Samstag, 14. Oktober 2006

Bus fahren

Manchmal kommt man in die Situation den Öffentlichen Personennahverkehr nutzen zu wollen. Nicht etwa, weil es toll wäre oder besonders "Hipp" oder so, sondern einfach deshalb, weil es die bequemste Lösung ist. Gestern war das bei mir so eine Situation. Bus fahren ist nicht unbedingt aufregend, oder innovativ, allerdings wird mir diese spezielle Busfahrt noch lange in Erinnerung bleiben.

Seit einiger Zeit haben die Bushaltestellen hier so eigenartige weiße Markierungen, die es Sehbehinderten Personen erleichtern sollen, den Weg zum Bus und die optimale Warteposition zu finden. Die ist als extra großes Quadrat ausgelegt und die Busse halten normalerweise so, dass sich die Tür exakt auf Höhe dieser Markierung öffnet. Das hat was von praktisch und von sinnvoll und vor allem ist es bequem - und es ist jedes Mal wieder ein lustiges Wettspiel für die anderen Wartenden abzuwarten, ob sich Bus und am Bordsteinrand Wartender vielleicht diesmal treffen. Ein anderes beliebtes Spiel ist "welche Zeitrechnung gewinnt - Bus oder Fahrplan?"

So wartete ich auf den Bus, der dann zu meiner großen Überraschung absolut pünktlich kam. Misstrauisch hätte mich allerdings machen sollen, dass der Bus aus voller Fahrt in der Haltebucht hart in den Anker ging - um dann rund 5 Meter VOR der "Hier einsteigen" Markierung zum Stehen zu kommen. Man ist ja nicht so, und ich machte gerade meinen ersten Schritt, als der Bus wieder anfuhr. Innehalten, warten, den Bus an sich vorbeifahren sehen. Ich war nur ein klein wenig verwirrt, dass der Bus an mir und den anderen wartenden Passagieren vorbei wieder aus der Bucht heraus fuhr.

Irgendwas musste der Busfahrer jedoch bemerkt haben, denn der Bus hielt an, noch bevor die Haltebucht ganz verlassen war. Die Türen öffneten sich, was wir als eindeutiges Signal interpretierten einzusteigen. Sicher, es wäre bequemer gewesen, wenn der Bus ein paar Meter zurückgesetzt hätte und bestimmt hätten die Autofahrer auf der Hauptverkehrsstraße auch sehr viel mehr Verständnis für all das übrig gehabt, wenn der Bus wenigstens den Blinker in Richtung Straßenrand angemacht hätte und nicht andauernd signalisiert hätte "ich fahre jetzt los", aber hey, man kann sich auch echt anstellen.

Ich hatte das Glück als erster beim Fahrer zu sein. Dank meiner überragenden Kenntnisse über das Tarifsystem konnte ich direkt ordern. Höflich wie ich bin: "Tag, einmal Kurzstrecke, bitte." Keine Reaktion. Ich lächelte in ein irgendwie leeres, ausdrucksloses Gesicht. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Falsche Sprache? Wieder gesoffen und undeutlich genuschelt? Ich probierte es erneut. "Ein-Mal-Kurz-Strecke. Bitte!" Ich gab mir Mühe bei der Artikulation. Solch komplizierte Sätze verlangen absolute Sorgfalt. Zur Sicherheit schob ich ein "Für eins dreißig!" nach. Ich lächelte gewinnend und legte abgezähltes Geld auf die Kasse. Keine Reaktion.

Ich war etwas ratlos. Hatten Aliens den Busfahrer übernommen? Zwar sah ich keine Hirnschnecke und auch andere, unverwechselbare Anzeichen einer Übernahme durch Außerirdische waren nicht zu sehen, wie zum Beispiel zu viele Köpfe oder Antennen oder irgendwelche Schleimigen Tentakel, aber man kann ja nie wissen. Auch die anderen Fahrgäste, die noch bezahlen wollten, wurden langsam ungeduldig. Gerade als ich überlegte, ob ich nach einem Spiegel frage (für die "atmet der?" Kontrolle) oder ob es mehr Erfolg versprechen könnte, mit der Hand vor seinen Augen zu fuchteln, ging ein Rucken durch den apathisch-abwesenden Busfahrer. Als wäre nichts gewesen tippte er in die Kasse irgendwas ein und mit den Worten "Eine Kurzstrecke, bitte sehr!" bekam ich mein Ticket.

Etwas verwirrt machte ich mich auf den Weg in den Bus, um schon nach dem ersten Schritt innezuhalten. Auf dem unmittelbar ersten Sitzplatz links neben dieser von sadistischen Designern entworfenen, mit Hartgummi gepolsterten Testikelzubreischlag Schleuse saß ein Prototyp Mensch. Bestimmt zwei Meter zwanzig lang, geschätzte 200 Kilo schwer, Typ "Bulldozer". Wie sich dieser Mensch zwischen die Trennwand und die Sitzkante gequetscht hatte, hätte mich bestimmt beschäftigt, wenn er nicht den gemütlich-friedlichen Gesichtsausdruck zur Schau getragen hätte, den man irgendwie bei allen mit starken Medikamenten sedierten Psychopathen erwartet. Ich beeilte mich dort wegzukommen, bevor er mich bemerken könnte.

Die anderen Fahrgäste wurden abgefertigt und keiner wurde Opfer plötzlicher Hungerattacken des Riesen hinter der Scheibe. Der Bus fuhr los und ich begann anzunehmen, dass diese Episode eine kleine Merkwürdigkeit in der Geschichte des Busfahrens bleiben würde, als ich sah, wie der Bus mit voller Fahrt an der nächsten Haltestelle vorbeiraste. Wir drinnen starrten raus, die draußen starrten zurück. Winkend wurden sie schnell kleiner am Horizont. Wahrscheinlich hatten sie auch gerufen, aber den Busfahrer interessierte das irgendwie nicht. Hatte er etwa von den Pillen des Riesen genascht? Hatte der Riese am Ende eine Fernsteuerung für den Busfahrer und wir waren alle in seiner Hand? Ratlos sah ich mich um - ratlos und amüsiert starrten zwei junge Damen zurück: Gemeinsame Erlebnisse verbinden.

Die nächste Haltestelle. Der Bus hielt. Nicht schlecht, nur wollte irgendwie niemand aussteigen - es hatte auch niemand die Notbremse ausgelöst oder so - und der etwas verblüffte Autofahrer in der Ausfahrt sah es irgendwie auch gerade nicht ein, ausgerechnet jetzt auf seinen Pkw zu verzichten und nur deshalb seinen Tagesplan umzustellen, weil irgendein Busfahrer sonst Depressionen bekommen könnte. Nach wenigen Minuten schloss der Busfahrer die Türen und die Fahrt ging weiter. Irgendwie hatte ich Angst, dass das gerade so etwas wie die letzte Chance zur Flucht gewesen sein könnte, aber diese Befürchtung schien irgendwie niemand mit mir zu teilen.

Vorbei an der nächsten Haltestelle, an der niemand wartete und auch der niemand aussteigen wollte und entgegen meiner Erwartung der Bus auch nicht anhielt, bemerkte ich vorne im Bus eine Verdunkelung und eine Verschiebung der Schwerkraftverhältnisse. Der Riese hatte sich aus seiner Sardinenbüchse befreit und stapfte langsam und ohne auch nur einen Gesichtsmuskel zu bewegen den Gang entlang. Gut einen Meter von mir entfernt blieb er stehen und musterte Interessiert die Decke des Busses. Vorsichtig und um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen machte ich einen schnellen Seitwärtsschritt und brachte mehr Distanz zwischen uns. Ich halte mich für viel zu jung zum Sterben und als Zwischenmahlzeit will ich nicht enden. Ich drückte die Stopptaste für den Busfahrer.

Im Spiegelbild der Scheibe vor mir sah ich den Riesen, der sich mittlerweile intensiv für eine der von den Haltestangen herunterhängenden Griffschlaufen interessierte. Ich hörte ein schnüffelndes Geräusch. Schon etwas hektischer wünschte ich mir die Haltestelle herbei, nur die rote Ampel verhinderte das. Ein weiterer Schritt weg von dem Riesen. Vorsichtig sah ich in seine Richtung.

Hätte ich das bloß nicht getan! Unfähig zu glauben, was meine Augen sahen, wurde ich Zeuge, wie der Riese mit beinahe erotischer Hingabe mit seiner Zunge die Griffschlaufe liebkoste, alle Feinheiten ertastete, alle Nuancen der unendlichen Geschmacksvielfalt erkundete, um schließlich mit einem seligen Schlürfen die Schlaufe in den Mund zu nehmen. Ganz.

Kurz bevor die Panik endgültig die Kontrolle übernehmen konnte, hielt der Bus und die sich öffnende Doppeltür entließ mich in die Sicherheit der freien Wildbahn der Großstadt. Die Tür des Busses schloss sich hinter mir und ich beobachtete neidische Blicke derer, die drinnen geblieben waren und entsetzte Blicke, als der Riese die Schlaufe wieder freigab - und sich suchend im Bus umsah...

Zwar berichten die Medien heute nichts von einem Massaker im Bus und auch nichts von irgendwelchen entflohenen Psychopathen, aber trotzdem fühle ich mich das erste Mal in meinem Leben wirklich als glücklicher Mensch. Glücklich, einer sicheren Katastrophe entkommen zu sein.

2 Kommentare:

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