Politik ist häufig eine Sache der Symbolik und der Symbolwirkung und so hatte man sich dort wohl gedacht, dass es sehr starken Symbolcharakter haben müsste, wenn führende Politiker des Landes eine Berufsschule besuchten und dort mit Schülern einer Lesung aus dem Tagebuch der Anne Frank und der Vorführung eines Schülerfilms beizuwohnen, der sich mit der Ermordung der Juden in Konzentrationslagern auseinandersetzt. Die Idee war wohl "Wir kümmern uns um Jugendliche und zeigen unser Interesse an dem Thema." Und so reisten Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU), Justizministerin Angela Kolb, Landtagspräsident Dieter Steinecke und der US-Generalkonsul Mark D. Scheland nach Schönebeck und ließen sich aus eben diesem Buch vorlesen.
Mal abgesehen von der sehr auffälligen zeitlichen Nähe des Besuchs von Onkel George in Stralsund und der Begleitung durch den US-Generalkonsul geriet die Lesung wohl eher zu einer Bankrotterklärung vor dem Thema und dem grundsätzlichen Problem. Zwar verkündete Böhmer zu Beginn der Veranstaltung:
"Ich bin gekommen, um die Verunglimpfung von fremden Staaten und die Verhöhnung von Opfern nicht hinzunehmen"Jedoch stellt sich schon hier die Frage, welche fremden Staaten denn bei den Vorgängen in Pretzien verunglimpft wurden. Ging es nicht um den Antisemitismus insgesamt? War das nicht ein internationales Thema? Oder leben Juden nur noch in einem einzigen Staat auf dieser Welt? Böhmer erklärt, dass es in Sachsen-Anhalt in der Tat Nachholbedarf in Sachen Rechtsextremismus gäbe. Er kündigt neue Projekte an, deren Umsetzung aber mehr als fraglich erscheint:
"Ich kann im Haushalt nichts umschichten. Dort sind uns die Hände gebunden. Wir haben den höchsten Schuldenstand aller Länder, deswegen müssen wir mit dem gleichen Geld mehr erreichen. Das ist die einzige Chance, die wir haben."Also ohne Förderung durch die Regierung und das Land sollen diese Projekte umgesetzt werden. Oder genauer: Auf Kosten anderer Projekte. Am besten "ehrenamtlich" und "durch Spenden finanziert". Das klingt sehr nach Hamletts "ich stehe hier, ich kann nicht anders". Nach der Lesung verteilt der Ministerpräsident Ausgaben des Tagesbuchs der Anne Frank und will diese Bücher nicht einfach als Geschenk verstanden wissen, sondern als Preis - "für Zivilcourage".
Zivilcourage? Die Zivilcourage, nicht an der Feier in Pretzien teilgenommen zu haben? Oder doch eher die Zivilcourage, nichts gegen diese Verantsaltung und ihre Organisatoren unternommen zu haben? Die Schulveranstaltung wird ja kaum gemeint sein, denn die Schule wird sich kaum die Blöße geben, die Veranstaltung "freiwillig" zu machen und die Politiker dann vor leerem Hause sitzen zu lassen. Das wird schon Pflichtprogramm gewesen sein. Liegt da nicht die Vermutung nahe, dass die Schüler das mehr oder weniger "auf Anordnung der Lehrer" taten? Zivilcourage ist dem Lehrplan zu folgen? Wie bitte? Und dann reist die politische Elite des Bundeslandes Sachsen-Anhalt nebst Generalkonsul der USA an, um sich sich zusammen mit den Schülern aus dem Buch vorlesen zu lassen. Ist da nicht sehr davon auszugehen, dass diese Schüler das Buch bereits kennen? Was also soll diese Geste, NACH der Vorlesung das Buch an die Schüler zu verteilen? Was hilft diese reichlich hilflose Symbolik gegen die Faschos? Oder sollen die Bücher den Grundstock für die nächsten "Sonnenfeuer" sein?
Es ist erschreckend mit anzusehen, wie hilflos die Politiker an diesem ernsten Thema herumlaborieren, wie konzeptionslos mal hier mal da um die Brennpunkte herumlaviert wird. Es werden keine nachhaltigen Maßnahmen ergriffen, sondern es wird schon vorweg die Entschuldigung dafür präsentiert, warum eben keine Maßnahmen folgen werden, und warum die Maßnahmen, die man sich dann doch zu ergreifen traut am Ende scheitern werden. Es wird in aller Offenheit dargelegt, dass man eben andere und folglich auch wichtigere Probleme zu lösen habe, zum Beispiel ein Grillfest.
Daneben ist der Bestand der freiheitlich demokratischen Grundordnung natürlich reichlich nebensächlich...
(Quelle: Spiegel Online, Land Sachsen-Anhalt)
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