Als in Pretzien das Tagebuch der Anne Frank und eine US-Flagge verbrannt wurden und keiner der umstehenden und angeblich unbeteiligten Dorfbewohner eingriff, war wohl keinem der Anwesenden klar, welches Signal sie setzen. Exemplarisch ist dieser Vorfall aus mehreren Gründen. Er zeigt, wie weit die Verflechtung von "Normalbevölkerung" und "Rechtsextremismus" bereits fortgeschritten ist. Es wird nicht nur akzeptiert und geduldet, dass in aller Öffentlichkeit rechtsextremes Gedankengut verbreitet wird, es wird auch noch geschützt. Wer sich hinstellt und behauptet "das sind doch nur Kinder, die wissen nicht was sie tun" hat noch nicht auf der anderen Seite der Bedrohung gestanden und verkennt, welche Bedeutung und Signalwirkung dieses Verhalten hat.
Gerade im Fall Pretzien gewinnt die Akzeptanz noch ganz andere Dimensionen, denn es scheint, als lebten in diesem Dorf mehrere Angehörige des Verfassungsschutzes. Die haben allerdings "nichts Auffälliges" über das Dorf und seine Rechte Szene berichten können. Auch im Umland war wohl "alles normal", wobei nicht weit entfernt in Schönebeck einige Monate zuvor ein Jugendlicher von mehreren anderen Jugendlichen stundenlang mißhandelt worden war - mit eindeutig rechtsextremem Hintergrund, denn das einzige Vergehen des Mißhandelten war es, dass er eine dunkle Hautfarbe hat.
Das Gerücht hält sich hartnäckig, dass nur deshalb "nichts Auffälliges" berichtet worden war, weil ein hoher Landespolitiker (der ehemalige Innenminister Klaus Jeziorsky, CDU) in diesem Dorf sein zu Hause hat. Es macht sich halt nicht so gut, wenn man im Landtag gefragt wird, warum man denn bitteschön nicht vor der eigenen Haustür kehre.
Die Schadensbegrenzung läuft auf Hochtouren und die Verantwortlichen dürften heilfroh darüber sein, dass die Fußball WM bereits vorbei und die No-Go Areas weitestgehend vergessen sind. Der Versuch, den Besuch einer Berufsschule und einer Lesung aus dem Tagebuch der Anne Frank als Buße für Versäumnisse und als Bekenntnis gegen rechts plakativ zu nutzen ging schief und auch der Hinweis auf die desolate Finanzlage des Bundeslandes half wenig, um das Vertrauen in den politischen Willen wieder aufzubauen.
Es war da noch weniger hilfreich für alle Verantwortlichen, dass die Medien den Polizeieinsatz im Zusammenhang mit den Vorfällen in Pretzien sehr im Sinne der zunehmenden Rechtsdrift der östlichen Bundesländer ausschlachten konnten. Es wurde berichtet, dass die herbeigerufenen Polizeibeamten den Stellenwert des Buches nicht einordnen konnten und dass es deshalb einige Tage gedauert hätte, bevor die Anzeige um den rechtsextremen Zusammenhang erweitert wurde. Auch bei der nächst höheren Instanz der Hierarchie in der Polizei wurde die Brisanz nicht erkannt und deshalb der rechtsextreme Zusammenhang wieder verworfen.
Die Medien stellen völlig zu Recht die Frage, warum den Beamten nicht klar war, welche Bedeutung gerade dieses Buch hat. Auch stellen die Medien nicht ganz zu Unrecht den Zusammenhang ziwschen der Blockadehaltung der Bewohner des Dorfes und der schleppenden Ermittlung der Behörden her, besonders was die Ermittlung in die Breite angeht: Es dürfte kaum jemand ernsthaft daran glauben, dass hier ein paar isolierte Einzeltäter gehandelt haben.
Interessant ist, dass nun die Schuld an den Vorgängen quasi den Ermittlungsbehörden zugeschoben wird. Kurzfassung: Die Polizei ist schuld daran, dass die Rechten sich wieder ausbreiten können. Ich bezweifle jedoch, dass diese Schuldzuweisung auch nur ansatzweise den Kern des Problems trifft. Es ist ja nicht so, dass die Polizei außerhalb jeglicher Weisungsgebundenheit handelt. Es ist auch nicht so, dass die Polizei ihre Mitarbeiter quasi in Isolation heranzüchtet und für deren Allgemeinbildung und Geschichtswissen verantwortlich wäre. Noch viel weniger entscheidet die Polizei selber, wieviele Beamte sie überhaupt zur Verfügung hat, um sich um irgendein Problem zu kümmern - egal ob nun Wohnungseinbruch, Verkehrsunfall, Raubmord oder eben Rechtsextremismus.
All diese Faktoren (und noch eine Menge mehr) sind von außen diktiert. Es ist das Innenministerium des jeweiligen Bundeslandes, das festlegt, wo Handlungs- und Einsatzschwerpunkte durch die Polizei zu setzen sind. Es ist das Finanzministerium, das bestimmt, wieviel Geld für Polizeibeamte und Ausrüstung ausgegeben werden kann und darf. Es ist das Kultusministerium, dass bestimmt, welcher Lehrstoff an den behandelt wird. Es sind die Schulen und Lehrer die bestimmen, wie sie diesen Stoff denjenigen Schülern vermitteln, die später mal Polizisten werden. Die Bevölkerung bestimmt wiederum, wie umfangreich sie sich selber am politischen Leben beteiligt und welche Parteien "an die Macht" kommen. Es ist die Gesellschaft selbst, die am Ende die Rahmenbedingungen diktiert, innerhalb derer sich ihr eigener Nachwuchs entwickelt - und ein Teil dieses Nachwuchses geht eben zur Polizei.
Gerade deshalb zeigen die Vorgänge im Zusammenhang mit der "Sonnenwendfeier" in Pretzien, wie sehr der Zentralrat der Juden in die Richtige Richtung kritisierte, als er in aller Deutlichkeit eine Korrektur im Umgang mit dem Thema der Judenverfolgung und dem Dritten Reich in den Schulen anmahnte. Allerdings ist es nicht so, dass die Schulen die schuldigen sind. Die Gesellschaft, Wir alle sind es, die versäumt haben mit dem Thema "Rechtsextremismus" angemessen umzugehen. Aus dieser Perspektive ist der Vorwurf aus Richtung der USA völlig berechtigt, dass wir Deutsche zur Verdrängung neigen und deshalb der Gefahr ausgesetzt sind, zu vergessen.
Verantwortung übernehmen ist es, wovor wir Angst haben. Verantwortung für uns und unsere Mitmenschen. Nur weil wir Angst haben irgendwelche Nachteile zu erleiden, haben wir unsere Zivilcourage und unser demokratisches Rückgrat gegen einen Vollkaskostaat eingetauscht, der uns von jeder Verantwortung freispricht, sei es im privaten wie im öffentlichen Leben.
Es ist gut, dass sich das ändert. Viele ewig Gestrige werden alles daran setzen auch weiterhin den Irrglauben zu verbreiten, Deutschland sei "außen vor", habe eine "Sonderstellung", stehe "unter besonderem Schutz". Leider wird es deshalb nur länger dauern und der Aufprall auf dem Boden der Realität noch härter werden.
Ich hoffe, dass bei diesem Aufprall nicht zu viele auf der Strecke bleiben, weil sie nicht gelernt haben, selber wieder aufzustehen.
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