Dienstag, 20. März 2018

Skripal - Warum deutet alles auf die Russen hin?

Die Tage war die Geschichte mit dem Gift-Anschlag auf den im englischen Exil lebenden Ex-Doppelagenten Skripal Thema. Das verwendete Gift Nowitschok (oder auch Novichok) spielt dabei ein maßgebliche Rolle. In einer Diskussion wurde mir vorgeworfen, voreilig den Schluss gezogen zu haben, dass Russland derjenige welche sei, denn das sei ja alles andere als klar und bewiesen. Darum möchte ich die Argumentation umreißen, die meiner Meinung zugrunde liegt.

Nowitschok wurde ursprünglich entwickelt in der UdSSR. Die Entwicklung des Programms ging bis in die 1990er Jahre hinein und fand überwiegend im staatlichen Forschungsinstitut für organische Chemie und Technologie (GosNIIOKhT) in Nukus, heute Usbekistan. Nowitschok gilt als Chemiewaffe der dritten Generation und eine Besonderheit dieses Kampfstoffes ist, dass er in binärer Form gelagert und transportiert werden kann.

Komponenten dieses Kampfstoffes sind vergleichsweise harmlos und kaum von Bestandteilen von Düngern und Pestiziden zu unterscheiden und können deshalb problemlos "in plain sight" versteckt werden. Deshalb gilt Nowitschok auch als Testfall für die Chemiewaffenkonvention (Chemical Weapons Convention, CWC), denn die Komponenten fallen eben nicht unter die CWC. Der CWC entsprechend, sind aber alle Chemikalien verboten, die für chemische Kampfstoffe verwendet werden, egal wofür sie eigentlich gedacht sind und verwendet werden.

Noch während die CWC verhandelt wurde, betrieb Russland intensive Forschung an Nowitschok. In einem Artikel ("A Posisoned Policy", Moscow News) machten Vil Mirazayanow und Lev Fedorov die Existenz dieses Kampfstoffs bekannt. Mirazayanow war beauftragt, Möglichkeiten zu entwickeln, mit denen die Armee Nowitschok aufspüren könnte. Dem Artikel zufolge, waren die Filteranlagen der Testlabore unzulänglich, was zu einer Kontamination von Luft, Wasser und Erdboden der Versuchsanstalt führte. Der Regierung wurde vorgeworfen, die Bevölkerung zu vergiften.

Dieser chemische Kampfstoff wurde aber nicht nur in Nukus getestet. Es ist bekannt, dass auch in Krasnoarmejsk, einem Vorort von Moskau, mit Nowitschok gearbeitet wurde. Es kann deshalb mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Nukus zwar das Hauptlabor war, aber nicht das einzige. Das ist insbesondere wichtig für die sich auf den Zusammenbruch der UdSSR beziehende Argumentation.

Seit sich Usbekistan sich von der UdSSR gelöst hat, arbeitet es eng mit den USA bei der Auflösung und Dekontamination der auf dem Hoheitsgebiet Usbekistans befindlichen Chemiewaffenlabore zusammen (Es gab da mehr als nur das in Nukus, wie es wohl insgesamt in der UdSSR mehrere Standorte gab, als nur im heutigen Usbekistan). Allerdings: Dieser Kampfstoff zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass seine Komponenten durch westliche Militärs nicht entdeckt werden können. Da die physischen und chemischen Charakteristika von Novitschok bis heute im Prinzip unbekannt sind, dürfte es schwerfallen, in den Laboren die Komponenten als solche zu identifizieren, selbst wenn man quasi direkt davorsteht.

Das Argument, die USA hätten ja selber den Kampfstoff inzwischen in Händen, weil sie ja uneingeschränkten Zugriff auf das ehemalig herstellende Labor in Usbekistan hätten, setzt aber voraus, dass neben dem Labor als solchem auch die dazugehörenden Unterlagen gefunden worden wären. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall, denn sonst wäre über Nowitschok spätestens jetzt sehr viel mehr bekannt geworden.

Das Argument, dass ja quasi jeder dieses Gift herstellen könnte, ist zwar theoretisch korrekt. Allerdings wird dabei ignoriert, dass man dazu erstens das Rezept benötigt, zweitens ein entsprechend ausgestattetes Labor und drittens Möglichkeiten herauszufinden, ob die Produktion erfolgreich war. Gerade wenn es darum geht, ob die Komponenten korrekt erzeugt wurden, muss man das Endprodukt daraus "entstehen" lassen. Das wiederum ist aber so dermaßen toxisch, dass es ausgeschlossen ist, dass ein solcher Versuch in irgendeinem Kellerlabor oder Wohnküche durchgeführt wurde. Dazu braucht es sehr spezielle Geräte und Einrichtungen, sofern die herstellenden Chemiker nicht Gefahr laufen wollen, während des Experimentierens Opfer ihrer Substanz zu werden. Die dafür notwendigen Räumlichkeiten, Filteranlagen, Schutzvorrichtungen, Gerätschaften und so weiter sind für Privatleute kaum zu beschaffen. Ein Staat jedoch, insbesondere einer, der eigene Erfahrungen bei Herstellung von und Umgang mit diesem Gift hat, sieht das ganz anders aus.

Ein weisteres Gegenargument lautete, dass man ja unmöglich ein Gift entdecken und analysieren könne, über das man nichts weiß. Das stimmt zwar grundsätzlich, aber einiges weiß man eben doch über dieses Gift. Es ist bekannt, dass es auf die Acetylcholinesterase wirkt. Die Symptome sind charakteristisch und der Nachweis, ob die Acetylcholinesterase beim Patienten gehemmt ist, ist vergleichsweise trivial. Dadurch weiß man auch, wo der Wirkstoff zu finden ist. Aus den Körperflüssigkeiten der Opfer dürften die betroffenen Enzyme extrahiert worden sein. Da die grundsätzliche chemische Struktur des Kampfmittels ebenfalls bekannt sind, muss bei der Untersuchung nicht ganz bei null angefangen werden. Auch für den Nachweis phosphorhaltiger Moleküle gibt es zuverlässige Nachweismethoden (zB. 31P-Kernresonazspektroskopie).

Es ist abwegig davon auszugehen, dass die 10 Downing Street mit einem direkten Vorwurf an eine konkrete Adresse an die Öffentlichkeit geht, ohne zumindest starke Indizienbeweise in der Hand zu haben. Die Konsequenzen einer falschen Anschuldigung wären viel zu dramatisch. Viel wahrscheinlicher ist, dass den Wissenschaftlern auf der Insel in wenigen Tagen ein sehr zuverlässiger Nachweis gelang, dass hier mit hoher Wahrscheinlichkeit Nowitschok zum Einsatz gekommen ist. Zusammen mit einer Menge anderer Indizien ergibt sich so ein schlüssiges Bild.

Ein viertes Argument lautet, dass 10 Downing Street sich nicht an das Protokoll gehalten hat, weil die Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) nicht eingeschaltet wurde. Die OPCW kann angerufen und eingeschaltet werden, aber es gibt keine Verpflichtung dazu. Das Hauptproblem dürfte sein, dass ein Staat die OPCW anrufen kann, wenn solche verbotenen chemischen Waffen eingesetzt wurden. Das war wohl streng genommen auch der Fall. Aber die diplomatischen Konsequenzen eines solchen Schritts wären noch mal eine Hausnummer größer ausgefallen.

Angenommen, England hätte die OPCW eingeschaltet. Das hätte den Vorwurf impliziert, dass Russland einen Angriff auf England mit Chemiewaffen ausgeführt hat, bei dem Menschen zu Schaden gekommen sind. Wenn das bestätigt würde, wäre das nicht nur ein Verstoß gegen den Vertrag zur Kontrolle chemische Kampfstoffe, es wäre auch ein direkter und nicht provozierter Angriff (wo habe ich das heute nur schon mal gelesen?) und das wiederum hätte eine Lawine an Folgen losgetreten, die weit über den Rahmen hinausgegangen wären. Zusätzlich könnte Russland dann argumentieren, dass der Umgang mit den einzelnen Komponenten ja nicht verboten sei und man habe keine Kontrolle darüber, was "irgendjemand" mit diesen Komponenten anstelle.

Ja, hier wurde ein Ex-Agent angegriffen und seine Tochter. Ja, das ist eine Sauerei. Aber das ist ein anderer Maßstab als beispielsweise der Einsatz von Giftgas in Halabdscha (Irak) 1988 oder Chan Schaichun (Syrien) 2017. Die Konsequenzen allerdings wären episch, denn dann könnte (und müsste) England den Bündnisfall ausrufen und dieses Fass wollte 10 Downing Street ganz bestimmt nicht wegen eines übergelaufenen Agenten aufmachen. So oder so: Das Einschalten der OPCW wäre zu dem Zeitpunkt wenig sinnvoll gewesen.

Der Vorwurf, dass dieser Angriff keinen Sinn mache und niemandem helfe, spricht aus einer Sicht- und Denkweise, der ein pazifistisches Miteinander als Prämisse zugrunde liegt. V. Putin und sein Regierungskonstrukt sind nicht unangreifbar, insbesondere so kurz vor der Wahl nicht. Vermutlich liegen genügend Leichen im Keller, die den Ausgang der Wahl erheblich gefährdet hätten. Es ging genau darum zu verhindern, dass irgendjemand diese "Leichen" ausplaudert. Es ging nicht darum, in erster Linie dem Westen eine Warnung zukommen zu lassen. Ja, das war auch beabsichtigt, aber das war nicht der Punkt, um den es ging. Es ging um eine klare Botschaft an alle Dissidenten, Überläufer, Whistleblower und sonstige "Informanten", die irgendwelche schmutzige Wäsche über das System Putin verraten könnten und sich mit diesem Gedanken tragen bzw. trugen: "Wir kriegen Euch, egal wo ihr seid. Und nicht nur Euch, auch Eure Familie. Und Ihr könnt absolut gar nichts dagegen tun."

Darum war England so wichtig als Austragungsort. England hat mit Abstand die höchste Dichte an Kameraüberwachung. Die Rechte zur Informationsbeschaffung für die staatlichen Behörden reichen weit über das hinaus, was wir bereit sind zu akzeptieren. Die britischen Geheimdienste haben einen exzellenten Ruf und arbeiten dicht mit denen anderer Staaten zusammen. Wenn es gelingt, einen Überläufer hier auszuschalten und unerkannt zu entkommen, dann gelingt das überall. Die Adressaten waren deshalb nicht in erster Linie Politiker, die NATO oder sonst jemand. Die Wirkung auf diese Kreise wurde aber mit Sicherheit sorgfältig erwogen und durchdacht und die möglichen Konsequenzen durchgespielt.

Dazu passt auch, dass nach der Konsultation zwischen der EU und Vertretern der englischen Regierung die verabschiedete Erklärung auf eine direkte Beschuldigung Russlands verzichtet - wohl auf Initiative Griechenlands. Man teile aber die Einschätzung, dass die Russen Urheber des Anschlags waren, denn man habe keine andere plausible Erklärung.

Es bleibt spannend und egal, wie die Untersuchungen auch ausgehen mögen: Wollen wir wetten, dass bei den westlichen Geheimdiensten seit dem 4. März 2018 ein etwas strengerer Wind weht?

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