Samstag, 8. September 2007

Ich hab da mal ne Frage.

DenkmalEs beruhigt mich immer wieder, dass ich mich noch wundern kann. Meine Fähigkeit, mich über meine Umwelt zu wundern, ist für mich so etwas wie eine Pegelmarke für den allgemeinen Wahnsinn und meine geistige Gesundheit. Viele Dinge, über die ich mich wundere, finden ihren Weg hierher. Viele, aber nicht alle. Inzwischen ist zum Beispiel der Anteil des technischen Schwachsinns zugunsten der politischen Themen zurückgegangen, aber das muss ja nicht so bleiben, nur wiederholt sich der Blödsinn mit dem Firmen zur Zeit versuchen Geld zu machen zur Zeit doch sehr stark, während sich im Zusammenhang mit der Politik der Unfug scheinbar galoppierend ausbreitet.

Was mich dabei in maßloses Staunen versetzt, ist nicht so sehr die Tatsache, dass Politiker gnadenlos den scheinbar allergrößten Schwachsinn von sich geben. Mich erstaunt auch nicht so sehr, dass vieles von dem Unfug in der großen und der kleinen Politik scheinbar völlig unbemerkt passiert. Was mich vielleicht viel zu oft wirklich sprachlos macht (darum ist so wenig davon zu lesen), sind die wenigen Reaktionen auf politische Themen, zu denen manche Menschen so ihre Meinungen öffentlich loslassen und wie weit sich diese manchmal außerhalb meiner Vorstellungskraft bewegen.

Nur ein Beispiel: Der gerade eben 17jährige M. macht Urlaub. Er lernt er die fast 14jährige C. kennen und es geschieht, was bei Jugendlichen in diesem Alter heutzutage nicht unüblich ist: Sie kommen sich näher, wollen ihre Sexualität erfahren. Irgendwie kommt es aber nicht so, wie in der "perfekten Romanze", sondern sie klemmt ab, er ist gefrustet, sie bekommt Panik, rennt zu Mama. Ab hier wird es interessant, denn die Mutter hat keine bessere Idee mit dem Problem umzugehen, als den Jungen anzuzeigen. Ich mein klar, was liegt bei solchen Dingen auch näher als erstmal zur Polizei zu rennen?

All das wäre weitgehend uninteressant, wenn nicht das Mädchen eine Engländerin, der Junge ein Deutscher und der Ort des Geschehens ein international prominenter Urlaubsort in der Türkei gewesen wäre. Dort (in der Türkei) nimmt man Vorwürfe der Vergewaltigung minderjähriger Mädchen, besonders durch Ausländer, ziemlich ernst. Und so wurde M. verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, weil deren Rechtssystem das so vorsieht.

JustiziaUnd hier? Nachdem der Junge jetzt schon etliche Wochen im Knast sitzt, wird hierzulande am Stammtisch pauschal die Unschuld des Jugendlichen unterstellt. Zwar hat keiner der studierten Juristen aus der Eckkneipe auch nur annähernd einen Schimmer vom Rechts- geschweige denn vom Justizsystem der Türkei, keiner war dabei, keiner hatte Akteneinsicht, aber jeder kennt alle Fakten, die Beweislage und natürlich auch die einzig richtigen juristischen Folgen: Schuld kann der junge M. nicht sein. Das ist völlig ausgeschlossen. Die Türken wollen sich bloß an den Deutschen rächen.

Nicht nur wird von vorne herein ausgeschlossen, dass der türkische Staat irgendein Recht dazu hätte, auf seinem Grund und Boden begangene Straftaten aufzuklären und entsprechend seines eigenen Rechtssytems zu verfolgen, nein, es wird auch pauschal unterstellt, dass man als Deutscher, zumal als Tourist, ja sowieso im Ausland mehr oder weniger diplomatische Immunität besitzt, weil es ja völlig unzumutbar sei, alle Regeln im Ausland zu kennen, wo man doch schon mit dem Rechtssystem im eigenen Land genug Stress hat.

Sicher, gehört hat man den Grundsatz schon irgendwann einmal, dass Unwissenheit nicht vor Strafe schützt, aber das kann ja wohl nicht ernsthaft in ausgerechnet diesem Fall gelten. Und überhaupt: Waren die Türken nicht sowieso diejenigen, die sich um Menschenrechte nicht kümmern und in deren Gefängnissen sowieso jeder gefoltert wird? Warum mischt sich die deutsche Regierung eigentlich nicht ein und wieso schmeißt man die Türken nicht wieder aus der EU raus? Fragen, die für die Politprofis vom Stammtisch der Eckkneipe allen Ernstes nur einen für sie logischen Schluss zulassen:

Wäre dieser Fall in Deutschland passiert und der Junge wäre Türke, die Justiz würde sich ähnlich penibel verhalten, wie die in der Türkei jetzt, wir hätten hier schon längst in Massen Unruhen und Anschläge erlebt und "die Türken" hätten schon gewaltsam dafür gesorgt, dass der Fall ganz schnell im Interesse der Türkei behandelt wird. Bunt werden Erlebnisse mit kurdischen Extremisten der verbotenen PKK als "Ausschreitungen der Türken" abgestempelt und die nicht immer friedlichen und doch mindestens befremdlichen Demonstrationen im Zusammenhang mit den Mohamed-Karikaturen, die in diversen fundamentalislamistischen Regionen im Nahen und Fernen Osten und Asien stattfanden, werden komplett der Türkei angelastet.

Jeep brennt im IrakErgo? Ist doch klar! Die Türken sind doch sowieso alle extrem in ihren Ansichten und ihrem Auftreten und ihren Reaktionen und überhaupt sind Türken sowieso juristisch und politisch vollkommen inkompetent. Und überhaupt ist es doch Fakt, dass es doch überhaupt nur darum gehen kann, wie wir darüber denken, was da mit diesem armen 17jährigen angestellt wird und ob das so nach unserer maßgeblichen Vorstellung rechtens ist und mit Rassismus und Ausländerfeindlichkeit hat das alles überhaupt nichts zu tun...

Man mag glauben, dass das alles eine reine Fiktion sei, dass ich mir Argumentation, Inhalte und das gesamte Geschehen ausgedacht habe. Leider ist das nicht so. Es gibt tatsächlich Menschen, die exakt so argumentieren, die über ein ganzes Volk Pauschalurteile fällen, diesem Volk jegliche Rechtstaatlichkeit absprechen, ihrem kompletten Rechtssystem jegliche Gültigkeit verweigern, das Volk in Gänze pauschal zu religiös verblendeten Fanatikern erklären und ihm unterstellt, in jedem Falle zu terroristischen Methoden zu greifen, um sich dann hinzustellen und entrüstet zu behaupten, man sei ja gar kein Rassist und das jetzt zu unterstellen sei ja doch ein reines Herumreiten auf Details und das Aufblasen von Spitzfindigkeiten.

Nur für das Protokoll: Die Türkei ist ein souveräner Staat, der auch von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt ist. Die Türkei hat ein eigenes Rechtssystem, das sich von unserem in einigen Punkten vielleicht grundlegend unterscheidet, aber das gilt auch für andere Staaten - man denke da nur an die USA mit ihren Prozessen um Schadensersatz oder die Todesstrafe. Allerdings wird wohl kaum jemand auf die Idee kommen und den USA unterstellen, dass deren Rechtssystem alles andere, aber kein Rechtssystem ist und die USA deshalb eigentlich schon aus Prinzip gar nicht selber Recht sprechen dürfen, es sei denn, sie fragen vorher in Deutschland nach.

TuerkeiIn der Türkei gibt es bestimmt eine Menge Moslems, deren religiöse oder religiös motivierten politischen Ansichten uns vielleicht nicht passen und deren überzeugtes Auftreten in Bezug auf ihre Religion uns vollkommen wesensfremd und auch ein gutes Stück weit unheimlich ist (Wie schon sinngemäß woanders gesagt wurde: "Jemand, der seine Religion ernst nimmt? Für einen Christen undenkbar!") Auch ich will gar nicht verheimlichen, dass ich mit etlichen Vorhaben und Ideen einiger Moslems so meine Probleme habe, aber das ist auf die Religion und die Art des Auftretens einiger ihrer Anhänger bezogen und nicht auf einen bestimmten Staat oder ein Volk. Die Türkei hat auch bestimmt ein gerüttelt Maß an politischen und innerstaatlichen Problemen, die auch ich gerne mal kritisiere, angefangen bei diversen Fragen zu Thema Gleichberechtigung, über den großen Fragenkomplex Folter bis hin zum Thema Minderheiten, wie zum Beispiel Kurden, aber der Grundsatz des Rechts auf das Kritisieren von Fehlern im System gilt in Bezug auf jeden anderen Staat auch und ich mache da erst recht keine Ausnahme bei meinem eigenen Heimatland.

Die Türkei darf und muss bestimmt in vielen Punkten kritisiert werden und man darf bestimmt auch der Türkei in vielen Punkten einige Vorhaltungen machen. Gerade anhand der Beitrittsverhandlungen zur EU kann man deutlich sehen, dass viele Kritikpunkte nicht nur von einer kleinen Minderheit so gesehen werden. Allerdings muss man der Tükei auch zugestehen, dass sie sich redlich bemüht, unseren Vorstellungen gerecht zu werden, um überhaupt in die EU hineingelassen zu werden - nicht immer mit Zustimmung der eigenen Bevölkerung.

Auch darf man durchaus fordern, dass sich die Justiz eines Staates an die Regeln der Rechtstaatlichkeit hält und man darf auch verlangen, dass die Menschenrechte geachtet werden. Beides ist eine Selbstverständlichkeit. Aber das war es dann auch schon weitgehend mit den erlaubten Forderungen für Außenstehende. Wir hier in Deutschland würden es uns völlig zu Recht verbitten, wenn irgendein ausländischer Politiker anfinge, sich in unsere Gerichtsbarkeit einzumischen und beginnt, in einen laufenden Prozess einzugreifen. Genau dasselbe Recht steht jedem anderen Staat zu, auch der Türkei. Und von diesem Recht hat sie völlig zu Recht Gebrauch gemacht.

Es mag uns seltsam erscheinen, dass die Gerichte der Türkei diesen Fall so behandeln, wie sie ihn behandeln. Es mag uns nicht in den Kram passen, dass die türkischen Gerichte nicht einsehen wollen, dass es vielleicht politisch besser wäre, diesen Fall möglichst schnell aus der Welt zu schaffen. Aber das ist nunmal Kennzeichen der Gewaltenteilung: Die Judikative ist in ihrer Entscheidungsfindung rein verfassungsrechtlich völlig unabhängig von den Wünschen, Vorstellungen und Anweisungen der Exekutive. Man mag es kaum glauben, aber das ist auch bei uns so. Es mag uns auch fürchterlich aufregen, dass ein Jugendlicher in der Türkei auch mal mehrere Monate im Knast sitzen darf, weil deren Gesetzgebung das nun mal so hergibt. Aber das ändert nichts daran, dass das eben das Rechtsystem der Türkei ist, und nicht das von Deutschland.

Pakistan Extremisten Islamisten Anti Israel Demonstration mit Schild God Bless HitlerSich über diese Frustration dahingehend zu versteifen pauschal alle Türken zu potentiellen Extremisten und gewaltbereiten religiösen Fanatikern abzustempeln, geht meiner Meinung nach zu weit und ist - ebenfalls meiner Meinung nach - sehr wohl ein deutliches Zeichen für eine sehr weit fortgeschrittene und tief verwurzelte Ausländer- oder allgemeiner: Fremdenfeindlichkeit. Einem Volk pauschal und ohne Ansehen der Person bestimmte Eigenschaften zuzuordnen, ist Kennzeichen des Rassendenkens. Es ist gerade diese Einteilung der Menschen anhand ihrer Herkunft in bestimmte Gruppen, bei gleichzeitiger Unterstellung von unveränderlichen Merkmalen und Charakterzügen, die den Rassismus ausmacht, denn es ist exakt dieses Denkmuster, dem die erst auf dieser Grundlage mögliche, dann aber auch naheliegende Unterscheidung nach "besser" und "schlechter", nach "überlegen" und "unterlegen" auf dem Fuße folgt.

Was mich jetzt so sehr verwundert? Die Leute, die im Brustton der Überzeugung so argumentieren, wie oben gezeigt, bezeichnen sich selber als äußerst tolerant, friedfertig und weltoffen, würden am liebsten jedem an den Hals gehen, der ihnen in irgendeiner Form extremes Gedankengut unterstellt, sei es nun Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Nationalismus oder egal was. Sie sehen sich selber darüber hinaus nach eigenem Bekunden durchaus in einer erzieherischen Rolle und einflussreichen Position gegenüber der jüngeren Generation und sind stolz darauf, dass sie einen lenkenden Einfluss auf die sie umgebenden jüngeren Leute haben. Das Problem? Ihre Peers bestätigen deren Einstellung als richtig und kritische Stimmen werden gemeinschaftlich "niedergemacht", weil man den so Argumentierenden gefälligst nicht zu widersprechen hat.

Ich frage mich ernsthaft, ob ich hier irgendetwas falsch sehe, was ich ehrlich gesagt eher bezweifle. Ich frage mich ob das, was ich nicht nur in diesem Beispiel in diesem nicht unbedingt kleinen und instinktiv für dieses Problem eher völlig unverdächtigen Personenkreis unmittelbar beobachte, vielleicht doch mehr ist, als nur ein erstes schwaches Warnsignal.

Was meint Ihr dazu? Und vor allem: Was tun?

5 Kommentare:

  1. Ein sehr interessanter Fackt ist auch, dass solche Leute oft zu jenen gehören, die eine härtere Bestrafung von Sexualstraftätern in Deutschland fordern...andere Länder dürfen dies aber anscheinend nicht?

    Und zur Gleichberechtigung in der Türkei, lieber Adger, gibt es in der Türkei wesentlich mehr studierende Frauen und auch Frauen in führenden beruflichen Positionen. Die von uns so oft angebrachte Unterdrückung bezieht sich ehr auf andere Länder des muslimischen Glauben und auf kleinere Provinzen in der Türkei.

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  2. da hilft eigentlich nur eins: reden, reden und noch mehr reden - mit sachlicher argumentation dagegen halten, so gut wie es nur geht. ist zwar teilweise schwer, weil es leute gibt, die von ihrer eigenen meinung derartig überzeugt sind, dass sie kaum ein argument gelten lassen (sei es noch so gut), aber was bleibt einem anderes übrig? dem wahnsinn gegenüber resignieren? no way!!!

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  3. @blablam: Einige Leute haben einen geistigen Horizont mit dem Radius Null hat. Diesen nennen diese Leute dann "Standpunkt".

    Ich bin zwar überzeugt davon, dass der Junge da unschuldig ist, aber das sollen die bitte sehr mal selber rausbekommen. Und meine Wut richtet sich in diesem Falle nicht gegen das türkische Rechtssystem, sondern gegen die britische Mutter, deren eigentliche "Schuld" es ist, dass da jemand im Knast gelandet ist.

    Wenn es denn tatsächlich eine Vergewaltigung gegeben haben sollte, dann hat der Junge da auch die örtliche Strafe zu erwarten. Alles, was er hoffen kann ist, dass er für den Vollzug der Strafe nach Deutschland überstellt wird (Auslieferungsersuchen als Stichwort). Aber das kann es auch erst nach einer Verurteilung oder, was ich eher denke, einem Freispruch geben.

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  4. Interessant, auf die nächste Urlaubssaison zu warten. Wenn dann mal eine britsche Familie in Deutschland Urlaub macht... wenn der Vorwurf, sich einer 13-jährigen sexuell vergangen zu haben, einem Türken (oder auch Italiener, Jugoslaven, Russen... egal) gemacht wird.

    Interessant, wer dann fordert, den ja sicherlich Unschuldigen freizulassen, und wie gewisse Massenmedien (gedruckte wie gesendet) auf Blöd-Niveau sich dann engagieren werden, um endlich Recht in das verwahrloste Rechtssystem der Bundesrepublik zu bringen - und gegen die unhaltbaren Zustände in bundesdeutschenKerkern anprangern. So oder so ähnlich.

    Und ich gebe Deichshaf Recht: Danke, liebe Mammi, lern doch mal, daß Dein Kind, wenn es denn nachts in Discos unterwegs ist und sich betankt, in Jungen sicherlich nicht mehr nur Barbi-Puppen-Halter sieht...

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  5. ich glaube ich habe mal gehört/gelesen/gesehen, dass die mutter streng katholisch ist - das würde in dieser hinsicht schon einiges erklären: "meine wohl erzogene, streng gläubige tochter würde sich doch niemals einem so verderbten lüstling hingeben!" so oder so ähnlich werden ihre gedanken sein. dem entsprechend wird die tochter sendepause haben, denn in ihrem geschockten zustand, weiß sie ja eh nicht mehr was richtig oder falsch ist... ist nur ein mögliches gedankliches scenario der beweggründe der mutter. mir ist es reichlich egal, ob an der ganzen chose was dran ist, oder nicht... bevor man sich eine eigene meinung bildet, sollte man aber möglichst alle optionen betrachtet haben... (verdammt: genau das hat mir meine deutsch-lehrerin in der 11. und 12. klasse gepredigt. hatte sie evtl doch recht? ^^)

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