vielen ist entgangen, welche Rolle diese Firma spielt. Sie hat sich darauf spezialisiert, "Wahlkampfhilfe" zu betreiben. Zu diesem Zweck war sie unter anderem am Wahlkampf von D. Trump beteiligt.

Channel 4 gelang zwischen November 2017 und Januar 2018 eine umfangreiche Undercover-Aktion, bei der Cambridge Analytica recht frei von der Leber weg erzählte, was denn wohl so ginge. Ein Reporter von Channel 4 gab sich als Vermittler für einen wohlhabenden Kunden, der ihm genehme Kandidaten in den kommenden Wahlen in Sri Lanka positionieren wollte. Der CEO Alexander Nix gab zu, dass CA heimlich in Kampagnen rund um den Globus beteiligt sei. Dazu gehört auch ein Netz aus Tarnfirmen und Subunternehmer. Wörtlich sagte er:

"...wir sind gewohnt, mit verschiedenen Methoden im Schatten zu arbeiten und ich sehe dem Aufbau einer sehr langfristigen und geheimen Beziehung mit Ihnen entgegen"

In einem der Gespräche ging es um das Ausgraben von Material über politische Gegner. Mr Nix sagte, dass man "ein paar Mädchen zum Haus des Kandidaten beischicken könnte." Er fügte hinzu, dass Frauen aus der Ukraine sehr hübsch wären und er die Erfahrung gemacht hat, dass dieses Vorgehen sehr gut funktioniert

bei anderer Gelegenheit sagte er, dass dem Kandidaten eine enorme Summe Geld zur Finanzierung seiner Kampagne angeboten wird. Als Gegenleistung für Grundstücke, zum Beispiel. Das ganze wird heimlich gefilmt und hinterher ins Internet gestellt.

Immerhin: Das Spitzenpersonal von CA hat Erfahrungen aus erster Hand mit "heimlichen Videoaufnahmen". Deshalb dürften die Enthüllungen von Channel 4 die Firma jetzt kaum überraschen.

CA gab freimütig zu, soziale Medien regelmäßig als Plattform für belastendes Material zu nutzen. Dabei würde sorgsam darauf geachtet, die Veröffentlichung nicht als Propaganda erscheinen zu lassen. Sobald etwas als "Propaganda" gebrantmarkt wird, fangen die Leute an, die Quelle der Veröffentlichung zu suchen. Da viele Kunden nicht dabei erwischt werden wollen, wie sie mit ausländischen Firmen zusammenarbeiten, würde CA regelmäßig Firmen im Land des Auftraggebers gründen, Personalien und Webseiten erfinden und aufbauen. Dabei ist es egal, ob CA als Studenten während eines Forschungsprojekts oder Touristen erscheint. Alles sei möglich und man habe eine Menge Erfahrung darin.

Während der Treffen gaben die Geschäftsführer von CA regelmäßig damit an, dass sie und auch das Mutterunternehmen Strategic Communications Laboratories (SCL) an mehr als 200 (zweihundert) Wahlen rund um die Welt beteiligt gewesen sind, darunter in Nigeria, Kenia, der Tschechischen Republik, Indien und Argentinien.

Übrigens ist es eine Straftat, auch in England (UK Bribery Act) und den USA (US Foreign Corrupt Practices Act), Bestechung irgendwo auf der Welt auch nur anzubieten. CA hat Firmensitz in England und ist als Firma in den USA registriert...

Parallel zu diesen Enthüllungen heute geriet Mark Zuckerberg, CEO von Facebook, heute ein wenig unter Druck, als ihn Politiker aus der EU und den USA anriefen und Erklärungen verlangten für die Rolle, die Facebook in diesem Debakel spielt. Wie konnte eine am Wahlkampf eine Präsidentschaftsbewerbers an die Daten von 50 Millionen Facebook Usern herankommen?

Als Folge darauf stürzte die Aktie von Facebook an der Börse ab. Das handelsblatt kommentierte das lapidar: "Seit dem Hochkochen der Datenaffäre haben die Papiere des Unternehmen mehr als neun Prozent nachgegeben und rund 50 Milliarden Dollar an Börsenwert ausgelöscht." Dies ist der größte Kursverlust des Unternehmens seit September 2012, als Investoren befürchteten, dass eine neue Gesetzgebung die Werbeeinnahmen des Unternehmens beschneiden könnte. Ein Juraprofessor der Universität Maryland sagte, dass der Deckel von Facebooks Blackbox der Datensammlung und -Verarbeitung gehoben wurde und was wir zu sehen bekommen, sieht nicht gut aus.

"Nicht gut" haben heute, glaube ich, eine Menge Leute gesagt, denn: Bei den Summen, um die es hier geht, dürfte klar sein, dass CA nicht die einzige Firma ist, die...

Cambridge Analytica Uncovered: Secret filming reveals election tricks


 

Youtube, erweiterter Datenschutzmodus aktiviert

[ Update ]

CA hat im Vorfeld versucht, die Ausstrahlung der Reportage zu verhindern. Dh. die Firma wusste vor Ausstrahlung von den anstehenden Veröffentlichungen. Parallel dazu versucht die englische Regierung, bzw. das Parlament einen Gerichtsbeschluss zu erwirken, der dem Staat unbegrenzten Zugriff auf die Server von CA erlaubt. Grundlage dafür soll unter anderem das unkooperative Verhalten der Firma im Zusammenhang mit der laufenden Untersuchung sein.

Die Firma selbst hat zu den Anschuldigungen durch Channel 4 Stellung genommen. Sie weist alle Anschuldigungen zurück. Die im Video gezeigten Aussagen der Firmenchefs wären bewusste Übertreibungen gewesen, weil man erkannt hätte, dass die Anfragen des Undercover Reporters auf keinen Fall ernst gemeint sein konnten. Um der Show willen und um herauszufinden, wohin das alles führt, hätte man aber mitgespielt. Im Nachhinein betrachtet, sei das ein Fehler gewesen, so CA.

Mittwoch, 14. März 2018

Ganz bestimmt alles reiner Zufall

Es ist bemerkenswert, wenn ehemaliger russischer Doppelagent Opfer eines Attentats wird. Sergej Skripal und seine Tochter wurden in Sailsbury bewusstlos auf einer Parkbank entdeckt. Sie kämpfen nach Angaben englischer Behörden mit dem Leben. Die Untersuchung der Opfer ergab offenbar, dass beide mit einem sehr speziellen Nervengift in Kontakt kamen: Nowitschok.

Nowitschok ist ein in den 1970er / 1980er Jahren entwickeltes Nervengift, das sich aufgrund seiner zentralen Phosphor-Fluor-Bindung als Weiterentwicklung von Sarin verstehen lässt. Nowitschok gilt als acht Mal giftiger als Sarin und wurde speziell entwickelt, um durch die von NATO-Staaten verwendeten Chemiewaffendetektoren nicht entdeckt zu werden. Zum Teil sind sie so beschaffen, dass selbst bei einem Auslösen eines Giftalarms eines entsprechenden Analysegerätes die Ursache nicht identifizierbar wäre und deshalb von einem Fehlalarm ausgegangen würde.

Angeblich existiert eine Vielzahl an Novitschok-Giften und über 100 verschiedene Varianten wurden während der Entwicklung getestet. Einige sind als binäre Wirkstoffe entwickelt worden, wodurch das Gift nicht nur noch schwieriger zu entdecken ist, sondern auch sehr viel problemloser handhabbar. Einige dieser Binärkomponenten ähneln gängigen Produkten der Agrar- und Industriechemie.

Das Gift wirkt auf das Enzym Acetylcholinesterase. Kurzgefasst legt es das Nervensystem derart lahm, dass es in permanentem Erregungszustand, ähnlich eines epileptischen Anfalls bleibt. Das Opfer stirbt letzendlich an Atemlähmung. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass das Opfer überlebt, sind die Langzeitfolgen derart schwerwiegend, das überlebende Opfer hinterher in der Reghel schwerstbehindert sind.

Wie gefährlich das Nervengift ist, ist daran zu erkennen, dass infolge des Anschlags nicht nur das unmittelbare Ziel, sondern nach bisherigem Kenntnisstand zwanzig weitere Personen Opfer dieses Gites wurden. Verschiedene Experten sehen in Nowitschok eine Klasse von Chemiewaffen, die praktisch nicht zu bekämpfen sind.

Für sich genommen ist bereits die Tatsache, dass ein ausschließlich in Russland hergestelltes, militärisches Kampfmittel bei einem Attentat in England verwendet wird, ein diplomatisches Problem - um es ganz vorsichtig zu umschreiben. Das Verhältnis zwischen England und Russland ist nicht nur infolge diverser "Manöver" der russischen Luftwaffe an den Grenzen des englischen Luftraums in auffällig-unauffälliger Nähe zu den Heimathäfen der englischen Flotte schon länger angespannt.

Brisant wird die Lage allerdings, wenn wenige Tage nach diesem Attentat ein anderer Exil-Russe tot aufgefunden wird, der möglicherweise stranguliert wurde. Nikolai Gluschkow war enger Vertrauter von Boris Beresowski. Der wiederum war erklärter Kritiker des Kreml und hatte sich mit V. Putin überworfen, war nach London ins Exil gegangen, wo er Asyl erhielt und schließlich im März 2013 tot aufgefunden wurde. Es konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob Beresowski Opfer eines Gewaltverbrechens wurde oder sich selbst getötet hatte. Allerdings hatte er gesagt, er halte Präsident Putin für fähig, jeden zu töten, den er als Feind sieht, und er sah sich selbst als potentielles Opfer eines solchen Anschlages. Sein Haus glich deshalb eher einer Festung.

Auch wenn sich zwischen Gluschkow und Skripal kein direkter Zusammenhang zeigen lässt - abgesehen davon, dass beide aus Russland aus Angst um ihr Leben getürmt waren - reicht es der Regierung in London jetzt wohl. Insgesamt 15 ungeklärte Todesfälle von "Exilrussen" sind doch etwas viel Zufall und der Einsatz eines chemischen Kampfstoffes mit ausufernden Kollateralschäden mehr, als 10 Downing Street bereit ist, zu dulden.

Andere westliche Staaten stellten sich inzwischen demonstrativ an die Seite der Inselbewohner. Selbst Donald Trump verkündete, für ihn sähe es so aus, als wären es die Russen gewesen. Die Engländer haben den Russen bis Dienstag Mitternacht (also quasi "bis vorhin") Zeit gegeben, die Sache mit dem Kampfstoff auf englischem Boden zu erklären. Die Russen lehnen jegliche Verdächtigung kategorisch ab und verlangen, das gefundene Gift selber untersuchen zu dürfen.

Wenn Russland oder der Kreml oder die russischen Geheimdienste (früher KGB, heute GRU) keine lange Vita in Sachen Eleminierung von Menschen hätten, die in ihren Augen Verräter am russischen Staat waren, man könnte ernsthafte Zweifel haben. Aber eben diese Vita hat Russland bzw. dessen Geheimdienst(e). Hinzukommt, dass Skripal ehemaliger Oberst der GRU ist. Auch der Umstand, dass dieses sehr spezielle Gift im Westen überhaupt nicht hergestellt werden kann (weil etliche Detailkenntnisse über die Produktion unbekannt sind) und die Existenz des Kampfstoffs einzig durch einen russischen Überläufer im Westen bekannt ist, macht die Indizienlage schon etwas eindeutiger. Auch ist das Dementi von russischer Seite auffallend frei von Belegen und Erklärungen und erstreckt sich auf ein eher aggressiv vorgetragenes "und wenn ihr zehn Mal Beweise habt...".

Berechtigt ist die Frage, wie es überhaupt zu den Attentaten kommen konnte. Lapidare Feststellung und Erklärung: Der Westen bewacht seine Überläufer nicht mehr so wie früher. Das kann notwendige Folge von Einsparungen sein. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Westen insgesamt die Situation nicht mehr als so gefährlich eingeschätzt hat, wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Spätestens die Methode, militärische chemische Kampfstoffe ohne Rücksicht auf Kollateralschäden einzusetzen, ist ein extrem eindeutiges Signal, das mindestens mitteilt "Wir sind hier. Wir haben ein Messer und wir halten es Euch an den Hals." und dürfte ein klares Signal für ein Ende der entspannten geopolitischen Großlage der letzten Jahrzehnte sein.

Es ist offensichtlich, dass die Regierung Englands jetzt reagieren muss. Im Moment ist noch nicht klar, wie England reagieren wird, welche Maßnahmen folgen und welche Gegenmaßnahmen aus dem diplomatischen Werkzeugkasten geholt werden. Allerdings sollte auch auffallen, dass diese ungeklärten Attentate kurz vor der Wahl des russischen Präsidenten am 18.03.2018 stattfanden. Welches Interesse Russland und / oder V. Putin verfolgen könnte, solche Attentate so auffällig so kurz vor der Wahl auszuführen, lässt doch diverse Alarmlampen aufleuchten - zumal kaum realistisch zu erwarten ist, dass der Posten zukünftig von einer anderen Person als dem gegenwärtigen Amtsinhaber besetzt wird.

Eins meiner schon länger gehegten Szenarios beruht auf einer subtilen, aber nachhaltigen Destabilisierung westlicher Schlüsselregierungen: Paris, London, Berlin. Den "Informationskrieg" sollte jeder spätestens bei den Stichworten Trump und RT auf dem Schirm haben. Auch "Cosy Bear" sollte manchen noch irgendetwas sagen. Bei uns häufen sich in jüngerer Vergangenheit (oh Wunder der Choreographie) Berichte über Schläfer, die russische Mafia und andere "Vereinigungen", die mehr oder weniger direkt in Verbindung mit - und deutlich positiv eingestellt zu - V. Putin stehen. Russland und Paris... da bin ich aktuell überfragt, aber Russland hat (mindestens) einigermaßen brauchbare Beziehungen mit Marokko. Erst neulich war der russische Premier Medvedev zu Besuch. Frankreich wiederum hat etliche Probleme mit marokkanischen Migranten.

Als neulich ein weißrussischer Diplomat im Deutschen Fernsehen einen Reporter recht unverblümt fragte, wie der darauf komme, dass der Osten der Ukraine nicht mit russischen Truppen durchsetzt sei, wurde ich hellhörig (wir erinnern uns? Krim? Separatismus Donezk / Luhansk? Da war was, nicht wahr?) Auch der gerade stattgefundene Test der eindeutig für nukleare Zwecke konstruierten Hyperschallrakete war nicht zufällig zu diesem Zeitpunkt angesetzt. Das Engagement in Syrien und die undurchsichtige Annäherung an die Türkei... Sicher. Vage und spekulativ. Aber einen Schritt vom Bild zurückgetreten werden Konturen erkennbar, die zumindest mich etwas beunruhigen.

[Update]

Mittlerweile wurden eine Reihe von Sanktionen in Bewegung gesetzt und angekündigt. In einem ersten Schritt wurden 23 Diplomaten des Landes verweisen. Dies ist die größte Ausweisungswelle seit dem Überläufer Oleg Gordievsky, 1985. Damals wurden 31 Diplomaten des Landes verweisen. Noch folgen sollen:

  • Verschäfte Kontrollen bei privaten Flügen, Zollkontrollen und Frachtverkehr
  • Staatliche Vermögen sollen eingefroren werden, sofern es Beweise gibt, dass diese benutzt wurden, um das Leben oder den Besitz britischer Bürger zu bedrohen
  • Minister und die Königliche Familie werden die Fussball WM in Russland boykkottieren
  • Sämtliche bilaterale Kontakte zwischen England und Russland werden auf Eis gelegt
  • Neue Gesetzgebungen werden in Gang gebracht, um sich besser gegen "feindliche Aktivitäten anderer Staaten" wehren zu können.

Die Diplomaten auszuweisen... gut. Symbolpolitik. Der Boykott seitens der Royalen und Minister tut schon eher weh, denn dadurch kann man nicht "mal eben miteinander über dieses oder jenes reden", aber auch eher nervig. Aber der Rest... das ist schon eher der größere Hammer, zu dem 10 Downing Street da greift. Russlands Reaktion war entsprechend auch wenig begeistert. Davon ausgehend, dass dies die Ouvertüre zu einem längeren Schauspiel war, dürften "bald" noch einige interessante Entwicklungen bevorstehen.

Freitag, 26. Februar 2010

Nicht nur eine Frage der Intelligenz

Kennt Ihr das Gefühl sich mit jemandem zu unterhalten, mit ihm zu diskutieren und sich dabei insgeheim zu fragen: "Sag mal, ist der so blöde oder will der nicht begreifen?" Zwei Studien, die mir in den letzten Tagen in die Hände fielen, beantworten diese Frage auf bemerkenswerte Weise.

Die erste Studie befasst sich mit der Untersuchung, welche Faktoren auf die Einschätzung eines Themas, über das man wenig weiß, Einfluss darauf haben, ob bei diesem Thema eher die Risiken oder die Vorteile gesehen werden. Die Untersuchenden nahmen mit voller Absicht das Thema Nanotechnologie, denn nur wenige wissen wirklich mehr als nur oberflächliche Details über dieses Thema. Die Untersuchenden präsentierten den Probanden, die wenig bis gar nichts über das Thema wussten, dieselben Fakten und ließen sie einschätzen, wie sie aufgrund dieser Fakten das Thema einschätzen.

Das Ergebnis war verblüffend: Nicht etwa die Fakten als solche waren für die Antwort maßgeblich, denn dann hätten die Antworten einem gleichmäßigen Muster folgen müssen. Das taten sie aber nicht. Stattdessen konnte nachgewiesen werden, dass die Risikobewertung durch die kulturelle Prägung polarisiert wurde und die Fakten deutlich überlagerte:
"(...) members of public who hold relatively egalitarian and communitarian worldviews will perceive (...) risks to be greater, and (...) benefits smaller, than will persons who hold relatively hierarchal and individualistic worldviews."
Kommunitarismus bezeichnet eine kapitalismus- bzw. liberalismuskritische Strömung in der Kulturphilosophie, wobei hier Liberalismus als philosophische, ökonomische und politische Ideologie individueller Freiheit im Sinne einer normativen Grundlage der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung gemeint ist. Der Egalitarirismus bezeichnet eine sozialpolitische Sichtweise, die Widersprüche einer Gesellschaft durch Gleichheit aufzulösen versucht. Beim Individualismus steht der Einzelne, das Individuum im Mittelpunkt und eine hierarchische Weltanschauung basiert auf einem System, in dem die einzelnen Elemente einander über- bzw. untergeordnet sind.

Mit anderen Worten: Die kultur- und sozialphilosophische Sichtweise eines Einzelnen ermöglicht Rückschlüsse darauf, ob der- oder diejenige eher Nachteile oder Vorteile eines ihm neuen Themengebietes wahrnimmt. Umgekehrt lässt sich aus der Haltung gegenüber einem vergleichsweise neuen Themengebiet unmittelbar diese kultur- und sozialphilosophische Sichtweise ableiten.

Eine US-amerikanische Studie belegt, dass die politische Einstellung unmittelbar mit dem Intelligenzquotienten zusammenhängt. Eine Langzeitstudie mit 15.000 Teilnehmern konnte zeigen, dass diejenige Gruppe, die sich selber als "sehr konservativ" einschätzte, im Durchschnitt einen um IQ von 95 aufwies und damit 5 Punkte unterhalb des Durchschnitts der Gesamtheit ihrer Altersgruppe lag. Hingegen lag der durchschnittliche IQ derjenigen Gruppe, die sich als "progressiv" betrachtet, bei 106 Punkten, also 6 Punkte über dem Durchschnitt der Altersgruppe. Konservative Sichtweisen und progressive Sichtweisen spiegeln sich unter anderem auch in der Religiosität wieder. Unter den Probanden hatte diejenige Gruppe, die sich selbst als "überhaupt nicht religiös" betrachtete, im Durchschnitt einen IQ von 103, wohingegen die Gruppe, die sich selbst als "sehr religiös" einschätzte, im Durchschnitt 97 Punkte erreichte.

Parallel dazu zeigt eine von der zuvor genannten Untersuchung unabhängige Langzeitstudie aus England, dass unter deren Probanden die intelligenteren eher dazu neigen, Grüne oder Liberaldemokraten zu wählen als Konservative oder die Labour Party. Nach Ansicht von Psychologen passt das zu den Beobachtungen außerhalb der Studie. Intelligenz erlaubt es den Menschen, sich anders zu verhalten, als es die Evolution in ihnen angelegt hat. Eine höhere Geistesleistung gibt ihnen die Freiheit, neue Wege im sozialen Zusammenleben zu suchen. Sie können wegen ihrer Intelligenz eher Ressourcen für Menschen aufwenden, die nicht mit ihnen verwandt sind, und sind eher für staatliche Wohlfahrt, die höhere Steuern erfordert.
"Um progressiv zu sein, brauchen Menschen kognitive Leistungsfähigkeit. Wer immer im Bekannten bleibt, muss nicht viel überlegen."

Detlef Rost, Intelligenz-Forscher an der Universität Marburg
Bemerkenswert an der britischen Studie waren die Ergebnisse hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen IQ und gewählter Partei. Die Gruppe der Wähler der in England sehr progressiven, fortschrittsorientierten Partei der Grünen hatte als Kind im Durchschnitt einen IQ von 108, die der Konservativen im Durchschnitt einen IQ von 104 und die Gruppe der Wähler der Labourpartei im Durchschnitt einen IQ von 103. Die Gruppe der Nichtwähler und Wähler rechtsextremer Parteien lagen jeweils im Durchschnitt unter 100.

Mir zumindest werden gerade eine Menge Dinge klar...

Samstag, 18. Oktober 2008

Besser als wir

Im Gegensatz zu anderen Ländern haben Amerikaner und Engländer sehr viel weniger Hemmungen davor, das heimische Publikum mit Bildern aus den 'Stan zu konfrontieren, die die "andere" Geschichte erzählen. Also die jenseits des Brunnenbaus, des erfolgreichen Wiederaufbaus und der Friedfertigkeit aller Leute. Manchmal findet man allerdings auch als einiges gewohnter ...äh... "Konsument" Häppchen, bei denen man einfach nur noch sprachlos ist. So zum beispiel in der Dokumentation "Inside Afghanistan with Ben Anderson" von VBSTV. Ben Anderson ist Reporter der BBC und drei Jahre lang "embedded reporter" bei der britischen Armee. Natürlich zeichnet die Dokumentation insgesamt ein kompliziertes und verwirrendes Bild, aber das folgende übertrifft alles:



Mit "ANA" ist die Afghan National Army gemeint. Das ist sozusagen die offizielle Armee Afghanistans. Und die hat wohl so einige ungewohnte Eigenheiten. Und wir wollen ein Land wirklich von solchen Soldaten verteidigen lassen und unsere abziehen, weil die Einheimischen das alles viel besser können als wir? Echt jetzt?

Für Interessierte: Die gesamte Doku gibt es hier.

(Quelle: VBSTV)

Freitag, 17. Oktober 2008

Voller Hoffnung...

Jeep brennt im IrakWelche Regierung mag es schon, wenn davon berichtet wird, was die eigenen Spezialisten so treiben? Den Engländern kann es deshalb gar nicht in den Kram gepasst haben, was ausgerechnet hochrangige afghanische Regierungsbeamte erzählten. Die berichteten nämlich davon, dass die britische SAS und SBS bei Sagnin eine hochrangige Führungsperson der aufständischen Taliban getötet haben. Das ist nun eher nicht so dramatisch, denn das passiert wohl häufiger. Außerdem ist das schon letztes Jahr passiert. "Old news", wenn man so will.

Interessant wird die Sache jedoch durch zwei kleine, bestimmt völlig unwichtige Details. Erstens: Sangin liegt mitten in Afghanistan und die Führungsperson der Aufständischen war ein hochrangiger Offizier der Armee Pakistans. Zweitens: Die Briten wussten das und haben es bis heute vertuscht. Entsprechend groß ist auf allen Seiten die Begeisterung. Bestimmt ist es reiner Zufall, dass ausgerechnet jetzt andere westliche Medien die Frage stellen, was genau Herr Karazai eigentlich zusammen mit seinem Bruder da in Afghanistan für Geschäfte treibt - neben seinem Job als Marionette Staatschef.

Erst Recht muss es aber Zufall sein, dass die Experten für die Lage in den 'Stan der Britischen Presse gegenüber folgendes zum Ausdruck bringen:
"The highest aspiration must be for controlled warlordism, not conventional democracy. A civil war may prove an essential preliminary before some crude equilibrium between factions can be achieved. If this sounds a wretched prognosis, it is hard to find informed westerners with higher expectations."
Mit anderen Worten: Das Beste, worauf Afghanistan im Moment hoffen kann, ist ein weiterer Bürgerkrieg...

Wie war das noch? Wieviele Soldaten wollte die Bundesregierung 'rüber schicken? Und warum wurde die Entscheidung darüber jetzt gerade erst im Einvernehmen der Koalitionspartner vertagt? Warum war der Westen jetzt noch genau da unten?

Dienstag, 30. September 2008

Nur mal vorbeischauen

TU-160 BlackjackAls vor noch gar nicht allzulanger Zeit zwei TU-160 "Blackjack" von Russland nach Venezuela flogen, haben das viele als übertriebene Geste angesehen. Als bedeutungslose Demonstration militärischer Größe vergangener Tage seitens der Russen. Wenige haben verstanden, dass diese erfolgreiche Mission für das US-Militär durchaus sehr viel mehr war, als eine Erinnerung an vergangene Tage, sondern vielmehr der Hinweis darauf, dass man im eigenen Land einige schwerwiegende militärische Defizite vorweisen kann: Es fehlt an Luftabwehr.

Damit aber nicht genug. Heute flog eine TU-160 in aller Seelenruhe über die Nordsee, tat, was Langstreckenbomber dort numal so tun und tauchte dann irgendwann auf dem Rückflug auf britischem Radar auf. 32 Kilometer vor der Ostküste, auf Höhe von Hull sah man den Flieger von hinten, als er sich von wieder von der Küste entfernte. Mit anderen Worten: Man sah ihn wegfliegen, aber sein Kommen hatte niemand bemerkt. Niemand - mit Ausnahme der Russen - weiß ganz genau, wie nah der Flieger an England herangekommen war.

Für das Militär eine nicht eben angenehme Erkenntnis, die entsprechend kommentiert wurde:
"The Russians made us look helpless. The Blackjack could have got even closer. It was a disaster — it basically gave the Russians the green light to fly wherever they want."
Warum? Nun, die TU-160 schafft (offiziell) "nur" zwischen etwas mehr als 1.000 km/h in Bodennähe und 2.200 km/h unter idealen Bedingungen. 32 Kilometer bei 1.000 km/h sind weniger als 2 Minuten. Die Marschflugkörper, die dieser Bomber im Ernstfall trägt, schaffen nach Angaben aus Militärkreisen gut und gern 1.000 km/h bei einer Reichweite von mehr als 3.200 km und einer Flughöhe von 10-100 Metern über Grund...

Die Nato dürfte sich angesichts dieses Vorfalles und der Implikationen, die sich aus anderen Vorfällen, Entwicklungen und Verlautbarungen ergeben durchaus fragen, ob das mit der eigenen Strategie und dem Abbau nationaler Verteidigungskräfte wirklich eine so gute Idee ist. Besonders dann, wenn man sich als Nato öffentlich mit dem Gedanken trägt, sich im Bedarfsfall mit Russland anlegen zu wollen (Stichwort "Georgien in die Nato").

(Quelle: Times)

Freitag, 22. August 2008

Humor von der Insel

Moderner Britischer Humor hat wenig mit Monty Python zu tun. Er ist schneller, bissiger und sehr viel schmerzfreier, wie zum Beispiel Al Murray anschaulich demonstriert:

Allerdings ist er auch manchmal etwas schwer zu verstehen.

(Danke LazyLob)

Dienstag, 19. August 2008

Bildung 2.0

Die Universität von Nottingham hat sich gedacht, dass es doch eine tolle Idee wäre, wenn man der Welt auf dem Wege der "Neuen Medien" klassisches Wissen nahe bringt. Den Anfang macht das Experiment, alle chemischen Elemente mit einem eigenen Video vorzustellen. Hier der Trailer dazu:

Ich finde die Idee ziemlich genial und bin der Meinung, dass dieser Ansatz auf jeden fall weiter verfolgt werden sollte.

Mittwoch, 13. August 2008

Sondervorstellung

weibliche Brust BusenWenn Behörden jubelnde Fans haben, muss etwas faul sein. Diese Erkenntnis ist universell und fundamental. Zwar kommt es hin und wieder vor, dass einzelnen Mitarbeitern von einzelnen Bürgern gedankt wird, aber das ist doch eher die Ausnahme. Generell sind Beziehungen zwischen Behördenmitarbeitern und ihrer Kundschaft eher neutral und meistens von tiefsitzender, umfassender, gegenseitiger Abneigung gekennzeichnet. Ursache dafür sind nicht selten die kreativ gestalteten Arbeitszeiten, Zuständigkeiten und Vorschriften.

Mitarbeiter des Rathauses in Oldham nahe Manchester, England, waren entsprechend verblüfft, als sich nach und nach Passanten vor dem Rathaus versammelten. Man befürchtete einen sich spontan zusammenrottenden Mob, aber irgendwie fehlten Fackeln und Mistgabeln. Auch waren die drinnen ziemlich überrascht davon, dass die draußen offenbar ziemlich begeistert waren. Man schob die Begeisterung auf die letzten Renovierungen und wollte die Leute auf der Straße nicht weiter beachten.

Das klappte auch ganz gut, bis die inzwischen beachtlich gewachsene Meute draußen begann, rhythmisch zu klatschen. Das brachte zwar erneut gesteigerte Aufmerksamkeit, aber keine Klarheit über die Gründe. Als dann aber Anfeuerungsrufe unmissverständliche Klarheit brachten, war die Hektik groß. Ein Cop wurde damit beauftragt, dem ungebührlichen Ausbruch an Begeisterung für das Treiben im Rathaus Einhalt zu gebieten. Der arme Kerl wurde beauftragt, alle Büros mit Fenstern zur Straße zu durchsuchen und die Akteure auf die Einhaltung der Dienstvorschriften hinzuweisen. In denen steht schließlich nicht drin, dass die Bevölkerung zu begeistern ist!

Und so geschah es auch. Der Cop platzte schließlich in das alles entscheidende Büro, in dem sich zwei Angestellte der Stadt miteinander vergnügten. Eine Diskussion über ein mehrere Millionen Euro schweres Projekt zur Wiederbelebung der Wirtschaft hatte die beiden so dermaßen angemacht, dass sie nicht anders konnten als sich die Klamotten vom Leib zu reißen und übereinander herzufallen. Am Fenster. Ohne Vorhänge. Zur Begeisterung der Bevölkerung, die nun endlich den Beweis vor Augen hatte, dass Behörden auch mal was Sinnvolles tun können.

Ein Sprecher des Stadtrates erklärte der Presse, dass die überaus erfolgreichen Akteure zur Zeit suspendiert sind und eventuell mit Disziplinarmaßnahmen zu rechnen haben. Allerdings werde darüber erst entschieden, wenn wirklich alle Einzelheiten des Vorfalls bekannt sind. Mit anderen Worten: Wenn auch der letzte das Video gesehen und die Leistung der beiden gewürdigt und bewertet hat - Wir erinnern uns? England ist das Land mit der absolut höchsten Dichte an Überwachungskameras in öffentlichen Bereichen - Behörden gehören auch dazu...

Unbekannt ist, ob den beiden wenigstens außerhalb ihrer Behörde weitermachen durften, ohne von der Polizei gestört zu werden. Unbekannt ist auch, ob Publikum dabei eine größere Rolle spielt...

(Quelle: Daily Mail)

Mittwoch, 16. Juli 2008

Gleiche Chancen

Fluglotse WikipediaWenn es um Minderheiten geht, hat die westliche Welt eine gewisse Berührungsempfindlichkeit entwickelt. Deutschland führte extra wegen dieser Empfindlichkeit ein eigenes Gesetz ein, das vom Volksmund "Antidiskriminierungsgesetz" genannt wird, weil die Anordnung der Verfassung, dass niemand wegen Herkunft, Rasse, Geschlecht Religion und so weiter benachteiligt werden darf offenbar nicht ausreicht. Der Deutsche braucht sowas ja immer in doppelter Ausführung, bevor auch er wirklich daran glaubt, dass diesesmal ganz bestimmt auch er gemeint ist. Überspitzt gesagt kann man heutzutage eher eine Bank ausrauben und ungeschoren davonkommen als einen Angehörigen einer Minderheit "unfair" zu behandeln.

Ähnliche Ansichten und Ängste hegt man offenbar auch im Inselkönigreich jenseits des Kanals. Der Flughafen von St. Mary's, einer Insel der Scilly-Inseln vor der Südwestküste Englands, hatte wohl besondere Angst davor, wegen Diskriminierung vor den Kadi gezerrt zu werden. Darum Werden dort Bewerbungsunterlagen für Fluglotsen nicht nur als Audiodatei angeboten, sondern auch in Großschrift und Braille. Zwar weist die Webseite des Flughafens ausdrücklich darauf hin, dass Fluglotsen sehr gute Augen brauchen, aber Bewerbungsunterlagen für Blinde werden routinemäßig bereitgehalten, um sich gegen den Vorwurf der Diskriminierung wehren zu können.

Wer bis jetzt noch nicht verstanden hat, dass wir in der westlichen Welt es mit unserer Angst vor irgendwelchen Randgruppen und Minderheiten ein ganz klein wenig übertreiben, der merkt wahrscheinlich auch andere Einschläge nicht...

(Quelle: AFP)

Sonntag, 6. Juli 2008

Religionsunterricht

betende schluempfeDas Inselkönigreich jenseits des Kanals ist bekannt für seine Ausländern zuweilen skurril anmutenden Praktiken. Maßeinheiten, Währungen und Straßenverkehr sind ebenso bemerkenswert anders, wie zum Beispiel auch die Vorliebe für vom Staat installierte Kameras und eine bestenfalls eigenwillig zu nennende Küche. Ist es da verwunderlich, wenn auch aus anderen Ecken jenes Landes über seltsame Begebenheiten berichtet wird?

Die Daily Mail berichtet von der Alsager High School in Mittelengland. Dort gibt es Religionsunterricht. Dieser Unterricht soll nicht nur Wissen um eine Religion vermitteln, sondern auch über andere. Zum beispiel auch über den Islam. Da werden dann so Dinge erklärt wie zum Beispiel wer war Mohamed und so. Und damit die Schüler das so richtig verstehen, dürfen sie im Rahmen dieses Unterrichts dann auch kleiden wie echte Moslems und auch so beten. Unter Anleitung, versteht sich.

Wie in guten Schulen üblich sind solche Übungen natürlich nicht freiwillig. Wo käme man da hin, wenn sich Schüler aussuchen dürften, was sie tun und lassen? (Wahrscheinlich auf eine Waldorfschule, aber das ist ein anderes Thema.) Im Inselkönigreich jenseits des Kanals jedenfalls versteht der Lehrkörper in diesem Punkt gar keinen Spaß. Wenn beten wie bei den Moslams angeordent ist, dann gilt das für alle.

Zwei Jungen im Alter von 11 und 12 Jahren fanden das aber irgendwie doof, waren sie doch keine Moslems und hielten die insgesamt Idee zu einem fremden Gott beten zu müssen jetzt irgendwie nicht so geil, widersprach das doch irgendwie ihrem eigenen Glauben. Diesen Unwillen taten sie kund und weigerten sich, die im Islam üblichen Gebetsriten auszuüben. Diese Weigerung war für die Religionslehrerin und auch Schulleitung ein skandalöser Vorfall.

Wie konnten es die unreifen Blagen nur wagen, sich der Weisheit der Lehrkraft zu verschließen und sich deren Anweisungen verweigern? Natürlich blieb der Schule nur ein richtiger Weg, dieses grobe Mißachten jeglicher Etikette und der Schulvorschriften zu ahnden: Die Schüler wurden mit sofortiger Wirkung vom Unterricht suspendiert. Andere Schüler, die nach Ansicht des überwachenden Lehrers nicht korrekt beteten, wurden gemaßregelt und ermahnt sich zu bessern.

So wiederum erfuhren auch die anderen Eltern davon, was an dieser Schule unter "Religionsunterricht" verstanden wird. Religion als Zwang entspricht zwar durchaus der gängigen Praxis, allerdings eher innerhalb der Glaubensgemeinschaften und nicht innerhalb staatlicher Schulen. Dem Verständnis der Religionsfreiheit und anderer Menschenrechte entspricht das nun nicht gerade, finden zumindest etliche Eltern und sind deshalb ein ganz klein wenig sauer auf diese Schule.

Andere Lehrer der Schule zeigen sich überrascht und geben zu bedenken, dass Religion nicht ihr Fachgebiet wäre und es deshalb schwierig sei, den Unterricht zu bewerten. Auch sei es für Außenstehende schwierig nachzuvollziehen, wie der Unterricht genau abgelaufen sei, denn man war ja schließlich nicht dabei. Findet jedenfalls einer der Englischlehrer. Der Konrektor findet es jedenfalls einen Skandal, dass die Eltern die Presse eingeschaltet und den Vorfall so an die Öffentlichkeit getragen haben.

Seiner Meinung nach, die er bereitwillig der Presse mitteilte, sei es eine Schande seitens der Eltern, sich nicht mit der leider gerade nicht anwesenden Religionslehrerin auseinanderzusetzen. Aber, so der Konrektor, er habe sich mit der Lehrerin über den Vorfall unterhalten und sie habe ihm ihre Sicht der Dinge geschildert und das wäre alles, was er zu diesem Vorfall zu sagen habe.

Die Schulaufsichtsbehörde meinte zu dem Vorfall, dass Untersuchungen eingeleitet wurden und die Eltern entsprechend informiert werden. Dennoch wäre die Ausbildung der Schüler hinsichtlich anderer Glaubensrichtungen und deren Praktiken durchaus essentiell für das Verständnis. Allerdings, so die Behörde, nehmen wir zur Kenntniss, dass solch ein Unterricht offenbar ein wenig einfühlsam stattfinden sollte.

So gesehen frage ich mich, wann solch interessante Glaubensrichtungen wie konservativer Mormonismus, Scientology oder Satanismus auf dem Lehrplan stehen und wie die in England unterrichtet werden...

(Quelle: Daily Mail)

Montag, 10. März 2008

Wer ist hier seltsam?

Als ich davon berichtete, dass die Bewohner jener Insel mit Königshaus und eigenwilligen Maßeinheiten irgendwie seltsam und generell anders wären, erreichten mich ein paar erboste Emails, in denen ich darauf hingewiesen wurde, wie seltsam und "anders" doch die Deutschen erst wären, mit ihrer Vorliebe für Sauerkraut und Würstchen und so weiter. Nun, ich streite gar nicht ab, dass ordentlicher Wahnsinn auch und besonders in Deutschland beheimatet ist. Wer dieses Weblog kennt, der weiß auch, dass gerade ich eine Menge Erfahrungen am eigenen Leib gemacht habe, um zumindest in dieser Hinsicht als Autorität angesehen zu werden (ich sage nur "Bus fahren").

Trotzdem stelle ich mal zur Diskussion, ob "wir", die "bekloppten Deutschen", wirklich so vollkommen neben der Spur sind, wie manche Besonderheiten jener Inselbevölkerung eventuell vermuten lassen. Ein paar Beispiele gefällig? Kein Problem.

Wie wäre es zum Beispiel mit Brennesselwettessen, einem aus der Weltstadt Marshwood in der Nähe der Metropole Bridport, England, stammender "Sport", der ohne Zweifel das Zeug zur Olympischen Disziplin hat:

Oder das bestenfalls als "bemerkenswert" zu bezeichnende Verhältnis der Insulaner zu bestimmten Milchprodukten, auch bekannt als das "Cheese Rolling at Cooper's Hill", wo es offenbar einzig darum geht, einen Käse möglichst schnell irgendeinen Abhang hinunter zu rollen, hinterher zu rennen und sich dabei möglichst theatralisch auf die Fresse zu legen:

Und wie stehts mit jenem als "gracefull" (SIC!) beschriebenen Wettkampf, den die Bewohner jener Insel mit Stolz auf mindestens das 17. Jahrhundert zurückführen und noch immer austragen, dem Schienbeintreten?



Auch solch sagenhafte Sportarten, wie das Modderwettschnorcheln (jetzt auch mit Mountainbike!), Flaschentreten, die Weltmeisterschaft im Erbsenschießen mit dem Blasrohr und natürlich darf auch das jährliche Wettrennen Mensch gegen Pferd nicht vergessen werden, wo sagenhafte Athleten 35 Kilometer auf Zeit gegen Leute rennen, die diese Strecke lieber auf einem Pferd reiten. Die Liste ist schier unüberschaubar.

Also. Wie war das jetzt mit dem "seltsam"?