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Donnerstag, 24. Mai 2018

Geld ausgeben

Das russische Verteidigungsministerium hat für die Landesverteidigung weitere rund 20mrd Euro ausgegeben, teilte Präsident Putin in seiner Eröffnungsrede am Dienstag bei einem Treffen mit führenden Köpfen des Verteidigungsministeriums und der Verteidigungsindustrie mit. Die TASS berichtet, dass dieses Geld in Verträge über 160 Flugzeuge und Hubschrauber, 10 Schiffe (ohne U-Boote), 14 "Weltraumsysteme", 500 Raketen- und Artilleriesysteme fließt. Insbesondere sollen weitere Sukhoi-34, 35S und 30S, sowie Mi-28, 35M und Ka-52 angeschafft werden. Die Luftabwehr wird durch weitere S-400 und Pantsir-S neuester Bauart verstärkt.

Man darf darüber streiten, ob diese Ausgaben als "Aufrüstung" oder "Modernisierung" anzusehen sind. Angesichts von Staatseinnahmen in Höhe von 216,5mrd Euro und einem Defizit von 28mrd Euro (Stand 2017), sind diese zusätzlichen Ausgaben mindestens bedenklich. Zum Vergleich: Deutschland lag im selben Zeitraum bei 1356mrd Euro Staatseinnahmen und einem Überschuss von 21,3mrd Euro, gab für "Verteidigung" insgesamt aber "nur" 37mrd Euro aus.

Parallel dazu hat sich die EU darauf geeinigt, 2019 und 2020 europaweit 500mil Euro über das European Defence Industrial Development Programme (EDIDP) in die europäische Rüstungsindustrie zu investieren. Ein Sprecher der Europäischen Kommission sagte, dass es zentrales Ziel dieser Investition sei, die europäische Rüstungsindustrie "wettbewerbsfähiger und innovativer" (sic!) zu machen. Dabei sollen insbesondere Kooperation und gemeinsame Entwicklungsanstrengungen gefördert werden.

Dabei ist es eine interessante Randnotiz, dass die Größenordnung der europäischen Rüstungsindustrie beziffert wurde. Der Umsatz ("turnover") betrug 2014 noch 97,3mrd. Euro, mit 500.000 direkt und weiteren 1,2 Millionen indirekt abhängigen Arbeitsplätzen, ging seit dem aber zurück. Von 2021 bis 2027 plant die EU weitere 13mrd Euro für den neu geschaffenen European Defence Fund bereitzustellen.

EU Kommissar für innere Märkte, Elzbieta Bienkowska, bezeichnete diese Investition als "Teil unserer größeren Anstrengungen eine ernstzunehmende Verteidigungsunion aufzubauen, die ihre Bürger beschützt. Mit diesem Abkommen bauen wir die strategische Autonomie der EU auf und verstärken die Wettbewerbsfähigkeit der Verteidigungsindustrie der EU." Krasimir Karakachanov, gegenwärtig amtierender Präsident des Europäischen Rats, ergänzte, dass dieses Programm es der EU zum ersten Mal ermögliche, eigene Verteidigungsfähigkeiten aufzubauen.

Offensichtlich ist bei der sonst etwas trägen EU angekommen, dass man sich auf den Großen Bruder aus Übersee nicht mehr verlassen kann und deshalb ein wenig Action angesagt ist...


(Bild: Vitaly V. Kuzmin / Wikimedia)

Freitag, 18. Mai 2018

Wie gefährlich ist die Lage im Nahen und Mittleren Osten?

Als meine Bundeskanzlerin bei der Verleihung des Karlspreises an Emmanuel Macron sagte: "Die Eskalationen der vergangenen Stunden zeigen uns, dass es wahrlich um Krieg und Frieden geht", hielten das etliche für eine medienwirksame Übertreibung. Das war es wahrscheinlich nicht. Um die Gefahr zu begreifen, lohnt es sich vielleicht, die Situation im Nahen und Mittleren Osten ein wenig zu reflektieren.

Die Tatsache, dass US Special Forces heimlich dem Saudischen Militär bei Operationen gegen die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen im Jemen helfen, war bereits ein deutlicher, letztendlich aber auch nur ein weiterer Hinweis darauf, dass Trump bewusst auf einen neuen Krieg am Golf zu steuert.

Nach offizieller Lesart endeten die Kriege '91 und '03 mit "Siegen" der USA. Allerdings wurden durch diese "Siege" neue Formen und Ausmaße des Terrorismus losgetreten, Millionen Menschen zu Flüchtlingen und der Mittlere Osten dramatisch destabilisiert.

Ob deshalb auch wirklich von "Siegen" gesprochen werden darf, ist zu Recht umstritten. Ein dritter Golf-Krieg, der sich speziell gegen die Führung des Iran richten wird, wird ohne Frage mit einem weiteren "Sieg" der USA enden - wahrscheinlich aber mit weitaus dramatischeren Folgen, als die vorangegangenen.

Der Iran hat eine - verglichen mit den USA - zwar schwache, trotzdem militärisch modern ausgerüstete, motivierte und erfahrene Armee. Eine militärische Konfrontation zwischen dem Iran und den USA wird auch deshalb tendenziell schwieriger (und härter) als im Irak, gegen ISIS oder in Afghanistan. Der Iran ist weitaus moderner ausgerüstet, geografisch ein Albtraum und größer als Irak und Afghanistan zusammen (viereinhalb Mal so groß wie Deutschland). Letztendlich wird das den Konflikt verlängern, aber es wäre vermessen, dem Iran letztendlich einen Sieg über die US-Truppen zuzutrauen.

Ein Dritter Golf-Krieg verliefe wahrscheinlich nicht ganz nach dem "bewährtem" Muster, denn der Iran verfügt über bemerkenswerte Mittel und Methoden, Angreifern das Leben schwer zu machen. Wenn die USA in den Krieg zögen, hätten sie zwei Optionen: Invasion oder militärisch unterstützte wirtschaftliche Strangulation. Egal wie der Krieg auch immer verläuft, schon das geografische Ausmaß des Feldzuges und die Anzahl der involvierten Akteure stellt die beiden vorherigen Golf-Kriege in den Schatten. Ob das Ziel, einen Regimewechsel zu erzwingen, militärisch erreicht werden kann, ist mehr als fraglich.

Wenn der Iran angegriffen würde und der Iran alle Optionen ausschöpft - warum sollte er auch nicht? - könnte sich das Schlachtfeld im Extremfall von den Küsten des Mittelmeeres bis zur Straße von Hormus erstrecken. Gegenüber stünden sich in dem Fall auf der einen Seite die Allianz aus Iran, Assad in Syrien, Hisbollah im Libanon, diverse Milizen im Irak und im Jemen. Dem stünden auf der anderen Seite die USA, Israel, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (UAE) gegenüber. Sollte der Konflikt in Syrien aus dem Ruder laufen und Tartus und / oder Khmeimim ernsthaft gefährdet sein, würde sich wahrscheinlich Russland einmischen. Auf welche Seite sich das stinkreiche Katar schlägt, bleibt ebenso abzuwarten, wie die Reaktionen in Afghanistan und Pakistan.

Alle Parteien haben sich massiv mit modernsten Waffen ausgerüstet. Jeder Konflikt wäre entsprechend blutig - für alle Beteiligten. Auch die USA müssten sich auf Verluste einstellen, denn insbesondere der Iran besitzt einige moderne Waffensysteme russischer Produktion und hat selber eine ernstzunehmende Rüstungsindustrie, die wiederum Assad mit Waffen und wahrscheinlich die Hisbollah mit Raketen und Munition versorgt hat.

Die USA wiederum haben Israel, Saudi-Arabien und die UAE seit Jahren mit milliardenschweren Rüstungslieferungen ausgestattet und Trump hat versprochen, diese Lieferungen sogar noch auszuweiten. Sobald die USA den Iran angreifen, kann der Konflikt mit Leichtigkeit eskalieren, weil jeder in der Gegend mehr als einen selbsterklärten "Grund" dafür hat, gegen irgendjemanden loszuschlagen und eigentlich nur auf die "richtige" Gelegenheit wartet. Nicht zuletzt, weil USA und Iran gegenseitig erklärte Feinde sind.

Die instabile Lage im Irak könnte endgültig kippen, weil die dem Iran verschriebenen Shia-Milizen sofort gegen die USA losschlagen würden. Die vom Iran materiell und finanziell unterstützte Hisbollah im Libanon würde Israel angreifen, auch um deren Kräfte zu binden. Im Jemen würden die vom Iran unterstützten Milizen die Einheiten Saudi-Arabiens angreifen, um die dort zu binden. Assad wiederum könnte parallel zur Hisbollah gegen Israel vorgehen. Einerseits, um sich die Golan Höhen zurückzuholen, was Israel in eine gefährliche Lage brächte, die Israel nicht zulassen kann. Andererseits auch, um das im syrischen Bürgerkrieg gefestigte Bündnis mit dem Iran einzuhalten und sich bei Israel für diverse Aktionen der Vergangenheit zu revanchieren. Was parallel dazu in Gaza und im Westjordan los wäre, kann man nicht mal erahnen.

Das Resultat einer solchen ausufernden Eskalation wäre kaum auszumalen. Neben den unmittelbaren militärischen Zerstörungen und Verlusten würden gewaltige Flüchtlingsströme in Gang gesetzt. Dagegen wären die bisherigen Flüchtlingsströme aus Syrien ein laues Lüftchen. Der Öl-, Gas- und sonstige Export aus der Region käme quasi zum Erliegen, was unmittelbare Auswirkungen auf die Ölpreise hätte. Bereits das Risiko dieser Eskalation ist schon heute an den Tankstellen bei uns abzulesen. Unsere Exporte in diese Regionen wären ebenso betroffen. Der Schiffsverkehr um die Arabische Halbinsel herum wäre zumindest zeitweise sehr riskant und würde wahrscheinlich ebenfalls stark eingeschränkt. Der Luftraum wäre komplett zu, was wiederum den Flugverkehr in Richtung Indien und Fernost mindestens beeinträchtigen würde. Das alles hätte massive Auswirkungen auf den Welthandel.

Hinzu kämen die unmittelbaren geopolitischen Folgen im größeren Rahmen. Naheliegend sind die nach außen sichtbaren (und deshalb eher symbolischen) Krisensitzungen des UN-Sicherheitsrates und Konflikte auf höchster diplomatischer Ebene. Russland hat sich recht deutlich erkennbar auf die Seite des Iran gestellt. Im Falle einer Eskalation würde das ohnehin angespannte Verhältnis zu Russland weiter belastet.

China war schon früher auch eher auf Seiten des Iran als auf der der USA. Seit den jüngsten Steuern gegen China und Aktionen wie die Nummer mit ZTE ist Xi sicherlich nicht unbedingt Washington gewogen. Auch hier wäre im Falle einer Eskalation kaum mit einer Verbesserung des Verhältnisses zu den USA bzw. zum Westen insgesamt zu rechnen.

Zu welchen Maßnahmen Moskau und Beijing sich letztendlich genötigt fühlen, ist völlig unabsehbar, aber ignorieren werden beide das sicher nicht. Wer sich in welchem Umfang wann und wo und wie beteiligt, ist kaum vorherzusagen. Aber sollten die USA wirklich angreifen, wäre es deshalb keine Frage des "ob", sondern des "wann" und in welchem Umfang die Lage eskaliert.

Sollten die USA nicht angreifen und es gleichzeitig der Koalition aus Europa-Russland-China nicht gelingen, das Abkommen irgendwie zu retten, wird Teheran mit dem endgültigen Ende des Abkommens mit Sicherheit sofort mit dem Bau einer eigenen Atombombe beginnen. Dass Teheran weiß, wie das geht und das theoretisch auch kann, steht außer Frage. Das war ja der Auslöser für das Abkommen. Sobald aber der Iran (wieder) damit anfängt, würde auch Saudi-Arabien jede Hemmung fallen lassen und ebenfalls sofort nach der Bombe greifen. Das wiederum würde eine Kette von Ereignissen und Reaktionen auslösen, auf die niemand im Augenblick vorbereitet ist. Die ewige Nordkorea-Krise mag ein ganz oberflächlicher Eindruck von den zu erwartenden Dimensionen sein.

All das wurde bislang verhindert durch dieses ganz bestimmt nicht perfekte Abkommen mit dem Iran. Aber selbst ohne eine sich abzeichnende Eskalation zwischen Iran und USA markiert das Ende des Abkommens mit dem Iran einen Paradigmenwechsel in der US-Außenpolitik in der Region. Die sich abzeichnende Achse USA-Israel-Saudi-Abrabien stellt nicht nur einen fundamentalen Wechsel der geopolitischen Ausrichtung der USA dar.

Bislang ging es den USA eher um Öl und Gas und weniger um lokale Akteure. Da die USA inzwischen nur noch knapp 30% ihres Öls importieren, davon etwas mehr als die Hälfte davon aus der Region. Die Carter Doktrin diente der Sicherstellung der Versorgung der USA mit Öl und war bisher Grundlage der Androhung von Gewalt gegen jeden in der Region, der das gefährden wollte. Heute geht es eher um die geopolitische Vorherrschaft in der Region. Dieser Wettstreit dreht sich um Saudi-Arabien und Iran, die sich beide jeweils als Mittelpunkt der arabischen Welt verstehen, die Saudis für die Schiiten, der Iran für die Sunniten.

Trump mag Mohammed Bin Salman offenbar und Israel, speziell Netanjahu, sowieso. Israel wiederum nähert sich auch mehr oder weniger intensiv den Saudis an. Den Iran mag Trump dagegen eher nicht so. Israel will schon lange gegen den Iran gezielt losschlagen. Saudi-Arabien hat auch sehr spezielle Ansichten über den Iran.

Ja, Trumps Rückzug aus dem Abkommen ist nachvollziehbar. Auch das Ziel, im Nahen und Mittleren Osten neue geopolitische Fakten zu schaffen ist offensichtlich und nachvollziehbar. Ob allerdings allen klar ist, wie heikel die Nummer tatsächlich ist, bezweifle ich.


(Bild: Wikimedia)

Montag, 7. Mai 2018

Befristete Verträge und Glaubwürdigkeit

Früher, noch bevor von blühenden Landschaften die Rede war, es noch Eckkneipen und Gewerkschaften gab, da gab es noch Rente und man arbeitete sein Leben lang für ein und denselben Arbeitgeber. Der unbefristete Arbeitsvertrag war die Norm. Dann kamen das Gendering, die Krise in der Pflege und Donald Trump und zack: Alles anders.

Befristete Arbeitsverträge und Leiharbeiter sind in der Masse eingeführt worden, um den Firmen das Loswerden lästiger, nur temporär benötigter Arbeitskräfte zu erleichtern. Es war zwar "angeblich" nicht gewollt, dass diese arbeitsmarktpolitischen Instrumente zur Regel werden, aber hey, das ist wie mit Sex und Schwangerschaft. Immer kann man es nicht verhindern.

Jetzt wurde bekannt, dass die Post an die Zustellkräfte nicht nur einen verdammt geringen Lohn zahlt, sondern auch noch knüppelharte Bedingungen stellt, um im Anschluss an einen befristeten Arbeitsvertrag einen festen dauerarbeitsvertrag zu erhalten. Der Furor in den Medien und der Politik war schon sehenswert. Die Post reagierte entsprechend pikiert.

Mitarbeiter dürfen in zwei Jahren nicht häufiger als sechsmal krank gewesen sein dürfen, beziehungsweise nicht mehr als 20 Krankheitstage angehäuft haben sollen. Sie dürfen nicht mehr als zwei Unfälle verschuldet haben, bei denen maximal 5000 Euro Schaden entstehen. Und sie dürfen in drei Monaten nicht mehr als 30 Stunden länger für ihre Touren gebraucht haben als vorgesehen.

Die Post und auch von den Medien befragte Arbeitsrechtler stellen fest: Und? Das ist völlig legal. Die Politik hingegen findet es "unerhört" und will Druck auf die Post machen - obwohl die bereits festgestellt hat, dass sie dieses Vorgehen von anderen Firmen übernommen hat. Die Politik hackt auf der Post rum, wohl weil man indirekt noch zu 20% an der Bude beteiligt ist und man irgendwie Schiss hat, doch hintenrum verantwortlich gemacht werden zu können.

Genau das ist das Perfide. Finanzminister Olaf Scholz wirft seinen Handschuh in den Ring und will mal mit der Post reden. Warum nur mit der Post? Da geht es zwar um ein paar tausend befristete Verträge, aber warum geht die Politik nicht die Ursache an? Das Problem ist nämlich nicht, dass die Post das macht. Das Problem ist, dass es erlaubt ist. Wäre es verboten, würde sich schlagartig einiges ändern, wetten?

So richtig spannend finde ich aber, dass sich die Politiker schockiert darüber zeigen, welche Regeln an die Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gekoppelt sind. Ich mein, mal ehrlich: Immerhin gibt es da klare, für jeden nachlesbare Bedingungen. Frag doch mal die Leute die an Deutschlands Unis arbeiten, welche Bedingungen für sie gelten, um in unbefristete Arbeitsverhältnisse übernommen zu werden. Oder bei Lieferdiensten. Oder bei Automobilherstellern.

Nein, da will die Politik nicht ran, denn das würde den Wirtschaftsstandort Deutschland "gefährden", weil die Firmen ihre Tagelöhner dann nicht mehr nach Bedarf wieder wegwerfen könnten. Es geht ja beim Arbeitsmarkt schließlich nicht um die Arbeitskraft. Es geht um die Firma und deren ausgeschüttete Dividende.

Da die meisten das ahnen und spüren, bleibt auch die Aufregung der Massen aus: Es wird sowieso nichts passieren. An den Bedingungen wird ein wenig geschraubt, vielleicht wird noch ein wenig herumgeklagt, aber insgesamt wird sich nichts verändern. Warum also aufregen?

Falls sich Politiker fragen, warum sie ein Glaubwürdigkeitsproblem haben: An diesem Beispiel lässt es sich hervorragend zeigen...

Montag, 30. April 2018

Warum hängt die Bundeswehr so an ihren Tornados?

Es ist traurige Wahrheit, dass unsere Luftwaffe mit nahezu antiquarischem Fluggerät hantieren muss. Während andere Länder ihre Luftstreitkräfte längst mit Fliegern der 5. Generation ausstattet, stehen bei uns Flieger der 3. Generation aus den 60er Jahren im Hangar. Mit zunehmenden Problemen bei der Beschaffung von Ersatzteilen. Dazu kommen Probleme, dass manche neue Technik sich einfach nicht mehr in diese Flieger einbauen lässt, oder wenn doch, dann nur mit teils horrendem Aufwand an Umbauten, Anpassungen, Improvisation, Tüdeldraht und Kaugummi.

Damals waren die Tornados klasse. Aber inzwischen kann unsere Luftwaffe jeden der Flieger nur noch rund vier Monate im Jahr überhaupt einsetzen. Die restliche Zeit geht für Wartung und Instandhaltung drauf. Was die Ausbildung der Piloten angeht, hinken wir inzwischen auch schon gut drei Monate hinterher. Von den Fliegern, die wir haben, sind - mit viel Glück - überhaupt nur die Hälfte einsatzfähig und wahrscheinlich 70% überhaupt flugfähig.

Stellt sich die Frage: Warum hängen wir eigentlich so an den Dingern? Der Tornado - ursprünglich entwickelt und gebaut von Panavia, einem Konsortium italienischer, deutscher und englischer Flugzeugbauer - ist ein Mehrzweckflieger. Zwar geistert er meistens wegen seiner Aufklärungsflüge durch die Presse und da kann der Flieger auch wirklich was. Aber eigentlich ist das gar nicht der Hintergrund, warum der Flieger heute noch bei uns im Einsatz ist. Alternativen gäbe es ja schon einige.

Ein zentrales Konzept der NATO ist die MAD-Doktrin. MAD steht in diesem Fall für "mutually assured destruction", was sich ungefähr übersetzen lässt mit "gegenseitig zugesicherte Vernichtung". Dass "mad" im englischen auch "wahnsinnig, verrückt, bekloppt" bedeutet, ist wahrscheinlich kein Zufall. Innerhalb der NATO gilt aber auch der Grundsatz der gegenseitigen Unterstützung "im Falle das". Zu Ende gedacht bedeutet das auch die Fähigkeit, einem NATO-Partner im Extremfall nuklear beistehen zu können.

Selber haben wir keine eigenen Kernwaffen. Aber die USA haben welche und die würden uns diese im Krisenfall sozusagen "überlassen". Dafür gibt es auch einen Vertrag, den sogenannten "nuclear sharing pact". Aus dem geht wiederum hervor, dass sich Deutschland dazu verpflichtet hat, die nuklearen Abschreckungsfähigkeiten der USA aufrechtzuerhalten. Aus dem Grund sind in Büchel atomare B61-Bomben eingelagert. Je nach Quelle schwankt die Zahl zwischen "10" und "mehr als 20". Die wiederum kann die Bundeswehr aber ausschließlich mit ihren Tornados einsetzen.

Nun sind wir ja nicht gerade die größten Fans von Kernwaffen und Atomkraft generell. Es liegt nahe zu sagen: "Weißte was? Mach selbst. Wir sind 'raus aus der Nummer." Überraschung: Da sind wir nicht die Ersten. Schon unsere Altvorderen hatten diese Idee, als es überhaupt noch um die grundsätzliche nukleare Aufrüstung ging, damals, im Kalten Krieg. 1954 hatte Konrad Adenauer stellvertretend für die Bundesrepublik verkündet, nichts mit Atomwaffen zu tun haben zu wollen.

Das fand man in den USA nicht ganz so prickelnd. Deshalb setzte J. F. Kennedy am 21.11.1961 Konrad Adenauer die Pistole auf die Brust: Wenn ihr bei eurer Haltung der Totalverweigerung bleibt, dann ziehen wir alle unsere Truppen aus Europa ab und überlassen euch den Russen. Das Ergebnis ist bekannt. Deutschland ist zwar dem Atomwaffensperrvertrag am 02.05.1975 beigetreten, aber die Bomben der Amis liegen trotzdem bei uns rum. Und bei den Belgiern. Und den Holländern. Und den Italienern. Und den Türken. Über letzteres wird noch mal zu reden sein.

Wie John Kornblum, langjähriger Diplomat und Ex-Botschafter der USA in Berlin, die Tage erst bestätigte, waren US-Diplomaten seitdem regelmäßig damit beschäftigt, den US-Regierungen zu erklären, wie wichtig es sei, dass die USA in Europa blieben und eben nicht abziehen, weil die Vorteile für die USA die Nachteile überwiegen. Und das, obwohl den USA sehr wohl bewusst ist, dass sie draufzahlen, weil sich alle in Europa darauf verlassen, dass die Sicherheitspolitik durch die Amerikaner gewährleistet wird und Europa deshalb eigentlich auch keine eigene Sicherheitspolitik braucht.

Die NATO ist das transatlantische Bündnis. NATO steht für "North Atlantic Treaty Organisation". Es ist eine Organisation für transatlantische Verträge aller Art. Nicht nur militärische, sondern eben auch Handelsverträge, Forschungsabkommen und so weiter. Das ist letztendlich der große Schirm, unter dem die ganzen Abkommen zwischen Deutschland bzw. Europa und den USA entstanden sind.

Die NATO basiert aber eben auf der Idee der Gegenseitigkeit. Wenn der Zusammenhalt durch die NATO wegfällt, dann sind all die Handelsabkommen infrage gestellt, die unseren Wohlstand letztendlich garantieren. Das ist im Prinzip so ähnlich wie beim Brexit mit den Engländern, nur dass wir in diesem Fall das tun, was die Engländer in Bezug auf die EU getan haben, nämlich sich die Rosinen rauspicken, ohne dafür etwas an Gegenleistung bringen zu wollen.

Ist denn es denn überhaupt notwendig, sich militärisch gegen irgendeine Bedrohung wehren zu können? China hat doch erklärt, sich nicht ausdehnen zu wollen. Und die Russen sind doch eigentlich auch total friedlich. Und der Rest tut uns doch auch nichts.

Es stimmt, dass sich die Bedrohungslage in den letzten Jahrzehnten stark verändert und abgeschwächt hat. Das war aber letztendlich auch ein Verdienst der NATO und der Sicherheitspolitik der USA. Wenn die USA nicht mit ihren Truppen rund um den Globus immer wieder - mit wechselndem Erfolg - eingegriffen hätte, die Welt wäre längst nicht so friedlich, wie sie im Moment zu sein scheint. Scheint deshalb, weil wir stets nur einen Schritt von der globalen Katastrophe entfernt sind.

In Afrika gibt es massive Probleme, der Nahe Osten ist noch immer ein einziges Problem, Irak und Afghanistan sind nach wie vor weit von irgendeiner Form von Stabilität entfernt. Pakistan ist genauso ein Thema für sich. In Asien werden die Probleme auch eher größer als kleiner. Myanmar, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka sind Staaten, in denen es nahezu permanent brodelt und bewaffnete Konflikte beinahe an der Tagesordnung sind.

Immer wieder entwickeln sich Staaten in eine schwierige, besorgniserregende Richtung, selbst direkt vor unserer Haustür. Siehe Ungarn oder die Türkei. Andere Staaten setzen sich mal eben über internationale Konventionen hinweg und annektieren ganze Staaten. Siehe Krim oder Ukraine. Wieder andere Staaten spielen ganz offiziell mit der Idee, sich atomar zu bewaffnen oder haben das sogar schon getan. Siehe Nordkorea, Iran, Saudi-Arabien, China, Israel, Pakistan.

Die Frage ist berechtigt, ob uns das etwas angeht oder nicht und ob "wir" uns da einmischen sollten. Wenn die USA nur noch auf ihre eigenen Interessen blicken, wer tritt dann für unsere Interessen ein? Kann man ja bei Bedarf alles verhandeln, wenn's uns betreffen sollte.

Klar. Die Idee ist toll. Hat ja hervorragend geklappt bisher im Nahen Osten, in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in Libyen, im Sudan, in Mali, im Kongo, im Jemen, in Ex-Jugoslavien... und wo "wir" sonst überall noch als die großen Friedensverhandler vor dem Herrn aufgetreten sind. Es scheint, dass sich manche einen gepflegten Dreck darum scheren, was wir meinen.

Wir sind vielleicht davon überzeugt, dass alle Konflikte mit Verhandlungen gelöst werden können. Aber es gibt tatsächlich Leute, denen ist es scheißegal, was wir meinen. Die interessieren unsere Interessen überhaupt nicht, im Gegenteil. Die finden es sogar geil, wenn es uns schadet. Den IS schon vergessen? Oder die Taliban? Oder glaubt wirklich irgendjemand, wenn sich die USA aus dem asiatischen Pazifikraum verzögen, dass sich China dann mit diplomatischen Verhandlungen daran hindern ließe, Taiwan einzusacken? So wie sich Russland durch Verhandlungen dazu hat bewegen lassen, die Krim wieder freizugeben?

Nein, leider ist die Welt noch längst nicht so weit, dass wir auf Militär verzichten können. Und weil wir das nicht können - oder meinetwegen zum Teil auch gar nicht wollen - sind wir in Europa und speziell in Deutschland auf das transatlantische Bündnis angewiesen, denn alleine kriegen wir das niemals in den Griff. Dazu braucht es nicht mal eine elaborierte Statistik. Dazu reicht ein Blick auf die in der Tagespresse nachlesbaren Berichte über die Bundeswehr. Und damit sind wir dann wieder beim Tornado.

Kurzgefasst: Ohne Tornado keine Beteiligung Deutschlands am "nuclear sharing pact". Ohne dieses Abkommen keine Amis in Deutschland. Ohne Amis in Deutschland kein amerikanischer Beistand für Deutschland irgendwo auf der Welt und damit Ende der NATO und ohne NATO ist alles doof.

Wenn der Tornado aber so kaputt - weil alt - ist, warum kauft man dann nicht was Neues? Genau das ist das Problem. Was denn kaufen? Im Moment gibt es nicht viele Optionen. Es gäbe von den Amerikanern die F15, die F/A18 und die F35. Und dann gäbe es noch den Eurofighter / Typhon. Oder man könnte auch was Neues entwickeln.

Wenn Deutschland sich F15 oder F/A18 kauft, dann ist das bestenfalls eine Übergangslösung, denn die Flieger sind zwar bewährt, aber eben auch nicht gerade "neu". Selbst die USA denken schon länger über Nachfolger dieser Flieger nach, eben die F22 bzw. F35. Würde Deutschland aber diese Flieger einkaufen, wäre die europäische Luftfahrtindustrie quasi am Ende. Die überlebt zu einem nicht geringen Teil durch die Zusammenarbeit beim Eurofighter. Ohne den Eurofighter würden Firmen und Fachkräfte abwandern - siehe Schiffbau, Computer, Handys, etc. - und das wiederum macht sich in den Wirtschaftssystemen der einzelnen Länder gar nicht gut.

Deshalb haben Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und ihre französische Kollegin Florence Parly (PS) auf der auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung in Berlin die Tage ein Abkommen über die Entwicklung und der Bau eines gemeinsamen Kampfflugzeugs unterschrieben. Diesen Flieger gibt es aber noch nicht und damit auch keine Alternative zum Tornado. Und deshalb muss die Bundeswehr auch weiterhin "irgendwie" die Vögel im Betrieb halten. Um jeden Preis.

Montag, 16. April 2018

Günstig ist eben manchmal wirklich Scheiße

Kosmetika sind teuer. Ich will gar nicht über Sinn und Unsinn der manche Karosseriewerkstatt in den Schatten stellenden Utensiliensammlungen debattieren, die in bemerkenswert geringvolumigen BuKos allabendlich durch die Clubs und Bars der Republik geschleppt werden. Immerhin: Bei manchen dieser Mobilwerkstätten ist ein Touchieren des nebenan geparkten Autos kein Grund, die Versicherung zu belästigen: Fünf Minuten mit dem Täschchen hantiert und schon ist alles so gut wie neu - oder besser.

Allerdings ist das Zeug teuer. Alter. Was ich Schnappatmung bekommen habe, während ich meine Holde begleitete, als sie ihre Grundausstattung erneuern wollte. Oder musste. Der Umgang mit dem Kunden als solchen ist in diesen Läden ja schon mindestens "spannend". Ich kam mir schon so vor wie beim Arzt und hab intuitiv nach meiner Krankenkassenkarte und der aushängenden Liste der IGEL-Tarife gesucht. Erstere wurde aber nicht akzeptiert, zweitere hatte Telefonbuchformat. Als aber klar war, dass meine Frau Grund des Besuchs war, wurde ich in irgendeiner Ecke in der Nähe der Kasse geparkt. Warum hat Douglas eigentlich kein Bällebad? Oder wenigstens einen Biertresen mit Grill? Ich sehe eine Marktlücke... Egal.

Angesichts der aufgerufenen Preisen, die selbst ich für wenige Gramm Spachtelmasse, Grundierung und Farbe für illusorisch gehalten habe, verwundert es mich nicht, dass die Suche nach günstigen Alternativangeboten mehr als naheliegend ist. Ebenso naheliegend ist es deshalb, dass es Anbieter gibt, die diesen Bedarf mit entsprechend ausgepreisten Angeboten decken wollen.

Die Qualitätsunterschiede sind selbstredend. Wer schon mal selber sein fünftüriges Wohnklo neu bepinselt hat, weiß, dass Farbe für 10 Euro pro Eimer längst nicht leistet, was das Konkurrenzangebot für 40 Euro kann (Nein, ich habe wirklich keinen Bock bei Deiner Renovierung zu helfen. Hab ich genug von. Ehrlich. Danke der Nachfrage.) Trotzdem sollte ein gewisses... ich sag mal vorsichtig Mindestmaß an Qualitätsanspruch auch bei noch so... günstigen... Produkten zu erwarten sein. Dachte ich.

In Los Angeles wurden jetzt ein paar Läden von den lokalen Cops auf den Kopf gestellt und ausgeräumt. Dort wurden gefälschte Kosmetika aus dem Verkehr gezogen, die im hohen Maße mit Bakterien und tierischen Fäkalien kontaminiert waren. LAPD beschlagnahmte Waren im Wert von 700.000US$ in 21 Geschäften. Zu den beschlagnahmten Marken gehörten unter anderem Produkte von "Kylie Cosmetics", "Urban Decay", "MAC" und "NARS". Meine Frau meinte, das wären alles "Top Notch" Marken. Ich hab da ja pauschal keine Ahnung von.

Die gefälschten Produkte waren äußerlich kaum von den Originalen zu unterscheiden, abgesehen vom Preis, der weit unterhalb des regulären Marktpreises lag. "Weit" heißt in diesem Zusammenhang 50-75%. Sechs Geschäftsinhaber wurden verhaftet, andere erhielten Unterlassungsklagen.

Ernsthaft. Vorsichtig sein. Lieber 'nen Euro mehr in 'nem renommierten Markenladen auf den Tisch legen, statt 10 Euro sparen und sich dafür mit Hundescheiße angereicherten Lippenstift...

Andererseits... 20 Euro für 10 Gramm Hundescheiße? Versuchen kann man es ja mal...

Mittwoch, 11. April 2018

Der Staat - Das Ende einer Epoche?

In mehr als einer Diskussion habe ich die Frage gestellt, worin das größere Konzept des Nationalstaates besteht. Die mir gegebenen Antworten waren stets vage, ausweichend und meistens rückwärtsgewandt. "Das war schon immer so, das haben wir noich nie so gemacht, da könnte ja jeder kommen". Stichworte wie "gesellschaftlicher Zusammenhalt", "Schutz der Bürger", "Identität", "Regierbarkeit", "Heimat", "historische Identität" oder auch "historischer Kontext" fielen immer wieder. Die Kernfrage wurde mir aber nie beantwortet. Ich stelle mir heute mehr denn je die Frage, ob wir nicht schon längst in einer Phase sind, die das System der Nationalstaaten beenden und durch ein neues Konzept ablösen wird.

Diese These treibt mich seit meiner Studienzeit um, trat dann aber angesichts einer Menge anderer Themen ("Das Leben passiert") wieder in den Hintergrund. Seit ich neulich in einer Diskussion mit Ronan Harris über einen Umweg wieder auf diese Fragestellung zurückkam, lässt sie mich nicht mehr in Ruhe. Egal welcher Staat oder welche Regierung auch herangezogen wird, nationale Politik nimmt zunehmend absurdere Züge an. Selbst Humorfacharbeiter und exzentrische Autoren sehen sich von der politischen Realität mit Blinker und Lichthupe links und rechts überholt.

Die Alltagspolitik zum Beispiel in den USA, England, Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien wirkt geradezu grotesk. Ganze politische Systeme erwecken den Eindruck, in erster Linie mit der Zerlegung ihrer selbst beschäftigt zu sein. El País urteilte neulich, dass die Rechtsstaatlichkeit, das demokratische System und sogar die Marktwirtschaft in Frage gestellt sind. Le Monde stellt fest, dass der "beschleunigten Zersetzung" des politischen Systems auch nach den letzten Wahlen kaum Einhalt geboten wird. In der Huffington Post wird der Zusammenbruch des Establishments und die Invasion der Barbaren beklagt. In Deutschland übernehmen Neofaschisten die Rolle der Oppositionsführung und Leitung zentraler parlamentarischer Kontrollgremien. Und das sind nur eine Handvoll Beispiele aus dem Westen.

Afrika, Naher und Mittlerer Osten, Asien, Südamerika... In allen politischen Systemen dieser Regionen sind Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit, ständig nachlassende Effektivität des Systems, Korruption, schwindender sozialer Zusammenhalt, zunehmende Autokratie, schwindende Demokratie Dauerthemen. Mexiko steht im Krieg gegen die Drogenbarone seit Jahren nahezu machtlos da und niemanden im Ausland interessiert es. In Myanmar wird eine komplette Volksgruppe aufgrund ihres Glaubens gewaltsam vertrieben und niemanden im Ausland interessiert es so richtig. In Syrien finden seit Jahren mindestens sieben verschiedene Kriege gleichzeitig statt und es wird als gottgegeben hingenommen. In Brasilien toben sich private Goldschürfer und landwirtschaftliche Großkonzerne an Natur und Ureinwohnern aus und - erraten - niemanden interessiert es. Darüber hinaus sind Sozialsysteme weltweit auf dem Rückzug. Karitative Organisationen versuchen verzweifelt, irgendwie das von den sich aus ihrer Verantwortung zurückziehenden Regierungen hinterlassene Vakuum auszufüllen und müssen letztendlich angesichts der Größe der Aufgabe scheitern. Das Ding mit der Tafel Essen war eigentlich ein deutliches Signal an uns.

Die unmittelbare, reflexartige Abwehrreaktion scheint darin zu bestehen, sich hinter dem Scheinargument der Protestwahl versteckend, wieder autokratischen Systemen und autoritären Lösungen zuzuwenden. China, die Philippinen, Venezuela, Ruanda, Thailand schaffen in zunehmendem Maße Bürgerrechte und Rechtstaatlichkeit ab. Ungarn, Myanmar und Indien greifen zu ethnisch-religiösen "Säuberungen". Russland und die Türkei führen Kriege, um von inneren Problemen abzulenken. Die Liste der Beispiele ließe sich fortführen.

Die Versuchung, all diese Entwicklungen isoliert zu betrachten, ist groß. Die Komplexität der Medienwelt macht es nicht gerade einfacher, einen größeren Überblick zu behalten. Auf der politischen Ebene umso mehr, weil gerade hier nationaler Solipsismus die Regel ist: Wir sind die Norm, nichts ist mit uns vergleichbar, wir sind spezieller als die Anderen, alle Anderen sind für uns irrelevant. Die eigenen Probleme werden auf "unsere" Geschichte, "unsere" Populisten, "unsere" Medien, "unsere" Einwanderer, "unsere" inkompetenten Politiker, "unsere" Bürokratie, "unser" was auch immer zurückgeführt. Das ist auch nur zu verständlich, denn diese Sichtweise ist historisch gewachsen und solide in unserem Denken verankert.

Allerdings ist der Ursprung nicht etwa in der Steinzeit zu finden, sondern im 19. Jahrhundert, als Bildung und ein modernes politisches Bewusstsein auftraten, während vorher von nationalen Bestimmungen, Gottesaufträgen und ähnlichen Ideologien als quasi-politische Rechtfertigung ausgegangen wurde. Selbst in der politischen Diskussion meint "Politik" heute stets das politische Handeln innerhalb der nationalen Grenzen. Werden diese überschritten, ist von "internationalen Beziehungen", "bi-" und / oder "multilateralen Verhandlungen", "zwischenstaatlichen Abkommen" und ähnlichem die Rede.

Der Widerspruch fällt wenigen auf, bis sie darauf angesprochen werden: Ob ich meine Hose hier oder in Italien kaufe, ob ich Orangen in Brasilien oder Norwegen kaufe, ob ich Fernseher in den USA oder England kaufe, der Aufkleber mag variieren, aber am Ende kaufen wir eh vom selben Hersteller. Wir benutzen Telegram, Signal, Twitter, Pinterest, Facebook, Google, Spotify, PayPal, Dropbox und weiß der Himmel welche anderen Dienste egal in welchem Land wir gerade sind (okay, China jetzt mal ausgenommen), ohne genau sagen zu können, wo sich dieser Dienst eigentlich gerade befindet.

Wenn wir unsere Bank fragen, wo unser Geld gerade ist, wird uns hilflos geantwortet "auf dem Konto", während unsere gnadenlos überzogenen Kreditverträge gerade an der Tokyoter Börse für Centbeträge en gros an irgendeinen Finanzdienstleister verhökert werden. Obwohl uns all das nicht nur klar ist, sondern ein Großteil unseres Lebens inzwischen davon sogar existenziell abhängig ist, denken wir darüber nicht nach. Schlimmer noch: Obwohl unser Alltag maßgeblich international diktiert, gestaltet, gesteuert, beeinflusst wird, gehen wir davon aus, dass "unsere" Politik sich ausschließlich auf die paar Quadratmeter Dreck bezieht, die manche vielleicht noch zufällig im Atlas als "unser Land" identifizieren können. Frag Dich doch mal selber, an welche Länder das Land grenzt, dessen "Bürger" Du offiziell bist und wo sich deren Grenzen befinden. Ohne Google oder Wiki.

Uns fällt zwar auf, dass manche Entwicklungen einander ähneln. Sei es der Niedergang der sozialdemokratischen Parteien in Europa, oder das Erstarken der Populisten, oder Ähnlichkeiten im Regierungsstil in unserem Gedächtnis grundverschieden verorteter Staaten (z.B. Putin, Trump, Erdogan, Orban, Modi). Dennoch schieben wir das auf ein zufälliges Zusammentreffen, Koinzidenz, denn was da passiert, ist mit dem, was hier passiert, ja nicht vergleichbar. Die sind ja nicht wir.

Wir neigen dazu auszublenden, dass alle Staaten in ein globales Netz aus verschiedenen Systemen eingebettet sind. Ein globales System der Systeme. Alle sind denselben Kräften ausgesetzt. Alle Politiker in allen Staaten sind mit denselben globalen Kräften konfrontiert, die ihr Handeln bestimmen und sogar international gleichschalten. Nur ein Stichwort: Finanztransaktionssteuer.

Kein einziger Staat kann sich diesen Kräften entziehen, geschweige denn widersetzen. Kein Politiker, keine Behörde und erstrecht keine nationale Regierung. Im Gegenteil. Sie sind heute mehr denn je von diesen internationalen Systemen unmittelbar abhängig. Wenn ein deutscher Autobauer einem Kommunalpolitiker davon erzählt, wie schwierig die Lage doch wäre, geht es dem nicht um die Situation im Bayerischen Wald oder die Luft an der Alster, sondern um den globalen Absatz seiner Autos. Wenn derselbe Politiker dann von den Interessen seiner Wähler erzählt, sind die geprägt durch Einflüsse aus allen Herren Ländern und nur am Rande durch das, was unmittelbar vor seiner Haustür passiert.

Die nationale Politik kann zunehmend weniger Einfluss auf seine Bürger ausüben. Kommunikation ist heute internationaler als jemals zuvor in der Geschichte. Finanzen und Waren sind vollkommen international. Selbst Firmen, die sich mit dem Label "Made in Germany" brüsten, haben oft eine interessante Definition davon, was "made in" und ganz besonders "Germany" denn tatsächlich bedeuten. Die Autorität nationaler Politiker nimmt immer mehr ab. Kein Politiker der Bundesregierung kann sich heute äußern, ohne dass davon in der internationalen Presse berichtet wird, was wiederum zu Fragen und Begehrlichkeiten aus dem Ausland führt. Siehe nur die Causa Kuwait Airways, die unerwartet große Kreise zu ziehen beginnt, obwohl "wir" damit doch eigentlich gar nichts zu tun haben.

Für den Einzelnen entsteht das Gefühl des drohenden Untergangs. Selbst wenn es an politischem Verständnis oder Überblick fehlt, die Ahnung ist unbestreitbar da. Jeder spürt, dass die eigenen Politiker irgendwie immer weniger handeln und bestimmen können, was sich ja in erster Linie darin zeigt, dass sie zunehmend weniger handeln und bestimmen und sich stattdessen zunehmend auf Symbolpolitik verlegen. Oder glaubt wirklich irgendjemand, dass beispielsweise die Ursachen solcher Katastrophen wie Flughafen BER oder Stuttgart21 darin liegen, dass "unsere" Politiker nicht wollen?

Daraus entsteht eine diffuse Unsicherheit, denn es fehlt an Vision, Perspektive und Ziel. Wir wissen nicht, wohin das alles führt. Im Gedächtnis der Menschheit ist ein allumfassendes, staatenloses, internationales Gesellschaftssystem unbekannt. Wir haben keinerlei Erfahrungen damit. Und die Utopien, die wir davon kennen, sind weit überwiegend Dystopien aus der Science-Fiction im Stile von Neuromancer, Bladerunner und Co.

Dabei übersehen wir, dass es nicht nur uns so geht. Überall auf der Welt passiert dasselbe, gleichzeitig. Eben weil wir alle im selben Boot sitzen. Was haben wir gelacht, als Peter Struck 2002 verkündete, dass die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt wird. Heute geraten wir in hysterische Panik, sobald jemand mit Bart und Rucksack aus dem Koran zitiert und wünschen uns insgeheim, am Hindukusch wäre mehr passiert. Unsere Anker-Zentren sind nichts Anderes als Resultat genau dieser Unbeholfenheit im Angesicht der unumkehrbaren, über den Nationalstaat hinausweisenden Entwicklungen.

Das Beschwören der nationalen Apokalypse, das Aussterben des Deutschen, die Überfremdung, die drohende Abschaffung des Christentums durch den Islam, sind Hilferufe einer zutiefst verängstigten und verunsicherten Gesellschaft, die im Paradigmenwechsel der globalen politischen Systeme von genau denen alleine gelassen werden, deren verdammter Job es eigentlich wäre, ihr beizustehen, nämlich den Politikern. Die allerdings wissen auch nicht weiter. Mauern bauen, Xenophobie beschwören, Rassendenken, Aufrufe zur Rückbesinnung auf frühere Reiche sind verzweifelte Versuche, im Vergangenen irgendetwas zu finden, dass wenigstens irgendeine Ahnung einer größeren Perspektive anzubieten scheint.

Die politischen Systeme 20. Jahrhunderts sind konfrontiert mit den sich heute, im 21. Jahrhundert entfaltenden Folgen und Entwicklungen ihres eigenen Handelns. Deregulierte Finanzwelt, autonome Produktion, Künstliche Intelligenz, Datamining, religiöse Milizen, wachsende Rivalitäten aufstrebender Großmächte, schwindende Dominanz einzelner Systeme und Ideologien. Gleichzeitig brechen sich die im 20. Jahrhundert einigermaßen unterdrückten Konflikte der Kolonialzeit Bahn.

Die Folgen an nationalen Interessen orientierter, nahezu beliebiger Grenzziehung früherer Kolonialmächte zeigen heute überall ihre fatalen Spätfolgen, sei es in Afrika, Asien oder im Nahen und Mittleren Osten. Staaten zerbrechen in Interessendomänen, Stammesmilizen marodieren grenzübergreifend, ganze Staaten wenden sich offen aus der Luft gegriffenen ethnischen und religiösen Aspekten als staatstragende Elemente als Grundlage ihrer Politik zu.

Die früheren Supermächte haben die ursprüngliche Idee der Staatengemeinschaft, der Gesellschaft der Nationen, die 1918 formuliert wurde, grundlegend ausgerottet und gegen ein Blockmodell ersetzt. Nach dem Ende des Kalten Krieges musste dieses Konzept zwangsläufig scheitern. Das Erodieren der ehemaligen Block-Bündnisse wurde unvermeidbarer, weil das zusammenhaltende Element fehlte. Ersetzt wurde es durch Nationalstaaten, die jeder für sich nach Aufmerksamkeit und Macht gieren und als wichtig und einzigartig und sowieso bestes Ding seit geschnitten Brot wahrgenommen werden wollen. Im Wettstreit um Bedeutung und Aufmerksamkeit ist jedes Mittel recht. Ehemals formal oder auch wortlos akzeptierte Regeln und Maßstäbe gelten nicht mehr. Je stärker militärisch oder wirtschaftlich oder politisch unterdrückt, desto extremer die Wahl der Mittel.

Keins der heute installierten politischen Systeme kann eine echte, tragfähige Vision der Zukunft anbieten. Gerade an Deutschland lässt sich das hervorragend zeigen. Die letzte Regierungserklärung und der aktuelle Koalitionsvertrag sprechen zwar wolkig-blumig von einer tollen Zukunft, in der es allen gut gehen soll und von einem Land, in dem "wir" gerne leben. Es fehlt aber gänzlich an einem konkreten Narrativ. Es fehlt an Bildern, greifbaren Visionen, glaubhaften Ideen, denen irgendjemand folgen könnte.

Stattdessen schaffen wir uns ein "Heimatministerium", ohne das selbst der dazugehörende Bundesminister, der aus einem egozentrierten und heimatversessenen Grenzgebiet der Republik stammt, den Begriff "Heimat" auch nur annähernd ausfüllen könnte. Abgesehen durch Negativabgrenzungen, dass Heimat eben nicht nur Lederhose und Dirndel wäre. Was Heimat aber tatsächlich ist, das weiß nicht mal er. Auch die Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, ist am Ende eine Pseudo-Debatte, denn es interessiert niemanden, ob - und wenn ja - von welchen Gottheiten Du Deine Zukunftsvision erhoffst. Das Argument, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, die hier lebenden Muslime aber schon, ist letztendlich auch nur grotesker Ausdruck der aus der Hilflosigkeit des Fehlens einer echten Zukunftsidee geborenen Existenzangst.

Die Politische Elite ist selbstverständlich mit den anderen Eliten gut vernetzt. Und während Politiker der Natur ihres Amtes und des darunter liegenden Systems folgend nationale Interessen denken und vertreten, beweisen alle anderen Eliten, wie überholt die Idee des Nationalen ist. Die Finanzelite entzieht sich komplett nationaler Kontrolle. Produzenten bekämpfen nationale Regularien auf internationaler Ebene oder wandern schlicht aus. Wissenschaftler lehren heute hier, morgen da, zunehmend aber eben international. Kunst ist schon längst aus dem Korsett des "Nationalen" ausgebrochen und bewegt sich außerhalb des Sektors der kritisch-politischen Kunst völlig losgelöst von irgendwelchen Herkunftsgedanken.

Die Gesellschaften, der einzelne Bürger, nimmt das unmittelbar wahr. Die Folgen des transnational ausgelagerten Kapitals, der legalen Steuervermeidung, werden für ihn unmittelbar im Alltag sichtbar im Scheitern und zunehmenden Rückbau der Sozialsysteme und sozialen Einrichtungen. Das Lob der Politik über das soziale Engagement der Bürger (z.B. Tafeln, Ehrenamt) ist nichts Anderes als das Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit angesichts der Milliarden, die sich an ihnen und den von ihnen verwalteten Sozialsystemen vorbei international bewegenden Ströme aus Geld, Wissen und Können.

Infolge dieser Entwicklungen entgleitet den Nationalstaaten zunehmend ihr moralisches Mandat, aber auch ihr moralisches Diktat. Gerade die Tatsache, dass Steuervermeidung ein international anerkanntes Mittel der Märkte ist, zeigt das besonders. Firmeninhaber, Anteilseigner und Finanziers sehen in Staaten kein Primat mehr, das für sie gilt oder das es zu unterstützen gilt. Aber auch vom Einzelnen wird zunehmend "Mobilität" gefordert: Die Verwurzelung in einer bestimmten geographischen Region, einer Stadt oder Gemeinde gilt im heutigen Arbeitsmarkt nicht nur als Anachronismus, sondern wird schlichtweg als Blockadehaltung verurteilt bis hin zur staatlich repressiven Sanktionierung.

Immer mehr Menschen sehen sich von der Entwicklung überrollt und finden sich in einer hochkomplizierten Situation wieder, weil das frühere Konzept der Staatsangehörigkeit nicht mehr zu der Realität passt. Sei es der bevorstehende Brexit, der auf beiden Seiten des Kanals unfassbare persönliche Tragödien auslöst, weil von heute auf morgen die Frage des Aufenthaltsrechts völlig unklar ist, oder in Libyen, wo ein Staat quasi über Nacht in zwei neue, sich bis aufs Blut bekämpfende Regierungen zerbrach, inklusiver eigener Parlamente und Milizen und Bürokratien und so weiter. Oder Syrien, wo sich mittlerweile mindestens fünf regionale Gebilde um territoriale Herrschaftsansprüche kloppen. Oder Ex-Jugoslawien, wo bis heute nicht eindeutig geklärt ist, wer jetzt wen wo als was anerkennt oder eben auch nicht.

Seit 1989 haben knapp 5% der Kriege zwischen Staaten stattgefunden. 95% der Kriege sind Resultat zusammenbrechender Regierungen und scheiternder Staaten im Innern. Nicht etwa Invasionen haben zu mehr als 9 Millionen Kriegstoten geführt, sondern innerstaatliche Konflikte. Unser Nationalstaatensystem funktioniert so dermaßen gut, dass wir 65 Millionen Kriegsflüchtlinge nicht nur als Normalität des Alltags wahrnehmen, sondern auch noch das Ausbleiben der durch ethisch-moralische Überzeugungen unmissverständlich diktierten und sogar in den Verfassungen verankerten Verpflichtung zur Hilfeleistung hinter Begriffen wie "subsidiär Schutzberechtigte" oder "Wirtschaftsmigration" verstecken.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, 1945, gab es 40 Millionen Kriegsflüchtlinge. Dieser internationalen Krise nahm sich die Staatengemeinschaft in einer unvergleichlichen Kraftanstrengung an und bekam es irgendwie in den Griff. Im Gegensatz dazu ist heute niemand wirklich dazu bereit, dieses Problem als solches wenigstens öffentlich zur Kenntnis zu nehmen und nachhaltig etwas dagegen zu unternehmen. Stattdessen fokussieren sich die Lösungen auf nationalstaatliche Ansätze des Schutzes der Außengrenzen, Mauern und Zäune, Flüchtlingsquoten, sichere Herkunftsländer und Abschiebemechanismen. Ein staatsübergreifendes Konzept zur Bewältigung dieser weltweiten Krise ist nicht einmal in groben Umrissen zu erahnen, ganz egal von welchem Gremium.

Die Diskussion, ob diese Entwicklung unausweichlich war oder künstlich herbeigeführt wurde oder auf wessen Fehlern sie beruht, ist müßig. Das System ist aus vielen Gründen an vielen Stellen kolossal gescheitert. Zwar passten im 20. Jahrhundert Politik, Ökonomie, Sozialsysteme und Informationsfluss irgendwie zueinander, aber diese anscheinende Symbiose ist unwiederbringlich vergangen. Die Ausrichtung der Faktoren an nationalen Maßstäben funktioniert heute nicht mehr, was zu einem nicht geringen Teil unmittelbare Folge eben genau jener politischen Systeme ist, die diese Entwicklungen erst losgetreten haben. Während früher staatliche Regierungen die Verteilung von Wohlstand und Ressourcen steuern konnten, entziehen sich genau diese heute jedem politischen Steuerungsinstrument auf nationaler Ebene.

Die Realität zwingt alle politischen Systeme zur Erneuerung, denn die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Das Wirtschaftssystem, in dem wir heute leben und von dem jeder, auch die Nationalstaaten abhängig sind, lässt sich nicht mehr abschaffen. Wenn sich die Politik dem nicht anpasst, wird das am Ende den Untergang der Politik bedeuten, weil sie zunehmend weniger Einfluss auf die Welt hat und von anderen Mechanismen an den Rand gedrängt, überholt und dadurch in letzter Konsequenz abgeschafft wird.

Es wird notwendig, politische Systeme zu erdenken und zu implementieren, die auf die globalisierte Welt im gleichen Maßstab reagieren und sie auf Augenhöhe bewältigen können. Nationalstaaten können das nicht alleine. Es werden globale Kontroll- und Regulierungssysteme notwendig werden, in denen Staaten staatenübergreifend, transnational zusammenarbeiten. Wenn die beeindruckenden Entwicklungen der Gegenwart nicht nur einigen wenigen nutzen sollen, müssen sie politischen Infrastrukturen untergeordnet werden, die auf globaler Ebene das Wohl der Menschheit im Auge haben und nicht etwa nur das Wohlergehen einer beliebig auf der Landkarte umrissenen Region. Die wirkliche Gefahr liegt nicht in diesem Umdenken und Neuerschaffen, sondern in der Illusion, man könnte so weitermachen, wie bisher.

Es besteht ja Hoffnung. Auch wenn wir in Europa mit dem Westfälischen Frieden 1648 die Idee des Nationalstaates erfunden haben, gelang es uns doch auch mit der Idee der Europäischen Union diese Idee weiterzudenken. Allerdings ist in den vergangenen vier oder fünf Jahrzehnten das politische Versprechen erodiert, dass der Staat uns allen Schutz und Wohlstand ermöglicht. Die staatliche Kontrolle über das Kapital ist ebenso verschwunden, wie die ehemals geltenden Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit.

War der Staat früher der Garant für Wohlstand, der durch unbeschränkten Zugriff auf das Kapital durch Steuern und Abgaben jedes noch so große Projekt finanzieren konnte, muss er sich heute als Bewerber am Markt beweisen - und scheitert oft genug. 2013 nannte Präsident Obama die soziale Ungleichheit die definierende Herausforderung unserer Zeit. Trotzdem ging die soziale Schere seit den 1980er Jahren in den USA kontinuierlich auseinander, egal was irgendein Präsident gesagt oder getan hat. Alleine das sollte ausreichend Hinweis sein, denn das Bild ist überall in der westlichen Welt sehr ähnlich. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Allen Politikern schlägt zunehmend Hass entgegen, weil sie die alten Versprechen von Wohlstand und so weiter nicht erfüllen können. Dass denen, deren Hass sich gegenüber den Politikern entlädt, nicht klar ist, dass die Politiker gar nicht können, selbst wenn sie wollen, ist nur zu offensichtlich, wenn man sich die deutlich am Gestern orientierten Forderungen und Parolen und die als erzwungene Reaktion darauf formulierten politischen Notlösungen ansieht.

Es dürfte klar sein, dass die Entwicklungen im Bereich Kapital und Technologie nicht stehen bleiben. Wenn die Auswirkungen bis heute bereits so dermaßen katastrophal sind, dann dürfte es kaum abwegig sein zu erwarten, dass die nächsten, unausweichlich kommenden Entwicklungsschritte in ihren Auswirkungen noch drastischer für das Konzept des Nationalstaates sein werden. Ganze Entscheidungsprozesse werden dem politischen System aus der Hand genommen und automatisiert werden. Ehemals in der Hand des Staates liegende Funktionen werden komplett privatisiert, ohne dass Regierungen das in irgendeiner Form motiviert hätten. Man denke nur an Kartographie und Überwachung, aber auch an Sicherheit, Kranken- und Altenversorgung.

Diese Firmen operieren bereits heute global und entziehen sich weitgehend jeder staatlichen Kontrolle. Facebook und Cambridge Analytica ist nur das aktuellste Beispiel. Gleichzeitig entstehen digitale Währungen, die sich staatlicher Kontrolle entziehen und Staaten wie staatlichen Banken erhebliches Kopfzerbrechen bereiten (Bitcoin). Andere Entwicklungen können wir heute noch gar nicht abschätzen, wie zum Beispiel die Folgen der künstlichen Intelligenz oder was der neue Wettlauf in All mit sich bringen wird.

Solange Regierungen durch internationale Faktoren kontrolliert und gelenkt werden, haben sie kaum maßgeblichen Einfluss auf die nationalen Entwicklungen. Anschauliches Beispiel sind alle Entwicklungsländer dieser Welt. Problematisch ist diese Entwicklung in der westlichen Welt aber insbesondere deshalb, weil hier ein tief verwurzeltes "Menschheitsgedächtnis" Bilder heraufziehen sieht von einem Staatsapparat, der vor sich hin regiert, ohne sich für den Bürger zu interessieren, ohne auf seine Belange einzugehen, dafür aber Geld nimmt und sich selbst die Taschen vollstopft.

Es sind solche Assoziationen, so irreal und abstrus sie auch sein mögen, die Gesellschaften bis ins Mark erschüttern und das fragile Gleichgewicht kippen lassen können. Es ist diese gesellschaftsübergreifende Unruhe, die jedem zeigt, dass das Versprechen der Sicherheit des Nationalstaates zunehmend unerfüllbar ist. Stattdessen erobern transnationale Identitäten, ähnlich früheren Stammesidentitäten, die Lebenswirklichkeit.

White Power, radikaler Islamismus, Fundamentalismus und beliebige andere Extremismen greifen zu den Waffen - wörtlich - und wehren sich gegen Unterwanderung, Ausbeutung, Verdrängung, Korruption, inkompetente Politiker und unfähige Systeme und Institutionen. Reichsbürger, Pegida, AfD und so weiter sind letztendlich genau das, denn gerade sie sind überstaatlich erstaunlich gut vernetzt, so sehr sie "nationale Interessen" auch in den Vordergrund zu stellen versuchen.

Im Prinzip läuft es darauf hinaus, dass die politischen Autoritäten nicht liefern und die politischen Führer nichts wirklich verändern. Stattdessen müssen sie sich auf starke Emotionen und Symbolpolitik verlagern und hoffen, dadurch an der Macht zu bleiben, bis ihren Unterstützern irgendwann auffällt, dass sie auch nicht erfolgreicher mit ihren Versprechungen sind, als die, die sie ersetzt haben. Dumm nur, dass wir gerade an Russland beobachten können, wie erfolgreich Chauvinismus in der Politik sein kann. Ein baldiger Systemwechsel der durch den Druck der Realität erzwungen wird, steht deshalb kaum in naher Zukunft zu erwarten.

Sieht man sich dagegen aber die ärmsten Länder der Welt an, zeichnet sich ein völlig anderes Bild ab. Fast alle diese Länder entstanden aus eurasischen Großreichen. Auch wenn wir heute mit einiger Geringschätzung auf solche Imperien zurückblicken: Was Ägypten, Rom und Konstantinopel erreicht haben auf gesellschaftlicher, ökonomischer, technologischer, wissenschaftlicher Ebene und insbesondere in Hinblick auf gesellschaftliche und politische Stabilität, ist im direkten Vergleich mit den zersplitterten Klein- und Kleinstgesellschaften um sie herum im selben Zeitraum mehr als epochal.

Obwohl Imperien auf Inklusion ausgerichtet waren, waren sie nicht in unserem Sinne demokratisch. Dennoch ist es gerade der Aspekt der Inklusion, der sie von modernen Nationalstaaten unterscheidet. Man denke nur an das Römische Reich, das allen Eroberten Gebieten weitgehende Autonomie und Beibehaltung nahezu aller kulturellen und religiösen Bräuche gestattete, solange Rom als oberste Autorität anerkannt und regelmäßig Steuern bezahlt wurden. Dennoch: Die Zeit der Imperien ist vorbei.

Bemerkenswert ist, dass nahezu alle Nachfolgestaaten der letzten Imperien heute ökonomisch weit abgeschlagen sind, und das, obwohl zum Beispiel das Ottomanische Reich bereits 1922 unterging. Der Mittlere Osten, der aus den Überresten dieses Imperium entstand, ist bis heute ein einziger militanter Krisenherd ohne Aussicht auf einen dauerhaften Waffenstillstand, von Frieden ganz zu schweigen.

Ursache dafür sind nicht etwa durch die Bank weg unfähige, korrupte oder einfach nur schlechte Anführer, die ehemals perfekt funktionierende Staaten an die Wand gefahren haben. Vielmehr ist es unmittelbare Folge des Übergangs von Kolonie zur Selbständigkeit, der häufig in nur wenigen Monaten geplant und umgesetzt wurde, ohne Rücksicht auf irgendetwas. Die so entstandenen neuen Staaten überstanden häufig überhaupt nur deshalb irgendwie, weil ihre unerfahrenen und völlig überforderten Regenten ihr Heil darin suchten, die Macht durch einflussreiche lokale Stämme oder Familien sichern zu lassen, was wiederum ganz andere, viel ältere Konflikte heraufbeschwor.

Die Liste derer, die sich hier einreihen, ist nicht kurz. Man denke an: Ne Win (Burma), Hissène Habré (Tschad), Hosni Mubarak (Ägypten), Mengistu Haile Mariam (Äthiopien), Ahmed Sékou Touré (Guinea), Muhammad Suharto (Indonesien), der Schah von Persien (Iran), Saddam Hussein (Irak), Muammar Gaddafi (Libyen), Moussa Traoré (Mali), General Zia-ul-Haq (Pakistan), Ferdinand Marcos (Philippinen), das Königshaus Saud (Saudi Arabien), Siaka Stevens (Sierra Leone), Mohamed Siad Barre (Somalia), Jaafar Nimeiri (Sudan), Hafez al-Assad (Syrien), Idi Amin (Uganda), Mobutu Sese Seko (Zaire) oder Robert Mugabe (Simbabwe).

All diese Staaten haben es nie aus dem Stadium der sogenannten "Quasi-Staaten" heraus geschafft. Obwohl sie formal auf der selben Ebene wie alle anderen, älteren Nationen operieren sollten, waren sie de facto nie dazu in der Lage. Die Struktur der Gebilde war völlig anders und keine dieser Regierungen konnte ihren Bürgern auch nur ansatzweise liefern, was für andere Staaten die Norm war und verständlicherweise von den eigenen Bürgern auch erwartet wurde, jetzt, wo man doch "unabhängig" ist. Die groteske Ironie des Begriffs der "Unabhängigkeitserklärung" in einem durch global unauflösbare Abhängigkeiten bestimmten Systemgeflechts ist beinahe schon schmerzhaft.

Ohne äußere Unterstützung hätte kein einziger dieser Diktatoren seinen Staat zusammenhalten können. Nur diese Unterstützung verhinderte den Kollaps und damit eine überregionale Eskalation. Nach dem Ende der Kolonialzeit war es "normal", es Diktatoren gegenüber nicht allzu genau mit Menschenrechten oder anderen Normen zu nehmen, solange die wiederum den Laden irgendwie zusammenhielten.

Es war letztendlich das moralische Diktat der UN, die jede Form der Fremdregierung missbilligte und nationale Souveränität zum allgemeinen Maßstab machte - egal was in diesen Staaten auch immer passieren mochte. Der Kalte Krieg ermöglichte parallel dazu nahezu unbegrenzte Unterstützung der Krisenherde und förderte das, was wir heute "Stellvertreterkriege" nennen, die sich teilweise vollkommen verselbständigt haben, siehe Jemen.

Was für den Westen nach Stabilität aussah, war in Wirklichkeit nie "stabil". Es war eine sorgsam bewachte und mit sehr viel Geld und vielen millionen Toten erkaufte regionale Begrenzung der Krisenherde außerhalb der Aufmerksamkeit des westlichen Normalbürgers. Mit Ende des Kalten Krieges implodierte dieses Konstrukt zwangsläufig und führte zur großflächigen Eskalation: Sudan, Lybien, Jemen, Kongo, Ruanda, Afghanistan, El Salvador, Angola...

In all diesen Staaten ist unabhängig von den Details vor allem eins zu beobachten: Das früher identitätsstiftende Narrativ der Staatenbildung funktioniert nicht. Religiöse Führer vereinen mehr Menschen hinter sich, als jeder noch so idealistische und ehrlich meinende demokratische Staatsführer. Militante Gruppen lassen das Konzept des Staates gleich ganz hinter sich und gründen komplett neue Strukturen quer durch bereits existierende Staaten hindurch und unbeirrt von irgendwelchen Staatsgrenzen. Siehe ISIS in Syrien / Irak, Boko Haram in Nigeria / Niger / Kamerun / Tschad, MNLA in Mali, al-Qaeda in Afghanistan / Pakistan / Irak / Jemen / Mahgreb und so weiter und so fort. Diese Organisationen bemühen sich gar nicht erst, die bestehenden Staatsapparate zu übernehmen. Sie schaffen sich einfach eigene Infrastrukturen und schaffen sich transnationale Netzwerke, in denen sie Steuern erheben, Handel treiben und militärischen Nachschub bewegen.

Ein solches funktionierendes Netzwerk besteht zurzeit von Algerien und Syrien im Norden bis nach Kenia und Somalia im Süden, vom Jemen im Osten bis nach Mauretanien im Westen. Der gesamte Nordafrikanische Raum ist durchzogen von einem transnationalen Netzwerk, das erfolgreich parallel zu den (mehr oder weniger) bestehenden "Staaten" funktioniert. Trotz massiver internationaler Militärintervention. Dadurch lösen sich althergebrachte innerstaatliche politische Strukturen auf. Das macht ganze Staaten handlungsunfähig (siehe Mali, Zentralafrikanische Republik) und ermöglicht es Minderheiten und Volksgruppen, die am Ende der Kolonialzeit leer ausgingen, das entstehende Vakuum für das Sichern eigener Gebietsansprüche auszunutzen (Kurden, Tuareg), ohne sich dabei wiederum um bestehende Staatsgrenzen zu kümmern.

Dem Westen war dabei aus ganz naheliegenden, eigennützigen Gründen die Situation in diesen Regionen herzlich egal. Solange "die" sich bloß gegenseitig an den Hals gingen, ihre Flüchtlinge brav im eigenen Land behielten und artig gegen (wahlweise) den Kommunisten oder den Kapitalisten in den Krieg zogen, war eigentlich alles egal und wurde alles irgendwie weggedrückt. Es sind gerade diese Regionen, in denen dem Konzept des Nationalstaats heute wenig Interesse entgegengebracht wird. Das Kalkül der lokalen Warlords und Clans und Stämme ging auf: Es lohnte sich nicht, sich auf die Gründung eines künstlichen Staatsgebildes zu konzentrieren. Der Übergang von Kolonie zu Staat war ein einziger Fehlschlag. Trotzdem muss nach mehr als drei Generationen ständigem Krieg ein Weg gefunden werden, das Blutvergießen zu beenden.

Es ist vollkommen illusorisch zu glauben, dass al-Shabaab, Janjaweed, Séléka, Boko Haram, Ansar Dine, ISIS oder al-Qaeda von sich aus einen Ausweg anbieten werden. Denen ist an einer klassischen Staaten-Lösung nämlich gar nicht gelegen. Schon deshalb müssen hier völlig neue Konzepte erdacht und entwickelt werden, insbesondere auch, was Teilhabe am globalen Wirtschafts- und Finanzsystem angeht, wenn die Welt nicht bis zum jüngsten Tag in diesen Gegenden permanent Krieg haben und zunehmend mit den Flüchtlingen aus der Region konfrontiert sein will. Stacheldraht, Mauern, Ausweise und Staatsgrenzen generell haben jedenfalls dort eindrucksvoll bewiesen, überhaupt nicht zu funktionieren.

Davon ausgehend, dass das System der Nationalstaaten selbst vergleichsweise jung ist, nehmen wir es als reichlich gottgegeben und ewig hin. Tatsächlich wurde der Nationalstaat erst nach dem Ersten Weltkrieg so etwas wie eine internationale Blaupause, als US Präsident Woodrow Wilson von "nationaler Selbstbestimmung" sprach. Neben einer Menge anderer ineinandergreifender Konzepte war diese nur eine Idee, aber sie war nie vorgesehen als alleinstehendes, isoliertes Konzept, sondern von Anfang an eingebettet in die Idee eines globalen Systems gegenseitiger Kontrolle und Unterstützung. Übrig geblieben ist davon heute lediglich die Illusion des "unabhängigen Staates".

Zu dem Konzept gehörte eine Demokratie der Demokratien, eine staatsübergreifende Kooperation und Jurisdiktion aller Staaten, die Frieden, Sicherheit und Wohlstand garantieren sollte. Daraus wurde die UN. Hintergrund war die Überlegung, wie irgendjemand in einem Staat in Sicherheit leben können soll, wenn die Staaten ihrerseits nicht gesetzlicher Kontrolle unterworfen sind. Internationale Einrichtungen wurden erdacht, eine Art "Weltpolizei" (was später die Blauhelme wurden), um Gewalt in Staaten und zwischen Staaten zu kontrollieren. Dann kam der Kalte Krieg und diese Ideen wurden so ziemlich beerdigt.

Aus der Ära der nationalen Selbstbestimmung entwickelte sich die Ära der internationalen Gesetzlosigkeit, die die Legitimität des nationalstaatlichen Systems verkrüppelt hat. Und während revolutionäre Gruppen versuchen, das System "von unten" zu zerstören, zerstören selbstbewusste regionale Mächte es "von oben" - indem sie in ihren eigenen Hinterhöfen nationale Grenzen verletzen. Russlands Eskapade in der Ukraine zeigt, dass es nur noch wenige Konsequenzen für neo-imperiale Bagatellen gibt. Chinas Plan, das 22. reichste Land der Welt - Taiwan - zu usurpieren, ist beinahe nicht mehr zu verhindern. Das tatsächliche Ausmaß der globalen Unsicherheit wird sich dann in Gänze zeigen, wenn die relative Macht der USA soweit abnimmt, dass sie nicht mehr dazu in der Lage ist, das Chaos zu kontrollieren, das sie mit verursacht hat.

Drei Elemente der Krise werden sich verschärfen: Der existenzielle Zusammenbruch der reichen Länder durch Angriffe auf ihre nationale politische Macht durch globale Kräfte. Die Volatilität der ärmsten Länder und Regionen, nachdem die Machtgaranten des Kalten Krieges abgezogen sind und sich so ihre wahre Zerbrechlichkeit offenbart hat. Die Illegitimität einer "internationalen Ordnung", die nie eine "Gesellschaft der Nationen" angestrebt hat, die von der Rechtsstaatlichkeit beherrscht wird.

Da alle drei Komponenten in transnationalen Kräften verwurzelt sind, deren Ausmaß sich den Möglichkeiten der Politik einer einzelnen Nation entzieht, sind sie weitgehend immun gegen wohlmeinende politische Reformen innerhalb einzelner und isoliert handelnder Nationalstaaten. Es wird in den kommenden Jahren Beispiele für solche Reformen geben, keine Frage. Aber Erfolg werden überhaupt nur die haben können, die von einem großen internationalen Kontext und breiter Unterstützung anderer Staaten getragen werden.

Zu erwarten wird eine globale Regulierung der Finanzsysteme sein. Die Finanzmacht wird zurück in die Hände der Politik geholt werden müssen, wenn die Politik sich nicht selbst zugunsten einer Herrschaft der Konzerne abschaffen will. Lokal wird es Auflösungen bestehender nationaler Strukturen zugunsten neuer "Staats"-Formen geben, wie durch die Idee der Europäischen Union angedeutet. Frankreich-Deutschland ist hier besonders wert beobachtet zu werden.

Überstaatliche Regierungssysteme werden zunehmend demokratisiert werden und mehr regionale Machtbefugnisse erhalten, während gleichzeitig nationale Regierungssysteme zunehmend mehr Befugnisse an diese übergeordneten Systeme abgeben werden. Auch hier ist die Idee der Europäischen Union Vorreiter, wenn auch nicht unumstritten und ungefährdet und erst recht nicht frei von Fehlern.

Obwohl noch keine hundert Jahre alt befindet sich das Konzept der Nationalstaaten in einer existentiellen Krise, aus der es sich nicht selbst befreien kann. Das System kann so nicht überleben, ohne sich einer echten, mindestens transnationalen, eher noch globalen politischen Instanz zu unterwerfen. Gedanken an Nationalstolz, Heimatschutz und Grenzsicherung sind zwar verständlich, aber sie sind verzweifelte Versuche, die Uhr zurückzudrehen und werden langfristig entweder von der Zeit überholt oder in den Untergang führen. Der Wandel wird hart und mit starken Konflikten einhergehen, aber ich halte ihn für unabdingbar. Außerdem: Nur weil es eine große Herausforderung ist, ist das kein Grund, sie nicht anzugehen.

Freitag, 26. März 2010

Durch blühende Landschaften...

Tjaja, Deutschland und seine Bauvorhaben. Wir erinnern uns? Damals, Anno 2004, da wurde bei Dresden eine blühende Landschaft im Osten der Republik zum Weltkulturerbe erklärt. Blöd nur, dass bei Vergabe des Titels nicht daran gedacht wurde, die Regierenden der Stadt nach den Plänen für eben jene blühenden Landschaften zu befragen. So gab es denn schon 2006 ersten Stress, denn es wurde bekannt, dass genau jene nicht befragten Regierenden vor einem drastischen Problem standen: Die bestehenden Verkehrsanbindungen der Stadt über genau diese jetzt weltkulturerblich gesegneten Landschaften waren nicht nur marode, sondern den Anforderungen der Gegenwart überhaupt nicht gewachsen. In den Schubladen lag deshalb schon lange der Plan für eine ganz neue, tolle, preiswerte Verbindung zwischen den beiden Hälften der Stadt.

Es geht natürlich um Dresden und das Debakel rund um die "Kulturlandschaft Dresdner Elbtal". Machen wir uns nichts vor: Dresden braucht eine neue Anbindung zwischen den beidseitig der Elbe gelegenen Teilen der Stadt. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Allerdings ging bei der Planung dieser neuen Anbindung einiges schief. Die Debatte gipfelte in einem Eklat, in dessen Folge alle Beteiligten auf stur schalteten: Die regierenden Politiker der Stadt Dresden bestanden auf eine Brücke und die UNESCO strich das Elbtal als erstes zweites (danke Gonzo) Weltnaturerbe wieder von der Liste. Kritiker merkten schon damals an, dass ein Tunnel eine vielleicht gar nicht so schlechte Idee sei.

Diese Alternative wurde jedoch abgeschmettert; die Einen sagen aus Kostengründen, die Anderen sagen, weil der Befreundete Bauunternehmer, der den Zuschlag für die Brücke erhalten hatte, einen solchen Tunnel gar nicht bauen könnte, selbst wenn er wollte. Offiziell weil der Bau des Tunnels in ein durch europäisches Naturschutzrecht geschütztes Biotop eingegriffen hätte und deshalb an der Brücke kein Weg vorbei führt. Außerdem dauert es viel zu lange einen Tunnel zu bauen. Und er ist viel zu teuer.

Langer Rede kurzer Sinn: Die Brücke musste her, auf das Kulturerbe verzichtete man gerne, denn man hat ja noch andere Tourismusattraktionen im Schrank. Als Entschädigung bekam Deutschland das Wattenmeer auf die Liste gesetzt und Dresden den Zuschlag für Deutschlands Militärhistorisches Museum der Bundeswehr (Neueröffnung 2011), dem dann wohl größten Museum für Militärisches auf deutschem Boden. Alle waren zufrieden. Na gut, fast alle. Das Thema hätte todgeschwiegen werden können und in 10 Jahren hätte kein Hahn mehr danach gekräht. So oder ähnlich jedenfalls war wohl der Plan.

Dumm nur, dass wegen einiger unvorhersehbarer Entwicklungen die ungeliebte Brücke jetzt unwesentlich teurer wird. Mit ihren ursprünglich veranschlagten 156 Millionen Euro war die Brücke bereits vorher die mit Abstand teuerste Stadtbrücke der Republik. Diesen Vorsprung sichert sich Dresden jetzt durch einen lächerlichen Aufschlag von nur noch 20 bis 25 Millionen Euro. Die Stadt Dresden rechtfertigt diesen geringfügigen Preisanstieg des Projektes mit "Verzögerungen, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, Preiserhöhungen bei Baumaterial, aber auch Nachträge der beauftragten Bauunternehmen." Inzwischen wird auch der letzte Winter noch als Mitverantwortlicher genannt. Schuld sind in Deutschland ja immer die Anderen.

All das wäre ja nun irgendwie zu verkraften, wenn denn ein Ende des Debakels (und damit der Kostenexplosion) absehbar wäre. Genau das ist es aber eben nicht. Der Bau ruht nämlich und das wohl noch für einige Zeit. Grund dafür ist nicht etwa der Winter oder irgendwelche neuen oder zusätzlichen bautechnischen Maßnahmen oder so. Nein, der Grund ist ein anderer. Einer, den die Verantwortlichen eigentlich hätten voraussehen müssen.

Bereits im Mai 2009 entschied das Verwaltungsgericht Dresden, dass der Bau des Tunnels(!) gegen ein paar unwesentliche Gesetze verstößt, insbesondere gegen das europäische Naturschutzrecht. Diese Verstöße, die interessanterweise vom Gericht als "gegeben" angesehen wurden, noch bevor der erste Gutachter sich das Ganze angesehen hatte, sorgen jetzt dafür, dass die Landesdirektion Dresden den Bau der Brücke bis auf Weiteres gestoppt hat, denn der verstößt gegen dieselben Gesetze.

Wir erinnern uns? Mit dem Argument "Verstoß gegen europäisches Naturschutzrecht" wurde der Bau des Tunnels abgeschmettert und stattdessen die Brücke erzwungen. Die für den Bau Verantwortlichen müssen also um die bestehende Rechtslage gewusst haben. Oder sie haben es ignoriert. Wie auch immer, eigentlich hätte die Brücke in diesem Monat fertig sein sollen. Hätte. Wenn man nicht vergessen hätte, die benötigten Flächen für die Fertigstellung der Brücke im Planfeststellungsverfahren mit aufzuführen. Genau das geschah aber nicht. Und weil das nicht geschehen ist, muss das jetzt nachgeholt werden. Formvollendet, natürlich, mit typisch deutscher Gründlichkeit und Bürokratie: Antrag, Genehmigungsverfahren, Widerspruchsverfahren, Gerichtsweg. Wir kennen das. Man denke nur an Gorleben.

Fassen wir zusammen: Zu teuer, dauert zu lange, Probleme mit den europäischen Naturschutzgesetzen. Ja, alle drei Argumente haben wir schon gehört. Nämlich zulasten des Tunnelbaus. Alle drei Argumente gelten jetzt aber auch für die Brücke. Mit dem Unterschied, dass bei Bau der Brücke die Landschaft auf der Liste des Weltkulturerbes erhalten geblieben wäre, was sich ja jetzt erledigt hat.

Wer jetzt abwinkt und sagt "auf die 25 Milo kommt es jetzt auch nicht mehr an", der vergisst dabei, dass durch den Wegfall des Titels "Weltkulturerbe" der Stadt Dresden ein zweistelliger Millionenbetrag aus Fördermitteln des Bundes für die deutschen Welterbestätten durch die Lappen geht. Gleichzeitig wird die Verkehrssituation in Dresden nicht besser und der Anblick einer ewig nicht fertig werdenden Baustelle macht die Stadt auch nicht gerade attraktiver. Mit anderen Worten: Kohle weg und der Tourismus findet es auch nicht so geil. Insider schätzen, dass schon jetzt - also noch vor dem bevorstehenden Genehmigungsverfahren - bei zurückhaltender und vorsichtiger Berechnung die Kosten für die Brücke nicht um 20-25 Millionen Euro gestiegen sind, sondern eher um 35-50 Millionen. Der Kaufpreis der Brücke läge damit schon jetzt bei uneinholbaren 200 Millionen Euro. Zum Vergleich: Der Bau der vierten Röhre des Elbtunnels in Hamburg, einer hochmodernen, über drei Kilometer langen Elbquerung in 30 Meter tiefem Wasser, hat gerade mal 500 Millionen Euro gekostet. Die Gesamtlänge der Brücke (mit allen Anfahrten, Zufahrten, Über- und Unterquerungen und so weiter) in Dresden soll 636 m betragen.

Die Mit dem Bau versprochenen Vorteile für die einheimischen Unternehmen sind auch mehr als umstritten, mußten doch beauftragte Kleinunternehmen der Region wegen Überforderung Hilfe ausländischer Partner in Anspruch nehmen. Die Gelder bleiben damit eher nicht in Deutschland. Einige dieser Aufträge sind bis heute nicht vollständig abgewickelt und lassen weitere - teure - Verzögerungen erwarten. Meine ganz eigene Vermutung ist, dass die Brücke bei Fertigstellung ungefähr um das Jahr 2020 herum ca. 250 Millionen Euro gekostet haben wird.

Ach ja. Es steht bereits jetzt fest, dass auf der Brücke - so sie denn irgendwann mal fertiggestellt und freigegeben wird - in beide Fahrtrichtungen Tempo 30 gilt.

Montag, 22. März 2010

Die Wüste lebt

[Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Sven "DeichShaf" Wagner]

Vor mehreren Wochen versprach ich unserem Alphatapir einen Aufsatz über das Thema Service. Meine Erfahrungen damals - vor allem meinen Frust - wollte ich mir gerne von der Seele schreiben.

Ich fing also damit an, mir einen Text aus den Fingern zu saugen, der ein möglichst objektives Bild der Situation wiedergibt. Natürlich mit allen Höhen und Tiefen. Bereits beim Schreiben überkamen mich erste Zweifel: Konnte dieser Ansatz richtig sein? Ich verwarf den bis dahin geschriebenen Text und begann von vorne. Der zweite Versuch sollte die Servicelandschaft in Deutschland nicht nur aus meiner Sicht darstellen sondern auch das, was andere davon wahrnehmen.

Unschwer ist zu erraten, dass auch dieser Versuch zum Scheitern verurteilt war: Zu wenige Leute waren Willens, sich darüber mal objektive Gedanken zu machen. Die meisten waren voreingenommen - entweder durch entsprechende berufliche Tätigkeit oder aber durch einseitige Erfahrungen.

Und so blieb mir nichts anderes übrig, als auch diesen Ansatz zu beerdigen. Ich griff also auf das zurück, was sich häufiger schon als richtig herausgestellt hatte: Eine zwar gefärbte aber dennoch um Objektivität bemühte Schilderung meiner ureigensten Erfahrungen und Gedanken zu diesem Thema...

Die Wüste lebt.

Dem einen oder anderen ist mit Blick auf Dienstleistungen aller Couleur schon aufgefallen, dass einem bisweilen erfreuliche Dinge widerfahren, während an anderer Stelle einfach Murphys Law zuschlägt - in vollem Umfang. Die Wüste lebt also - und das tut sie, weil es Oasen in der ansonsten trostlosen Landschaft gibt.

Der Service, tja - Service - das ist in Deutschland noch weitgehend ein falsch verstandenes Fremdwort. Service heißt, dass ein Kunde zu dem erhoben wird, was er ist: Die eigene Daseinsberechtigung. Service heißt aber nicht die entwürdigende Darbietung einer beispiellosen Arschkriecherei, wie sie vielfach praktiziert wird. Service heißt gleichfalls auch nicht, dass man einem Kunden Freundlichkeit und Zuvorkommen heuchelt, während er einem am Ende egal ist.

Als leuchtendes Negativbeispiel der jüngeren Vergangenheit möchte ich einen Telefonanbieter aufführen. Die Hansenet Telekommunikation, dem einen oder anderen mit dem Produkt "Alice" sicher nicht unbekannt.

Bekannte hatten Probleme mit dem ISDN-Anschluss, ein Mitarbeiter von Alice stellte nach einer Störungsmeldung bei einer Messung einen Leitungsfehler fest und ein Technikertermin wurde anberaumt. Doch der Techniker erschien nicht zum genannten Termin. Es folgte auch kein Anruf. Erst als man selber tätig wurde, kam wieder Bewegung in die Sache. Im Ganzen waren es drei avisierte Technikerbesuche, bis überhaupt jemand kam - und elf Tage sind alles andere als eine annehmbare Zeitspanne, um einen unbenutzbaren Telefonanschluss wieder nutzbar zu machen.

Die Mitarbeiter dort sind meist freundlich und sichtlich bemüht, Kunden zu helfen - doch sind sie in ihren Befugnissen derartig kastriert, dass sie quasi handlungsunfähig sind, sobald ein Problem leicht von Schema-F abweicht.

Es gibt in jedem Callcenter auch Leute, die mal einen schlechten Tag haben. Doch wenn man einfach auflegt oder dem Kunden pampige Antworten gibt, trägt das auch nicht zu einem Imagegewinn bei. So geschehen bei meinem schließlich vollzogenen Wechsel zur Telekom - eine Änderungsmitteilung, die mich wissen ließ, dass zu einem bestimmten Termin etwas geändert wird - bloß nicht *was* denn geändert werde, war hier Stein des Anstoßes: Ich wollte wissen, was denn nun alles geändert wird, und da auf meine Mails nicht adäquat reagiert wurde, rief ich an. Der Mitarbeiter erklärte mir auch den Änderungsumfang, doch mein Verlangen nach einer schriftlichen Ausfertigung seiner Ausführungen war er nicht bereit oder nicht in der Lage zu erfüllen. Nicht nur aus meiner Sicht ein klarer Vertragsverstoß, wo es doch in den AGB eindeutig heißt, dass es der Schriftform bedarf, wenn es um Änderungen geht.

Hier wird das letzte Wort noch nicht gesprochen sein und wohl leider von einem Richter gesprochen werden müssen...

Diese Starrheit und der Mangel an Kompetenzzugeständnissen an Mitarbeiter ist ein echtes Problem. Es kann nur nach Schema-F verfahren werden, selbst wenn Mitarbeiter das gerne anders wollen. Jeder, der schon einmal Schriftverkehr mit eBay hatte, wird das bestätigen können...

Anders sieht es dagegen bei der Telekom aus. Ausgerechnet in dem Unternehmen, dem man nachsagt es sei der Inbegriff und quasi das Sinnbild für schlechten Service, wird einem als Kunde mittlerweile ein Service gedungen, der deutlich über das hinaus geht, was andere Anbieter leisten.

Es sind dabei nicht die kostenfreien Rufnummern, die das Bild positiv beeinflussen. So etwas wie Service darf ruhig etwas kosten. Nein, die weitreichenden Kompetenzen und Befugnisse der Mitarbeiter sind es, die mich fasziniert haben: Ein einziger Mitarbeiter kann den Auftragsstatus einsehen, Änderungen vornehmen, technische Fragen beantworten und Störungen entgegen nehmen. Und wo er das nicht kann, wird man kurzerhand weiterverbunden.

Anstatt aber dem neuen Gesprächspartner seine Litanei erneut vortragen zu müssen, ist dieser bereits im Bilde oder muss nur kurz die Stichworte erfassen und weiß dann, worum es geht.

Als Beispiel: Ich erteilte den Auftrag für VDSL50, zugleich für einen Telefonanschluss und schließlich für die Portierung meiner Rufnummer von Alice zur Telekom. Die Telekom übernimmt dabei - branchenüblich - Namens und mit Vollmacht des Rufnummerninhabers die Kündigung beim vorigen Anbieter. Während sich Alice in vornehmes Schweigen darüber hüllte, wann denn nun der Anschluss abgeschaltet würde, wurde ich von der Telekom stets auf dem Laufenden gehalten. Auch wurde mir von Anfang an klar gesagt, wann welche Leistung wie geschaltet werden würde. Lediglich eine Formalie war, dass auf der Auftragsbestätigung eine Gutschrift für den Wechsel nicht erwähnt wurde.

Ein Anruf bei der Hotline und die Sache ist geklärt, zwei Tage später gabs das noch mal schriftlich und es hatte sich. Nach der Schaltung des Anschlusses ein technisches Problem - und um es gleich zu sagen: Selbstverschuldet und durch falsche Prämissen hervorgerufen - doppelte Einwahl geht eben nicht bei TDSL und ein verkonfigurierter Speedport-Router ist eben auch für affines Volk manchmal eine harte Nuss :). Doch ein Anruf bei der Hotline brachte hier problem- und kostenlos Klärung. Und das obwohl es eigentlich um ein Endgerät ging, für das eine völlig andere (und nebenbei bemerkt kostenpflichtige) Hotline zuständig wäre.

Es gibt viele interessante Beispiele wie man es nicht macht. Dieter Nuhr hat 1998 in seinem Programm "Nuhr nach vorn" recht amüsant beschrieben, was ihn an der Servicewüste fasziniert und nervt. Wenn man bei Anrufen einen kilometerlangen Sermon vorgetragen bekommt, bei dem man einen Kaffee trinken gehen kann, bevor die Begrüßungsfloskel komplett ist, möchte man am liebsten schon nach dem "...was kann ich für Sie tun?" rufen "Die Fresse halten und zuhören!" In der Tat fällt auf, dass in bestimmten Bereichen ein falsches Verständnis davon herrscht, was ein Kunde will, wenn er anruft.

Wenn ich bei Firma XYZ anrufe, dann deshalb, weil ich diese Nummer irgendwo her habe, wo ebendiese Firma als am ehesten in Frage kommendes Unternehmen für mein Anliegen zu finden war. Mit anderen Worten: Ich weiß bereits vorher grob, was diese Firma macht. Da will ich nicht bei der Begrüßung am Telefon von meinem Klempner erzählt bekommen, was er alles machen kann. Dazu habe ich einen Mund, kann Fragen stellen und dann darauf hoffen, dass mein Gegenüber so pfiffig ist und mit einem freundlichen "Ja" oder "Nein" antwortet.

Auch vor Ort ist der Service sehr unterschiedlich. Ich gehe, weil es sich nicht vermeiden lässt, gelegentlich einkaufen. Experten empfehlen eine geregelte Nachrungsaufnahme und die lässt sich kostengünstiger über die Nahrungsbeschaffung in den örtlichen Grundversorgungspunkten, vulgo Supermärkten realisieren.

Es gibt Läden, in denen herrscht so eine drückende Enge in einigen Filialen (gelbe Schrift, roter Grund, den Rest denke man sich selbst), dass dort keine zwei Einkaufswagen aneinander vorbei passen. Entprechend trägt der jeweilige Filialleiter dem auch Rechnung: Es gibt überhaupt nur ein handvoll Einkaufswagen. Die dort arbeitenden Leute zeigen einem meist ein teilnahmsloses Gesicht und ein umfassendes Desinteresse an den Wünschen der Kunden - mit viel Wohlwollen kann man noch von Apathie sprechen, doch "böswillige Folgsamkeit" trifft es bei einigen eher. Vereinzelt begegnen einem Menschen, die einem derartig herabgezogene Mundwinkel zeigen, dass dagegen spätgothische Torbögen geradezu eine waagerechte Linien bilden.

Man erkennt schon recht eindeutig, dass das Arbeitsklima für wenig Begeisterung sorgt - und die wird, ganz stilgerecht, 1:1 an die Kunden weitergegeben. Frei nach dem Motto "Wenn ich schon keinen Spaß hier haben darf, dann soll auch kein anderer hier welchen haben dürfen". Das betrifft nicht alle Filialen, aber es fällt auf, dass in anderen Supermärkten, in denen es etwas großflächiger zugeht, zwar eine ebenfalls geschäftige, aber wenigstens nicht unfreundliche Atmosphäre herrscht.

Interessant übrigens in dem Zusammenhang die Frage: Was frustriert eigentlich mehr: Fehlender Service und fehlende Freundlichkeit, oder vollmundige Versprechen derselben und trotzdem das Fehlen von beidem?

Es gibt Lichtblicke. Es muss sie geben um eine Ausnahme von der Regel zu haben. Und es muss sie geben, weil Firmen Alleinstellungsmerkmale brauchen, um als besser wahrgenommen zu werden. Nur über den Preis kann man heute kaum noch Kunden halten. Trotz der Krise in der wir uns befinden, nehmen Kunden es nicht mehr ohne Murren hin, wenn sie behandelt werden, als wären sie nur ein notwendiges Übel, das man schnell abfertigen muss.

Es tut einem Kunden gut, wenn er etwas Honig um den Bart geschmiert bekommt. Wenn das nur heiße Luft ist, merkt der Kunde das recht schnell. Wenn es aber ernst gemeint ist, merkt der Kunde das auch. Bei solchen Firmen wird ein Kunde wieder kaufen. Er wird sich eher dorthin gezogen fühlen, wo man seine Anliegen ernst nimmt und ihm das Gefühl gibt, dass man sich darum kümmert.

Es gibt nur wenige Bereiche, wo Kunden wissen, dass sie keinen Service brauchen werden und deshalb auf den billigsten Anbieter zurückgreifen. Doch in der Mehrzahl der Fälle schneidet sich eine Firma ins eigene Fleisch, wenn sie den Service vernachlässigt.