Deutschland und Europa erleben wegen des schon vor gefühlten Ewigkeiten vorhergesagten Migrationsdrucks unvorstellbare Wandlungen in der Politik. Dabei hat schon im Jahr 2000 - das war vor 18 Jahren - die UNO von einer "Bestandserhaltungsmigration" gesprochen und gesagt: "Ohne Zuwanderung wird die Bevölkerung noch drastischer zurückgehen und noch rascher altern als nach den bisherigen Prognosen." Und: "ohne Bestandserhaltungsmigration (wird) ein Rückgang der Bevölkerung unvermeidlich sein".
Die Folgen beschreibt die UNO damals: "Der prognostizierte Bevölkerungsrückgang und Alterungsprozess wird tiefgreifende und weitreichende Folgen haben und die Regierungen zwingen, zahlreiche überkommene Maßnahmen und Programme im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich, so auch soweit sie die Zuwanderung aus dem Ausland betreffen, neu zu bewerten." "Die Zahl der Einwanderer, die notwendig ist, um ein Schrumpfen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter auszugleichen, übersteigt diejenige, die einen Rückgang der Gesamtbevölkerung ausgleichen würde, um ein Erhebliches."
Besonders bemerkenswert die Aussage: "Die Wanderungsströme, die notwendig wären, um die Bevölkerungsalterung auszugleichen (d. h. um das potenzielle Unterstützungsverhältnis aufrechtzuerhalten) sind extrem groß, und es müssten in allen Fällen weitaus höhere Einwanderungszahlen als in der Vergangenheit erreicht werden."
All diese Aussagen stammen aus der Zusammenfassung der Studie "Bestandserhaltungsmigration: Eine Lösung Für Abnehmende Und Alternde Bevölkerungen?" aus dem Jahr 2000. Im selben Jahr veröffentlichte die UNO eine Untersuchung, der zufolge Deutschland jährlich zwingend eine Zuwanderung von 6000 Menschen je 1 Millionen Einwohner braucht, um alleine den Anteil von Personen im arbeitsfähigen Alter an der Bevölkerung zu halten. Bezogen auf Deutschland und ausgegangen von 80 Millionen Einwohner sind das 480.000 Migranten. Jährlich.
Die Diskussion, die unsere Politiker führen und die Aussage, von der Migration überrascht worden zu sein, sind quatsch. Auch die These, dass man mit dieser Menge Zuwanderer überfordert sei, ist nicht etwa der Masse der Zuwanderer geschuldet, sondern der Unfähigkeit, dem Unvermögen und dem Unwillen des politisch-wirtschaftlichen Betriebs, die seit Jahrzehnten bekannten - weil offensichtlichen - Probleme ernsthaft zu bewältigen.
Gerade Deutschland hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs permanent Erfahrungen mit Zuwanderung und Flüchtlingen gesammelt. Teils erzwungen (Stichwort "Heimatvertriebene" Ende der 1940er Jahre), teils sogar darum bettelnd (Stichwort "Gastarbeiter" Mitte der 1950er Jahre). Seit Jahrzehnten sind die Folgen und Auswirkungen der Integrationspolitik spürbar, sichtbar und Gegenstand anhaltender Kritik.
Die Vorhersagen über die Entwicklung der Altersstruktur Deutschlands haben sich bislang als zutreffend erwiesen. Auch die Aussagen über die Bevölkerungsentwicklung ohne Zuwanderung entsprechen den Vorhersagen. Der Rückgang des Bevölkerungsanteils im Erwerbsfähigen Alter ist überall deutlich zu beobachten. Seit 2015 liegt in Deutschland die Sterbeqzahl stabil oberhalb der Zahl der Lebendgeburten. Die vorhergesagten Korrekturmaßnahmen wurden unter anderem durch die Agenda 2010 eingeleitet, aber auch durch permanente Änderungen an der Rentenformel, an Einführung der Besteuerung der Lebensaltersrente, Reduktionen am Leistungskatalog der Krankenkassen, Zusammenfassung (und damit einhergehender Kürzung) von Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung und vielen weiteren Maßnahmen mehr.
Es ist vermessen zu behaupten, dass die Politik das alles nicht habe kommen sehen. Darüber zu streiten, Deutschland sei nicht dazu in der Lage, Zuwanderung in solchen Massen zu verkraften, ist nicht nur nicht zielführend, es grenzt an Realitätsverweigerung. Was Deutschland nicht verkraftet, ist das Fehlen des politischen Willens. "Wollen erzeugt Fakten" besagt ein oft belächeltes Schlagwort, das aber gerade hier seine Tragweite und seinen Wahrheitsgehalt offenbart: Wer etwas wirklich will, sucht nach Wegen zum Ziel. Wer etwas nicht will, sucht nach Gründen für das Aufgeben oder das Vertagen von Zielen.
Die Politik hat auch die Aufgabe, Ideen und Visionen zu vermitteln. Diese Ideen und Visionen sind es, die als "Leitbild" zusammengefasst werden können. Damit ist nicht etwa die "Leitkultur" gemeint, um die in der Vergangenheit eine gänzlich gescheiterte und fehlgeleitete Debatte geführt wurde. Es geht vielmehr um den Begriff eines Leitbildes auf einer übergeordneten Ebene. Solche Leitbilder sollen Ideen greifbar machen, damit sie diskutiert werden können und so Initiativen, Debatten und Diskurse anstiften, die letztendlich zu Lösungen und wiederum neuen Zielen führen. Sie diktieren nicht Richtlinien oder Grenzen des Denkens sondern sind das exakte Gegenteil davon.
Gerade in der Migrations- und Integrationspolitik ist Deutschland spätestens seit den 1960er Jahren nahezu frei von jeglicher politischen Vision - Vielleicht abgesehen von der, dass Integration schon irgendwie passieren werde und Migration kein Thema wäre ("Multikulti") und aktuell der "Vision", Migration sei kontrollierbar oder wenigstens steuerbar. Ich stelle mir die Frage, ob den so Argumentierenden die hinreichend gut dokumentierten Beispiele solcher Vorstellungen aus der Geschichte bekannt sind. Ob sie diese verstanden haben oder überhaupt verstehen wollen, darüber traue ich mich gar nicht erst zu spekulieren.
Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die kritische Masse der Folgen nicht stattfindender Integration, gepaart mit der Unvorhersagbarkeit und Unsteuerbarkeit von Migration, nicht nur bereits erreicht, sondern mancherorts bereits überschritten wurde. Solingen, Freital, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen auf der einen, Köln, Frankfurt, Berlin, Troisdorf auf der anderen Seite sind vielleicht die plakativsten Beispiele. Das Ausmaß des Dramas zeigt sich besonders in der Aussage des BKA im November 2017: Pro Quartal wurden 2017 rund 70 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verübt, die allerdings als einzelne Straftaten verbucht wurden. 46.057 Asylbewerber/Flüchtlinge waren 2017 Opfer einer Straftat. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Dem gegenüber stehen 167.268 Delikte der "Allgemeinkriminalität" durch "tatverdächtige Zuwanderer" (BKA). Erfolgreiche Integration sieht anders aus.
Die Folgen lassen sich, trotz vereinzelter Versuche seitens der Bundespolitik, nicht mehr als "Einzelfälle" beiseite schieben. Das Thema beherrscht die Gazetten und Netzwerke, im Großen wie im Kleinen, ohne jedoch greifbare Ideen zu produzieren, von halbwegs realistischen Lösungen ganz zu schweigen. Aktuell sind Zentren (lies: Sammellager) für Asylbewerber der große Hype und die angebliche Lösung aller Probleme.
Sogenannte "Anker"-Zentren will man jetzt in Deutschland bauen, um Migranten zu sammeln und zu betreuen, bis geklärt ist, ob sie bleiben dürfen bzw. können. Prima Plan. Auf dem Papier liest sich das toll: Migrant kommt, beantragt Asyl, wird ins Ankerzentrum gesteckt, Behörden "tun Dinge", Gerichte "tun Dinge". Irgendwann erfolgt die Entscheidung, darf bleiben oder nicht. "Maximal sechs bis acht Wochen" soll das Prozedere dauern, so der aktuelle Plan. Im Ausland sollen ähnliche Sammellager entstehen. In Syrien, Libyen, Marokko, Ägypten, Libanon, Tunesien sollen solche Lager entstehen. Anekdote am Rande: Afrikas Staats- und Regierungschefs gaben heute im Rahmen des Gipfeltreffens der Afrikanischen Union bekannt, dass sie die Ideen des EU-Gipfelbeschlusses zum Thema Migrationszentren im Ausland offenbar geschlossen ablehnen.
Selbst wenn sich alle Migranten tatsächlich freiwillig der Zwangsinternierung in solchen Lagern unterwerfen würden - woran zurecht erhebliche Zweifel gestattet sind, wie uns z. B. die Geschichte der Migration in den USA, im Nahen und Mittleren Osten und in Asien bildhaft lehrt - stellen sich für die Lager in Deutschland ganz praktische Fragen. Da gibt es die Frage nach den Standorten (nein, Länder und Kommunen reißen sich eben nicht darum, sowas auf dem eigenen Boden zu haben, im Gegenteil. Siehe z. B. Mannheim, Dresden, Bamberg, Niedersachsen, Bremen, Sachsen Thüringen), die Frage der Bezahlung von Aufbau und Instandhaltung, Versorgung, Infrastruktur, ärztlicher Betreuung und vieles mehr.
Wer "bewacht" eigentlich diese Zentren? Die Bundespolizei? Dieselbe Bundespolizei, die auch an den 3.700km Grenze zum Ausland die Zuwanderung überwachen wird, ja? Mit seinen 42.500 Bediensteten (die aktuell im Schnitt "nur" mehr als 53 Überstunden pro Bedienstetem permanent vor sich her schieben, ohne Chance auf Abbau, während "eigentlich" nur 20 arbeitsrechtlich erlaubt sind) darf diese Bundesbehörde zusätzlich noch Lager bewachen, in denen bis zu 200.000 Menschen inhaftiert interniert sind? Interessante Idee.
Die BAMF-Außenstellen haben schon heute eine mindestens bemerkenswerte Personalsituation. Diese Außenstellen müssten Filialen in oder in unmittelbarer Nähe zu diesen Zentren schaffen. Dafür finden sich bestimmt jede Menge Freiwillige. Der Run auf die Stellen beim BAMF ist legendär: Wenn es einen sicheren, attraktiven Arbeitsplatz gibt, dann doch wohl diesen: Als befristet Angestellter für wenig Geld umziehen an den Arsch der Welt und dafür in einem kasernierten Umfeld bürokratische Fließbandarbeit leisten...
Aber sei es drum. Angenommen, die notwendigen Bediensteten bei Bundespolizei, Gesundheitsamt, Zoll, BAMF & Co. fallen vom Baum. Dazu kommen aber noch Dolmetscher, Anwälte und Richter. Nicht nur, dass gerade letztere schon jetzt - um es mal ganz vornehm zu formulieren - äußerst reserviert auf das Ansinnen reagieren, quasi als "Erfüllungsgehilfen eines politisch diktierten Behördenwillens" eingesetzt zu werden. Diese Richter nehmen wir doch gleich wo her? Es ist ja nicht so, dass unsere Amtsgerichte unter einer Schwemme von Richtern und Bewerbern auf Richterstellen oder gar massenhaft unbesetzter Planstellen leiden. Eher im Gegenteil. Auch die Idee, im beschleunigten Ausbildungsverfahren sozusagen "Hilfsrichter" für diesen Zweck zu schaffen, starb bereits vor Jahren bei ihrer ersten vorsichtigen Formulierung den spontanen Hitzetod auf dem Boden der Realität, als vorsichtig über die bundeseinheitliche Anstellung von "Hiolfspolizisten" nachgedacht wurde.
Die Hilflosigkeit der Politik wird auch noch befeuert durch eine in nackter Panik agierende Kleinpartei aus Bayern, die nichts mehr zu fürchten scheint, als den Unwillen des Wählers in der nächsten Landtagswahl. So groß ist die Panik, dass selbst der nach eigenen Worten sehr auf die Präzision von Sprache achtende Bundesminister für Inneres, Bau und Heimat Horst Seehofer, sich mit Schlagworten wie "Asyltourismus" weit außerhalb des objektiv Tragbaren bewegt. Aber er ist lediglich plakativstes Beispiel in einer langen Reihe. Alle Parteien scheinen unter der Last der Folgen eigener Versäumnisse der Vergangenheit einzuknicken. Jede Partei scheint im Augenblick das eigene Glück irgendwo zwischen Begrenzung und Kontrolle und Verhinderung jeglicher Zuwanderung zu sehen und sondiert vorsichtig oder propagiert offen entsprechend restriktive Parolen, sei es "Der Islam gehört nicht zu Deutschland" oder "Migration muss an den Grenzen kontrolliert und gesteuert werden" oder "Wir können nicht alle aufnehmen".
Die Absurdität der Debatte, die sich in der aktuellen Heftigkeit einzig an der vermeintlichen Existenzangst einer in erster Linie vom Lokalkolorit am Leben gehaltenen Regionalpartei zu entzünden scheint, entpuppt sich aber in aller Deutlichkeit an einer ganz anderen Stelle, nämlich an der Katastrophe der Pflege in Krankenhaus und Altenversorgung.
Die Politik hat vermutlich verstanden, dass hier, in der Pflege, der Kollaps noch näher bevorsteht, als in der Debatte um die "illegalen Ausländer", die man glaubt, mit mehr oder weniger viel Symbolpolitik und Zahlenspielerei und ein oder zwei Plastiktüten Bargeld vertagen und unter den Tisch kehren zu können. Das Thema Alten- und Krankenpflege enthält weit mehr Sprengkraft, denn bei diesem Thema kann die Schuld eben nicht "äußeren Umständen", einer "Asylindustrie" oder "unvorhersehbaren Entwicklungen" zugeschoben werden. Dieses Problem ist für jeden erkennbar hausgemacht und deshalb eine Gefahr für alle politischen Akteure, insbesondere aber für alle regierenden Parteien.
Es ist seit mindestens 2010 bekannt, dass im Jahr 2025 193.000 ausgebildete Pflegekräfte fehlen werden. Die Wirtschaft geht seit demselben Jahr sogar von voraussichtlich 480.000 unbesetzten Vollzeitstellen bis 2030 in der Pflege aus. Die oft als "marktliberal" bezeichnete Bertelsmann Stiftung geht sogar von 500.000 fehlenden Vollzeitkräften aus. Die vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzte Expertenkommission "Pflegepersonal im Krankenhaus" kommt Ende 2016 auf einen Mehrbedarf von gerade mal 1.222 bis 6.034 Pflegekräften für alle Krankenhäuser in Deutschland zusammen. Die Zahlen sind durchaus zu hinterfragen, denn sie sind nicht frei von Interessen Dritter.
Allerdings: Genaue Zahlen gibt es für die aktuelle Unterbesetzung nicht. Während der Arbeitgeberverband Pflege von 30.000 unbesetzten Stellen ausgeht, gibt es laut Gewerkschaft ver.di 70.000 offene Arbeitsplätze. Der Deutsche Pflegerat wiederum schätzt den akuten Mangel auf 100.000 Pflegekräfte, die allein in den Krankenhäusern Deutschlands fehlten.
Vor diesem Hintergrund wird klar, warum mein derzeit amtierender Minister für alles, Jens Spahn (CDU), die angekündigten 10.000 neuen Pflegekräfte als einen "ersten Schritt" bezeichnete. Die Frage allerdings, wo die ganzen Pflegerinnen und Pfleger denn herkommen sollen, beantwortete er bislang eher nebulös mit Anreizen zur Rückkehr von Aussteigern aus dem Beruf und vermehrten Anwerbungen im Ausland. Jetzt wurde er konkreter. Aus dem Kosovo und Albanien will er die fehlenden Arbeitnehmer importieren.
Der geneigte Leser weiß, dass der Kosovo und Albanien politisch schwierige Situationen durchleben. Zwar ist Albanien seit einigen Jahren offiziell Beitrittskandidat zur EU. Für den Kosovo gilt das allerdings noch nicht. In beiden Fällen ist die internationale Politik nicht gerade hocherfreut über die Idee, diese Länder in die EU aufzunehmen. Dazu kommt, dass in beiden Ländern eine überwältigende Mehrheit (Kosovo 95,61%, Albanien 56,70%) Muslimischen Glaubens sind. Während sich in Albanien immerhin noch fast 17% der Bevölkerung dem christlichen Glauben zugehörig fühlen, sind im Kosovo quasi keine Christen beheimatet (alle 38.000 Katholiken im Land sind ausnahmslos Albaner).
Die Debatte um die Zuwanderung dreht sich insbesondere um kulturelle Differenzen. Niemand hat bei der Debatte Migranten aus z. B. den Niederlanden oder Spanien oder der Schweiz im Blick. Es geht fast ausnahmslos um diejenigen, die aus Afrika und dem Nahen Osten einwandern wollen. Und da gerade um jene, die nicht dem christlichen Glauben angehören. Angstworte wie "Islamismus" und "Islamisierung" sind inzwischen nahezu selbsterklärende Attribute für die Ablehnung solcher Migranten geworden.
Auch mein Bundesminister für alles von der CDU, Jens Spahn, sieht den Islam durchaus problembehaftet. Sagte er jedenfalls in einem Interview neulich. Er sieht die Verbreitung konservativer Strömungen des Islam in Deutschland mit Sorge. "Nicht alles, was kulturell anders ist, ist per se bereichernd. Ich kann ein rückständiges Frauenbild, Zwangsheirat oder Ehrenmord nicht als bereichernd empfinden", sagte er. Dem kann ich bis hier hin folgen. Aber er sagte eben auch: "Religionskritik war früher eher etwas Linkes." Äh... nein. Hier offenbart Mein Universalminister fulminante Wissenslücken.
Weiter behauptet er: "Heute gilt man als rechts, wenn man den Islam kritisiert." Ich weiß spontan nicht, wie er auf diesen Trichter kommt, aber vermutlich hat er entsprechende Erfahrungen gemacht. Weiter sagt er: "Wenn Grüne und Linke so kritisch mit dem Islam umgehen wie mit der katholischen Kirche, wäre ich schon zufrieden." Gut, man kann nicht alles erinnern, was Volker Beck so gesagt hat. Oder Cem Özdemir. Eine inhaltliche Differenzierung der Forderungen des politischen Gegners, die am Ende vielleicht zu dessen Vorteil gereicht, ist wohl auch etwas viel verlangt. Immerhin hat er in Bezug auf die Linke insofern Recht, als dass diese Partei im Kern über diesen, für diese Partei offenen, Standpunkt lieber schweigt, wohl auch, um den heftigen internen Grabenkrieg um dieses Thema zu kaschieren. Aber nun ja.
Damit aber nicht genug. Spahn forderte die Tage im selben Interview ebenfalls eine Debatte über den Begriff "Leitkultur". Ja, genau das, was ich weiter oben eben nicht meinte. Er definiert diese Leitkultur als Zusammenfassung, als "ungeschriebene Regeln, die Orientierung, Sicherheit und Heimat bieten sowie Freiheit ermöglichen". Diese sind seiner Meinung nach nicht starr, sondern entwickelten sich stetig weiter, sind aber dennoch letztendlich für alle verbindliche Denk- und Verhaltensschranken.
Ich bin mir nicht sicher, ob Ich-kann-alles-Minister Spahn sich erinnert, wie der letzte Versuch dieses Thema zu politisieren verlief. Wahrscheinlich weiß er es aber nur zu genau. Gerade weil er bemängelt, dass sich in den letzten Jahren viele "im Multikulti verheddert" haben. Die negative Darstellung der Idee des "Multikulti" hängt direkt mit dem von ihm versuchsweise wieder ausgebuddelten Zombie der Diskussion um die "Leitkultur" zusammen.
Ob der schon als neuer Heiland der konservativen Mitte der CDU propagierte Universalkönner tatsächlich nicht weiß, dass er unsere Eltern und Großeltern genau von denen pflegen lassen will, die er gleichzeitig gar nicht erst als Teil Deutschlands sieht, halte ich für fraglich.
Bemerkenswert finde ich das alles aber am Ende schon deshalb, weil es zeigt, wie scheinheilig und inhaltsfrei die ganze Debatte um Asyl, Migration und Integration nach all den Jahren und Misserfolgen noch immer auf höchster politischer Ebene tatsächlich ist. Auf der einen Seite "die Ausländer" mit Händen, Füßen und notfalls sogar Waffengewalt draußen halten, während man sie hintenrum wieder als billige Hilfsarbeiter zu tausenden ins Land holt, weil hier selbst mit staatlich angeordnetem Zwang niemand mehr dazu bewegt werden kann, sich diesen beinharten Job für den der staatlich gewollt profitorientierten Pflegeindustrie vorschwebenden Hungerlohn anzutun. Und das ist der eigentliche Skandal, denn dieses scheinbar unwesentliche Detail offenbart bei näherem Hinsehen, dass die tatsächlichen Motive hinter diesen beiden scheinbar weit voneinander entfernten politischen Debatten ganz andere sind als "kulturelle Integrität", "Sorge um Gesundheit und Wohlergehen" oder sonstwas.
Naja. Die nächsten Wahlen kommen bestimmt und bis dahin können wir Wähler ja alle wieder eine ganze Menge vergessen...
Bild: shellytorok / Pixaby; Olaf Kosinsky / Wikimedia; Ralf Roletschek / Wikipedia; Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Freiburg, W 110/2 Nr. 0148; Gabriele Senft / Wikimedia / Bundesarchiv Bild 183-1985-1206-002;
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