Die Haltung und Intention der politischen Akteure wirft völlig zurecht tiefgreifende Fragen auf. Was geht in einem Politiker vor, wenn der sich als amtierender Ministerpräsident und erst auf massiven öffentlichen Protest deutlich widerstrebend öffentlich bereiterklärt, den mehr als fragwürdigen Begriff des "Asyltourismus" nicht mehr zu verwenden:
"Für mich persönlich gilt: Ich werde das Wort Asyltourismus nicht wieder verwenden, wenn es jemanden verletzt"
(Markus Söder, CSU)
"Wenn es jemanden verletzt"? Entschuldigung? Was ist das denn bitte für eine Haltung gegenüber den Grundwerten, die zu verteidigen er sich verpflichtet hat? Wenn ihm die Worte des Grundgesetzes nichts bedeuten, im Grundsatzprogramm der CSU steht: "Das C in unserer Partei steht für die christliche Werteorientierung. Unsere Grundwerte leiten sich aus dem christlichen Menschenbild ab. Auf Basis dieser Werte gestalten wir eine Ordnung, die ein Leben in Würde, Freiheit und Verantwortung ermöglicht. Im Zentrum unseres Denkens steht kein abstrakter Gesellschaftsentwurf. Bei uns ist der Mensch im Mittelpunkt, mit seiner unantastbaren Würde, seiner Freiheit und seiner Verantwortung. Unsere Partei steht allen Menschen offen, die sich zu diesen Grundwerten und unseren Zielen bekennen – unabhängig von ihrem persönlichen Glauben."
Wie war das noch mit dem Gebot der christlichen Nächstenliebe? Markus 12,29 ff. ein Begriff? Nein? Na dann ist das christliche Gebot der Feindesliebe wahrscheinlich noch weniger geläufig. (Findet man bei Matthäus 5, 43-48) Natürlich ist es viel verlangt, die Implikationen daraus in Gänze selber zu erdenken, darum hilft man uns sogar mit dem Konzept des Barmherzigen Samariters (Wem auch das nichts sagt: Lukas 10, 25-37)
Wie wenig diese Konzepte bei der Einlassung des Bayrischen Königs in Wartestellung auch nur im Ansatz eine Rolle gespielt haben, zeigt der aber Nachsatz: "Diese Entscheidung ist unabhängig von meiner persönlichen Wertung, wichtiger ist aber, dass Wortdebatten sinnvolle Sachfragen nicht verhindern dürfen." Er benutzt "Asyltourismus" nicht etwa deshalb nicht mehr, weil er erkannt hat, dass dieses Wort an Verachtung für die Situation der Flüchtlinge kaum zu übertreffen ist. Im Gegenteil. Er will das Unwort nicht mehr benutzen, weil er befürchtet, es könnte eine Sachdebatte verhindern.
Bei den Neo-Nazis weiß man wenigstens, woran man ist. Die machen kein Geheimnis aus ihrer menschenverachtenden Ideologie. Bei diesem Menschenschlag aber... da fehlen mir die Worte. Beruhigend, dass ich nicht der einzige bin. Aus nahezu allen politischen Lagern in Deutschland wurde die Wortwahl von Seehofer, Söder & Co kritisiert. Nun mag die CSU sich über Kritik von SPD, Linke, Grüne oder FDP vielleicht noch amüsieren. Aber wenn eine der historischen Parteigrößen der CDU und nach Angaben von Horst Seehofer engem persönlichem Freund der Parteiführung das Wort ergreift, dann sollte man selbst im Elfeinbeinturm an der Mies-van-der-Rohe-Straße 1 anfangen zuzuhören. In der CDU sowieso.
Norbert Blüm schrieb in der Süddeutschen - quasi der Haus und Hof Zeitung der Bayrischen Regierung:
"Eine Volkspartei ist etwas anderes als eine "Sammlungsbewegung", der es vor allem auf die Maximierung der Massen ankommt. Und das C im Parteinamen ist kein Besitzanspruch an Wähler, sondern eine Selbstverpflichtung der Partei, ihre Politik an der Botschaft des Christentums zu messen." (Norbert Blüm in SZ)
Der Seitenhieb auf die Idee von Sahra Wagenknecht, eine linke Sammlungsbewegung zu schaffen, geißelt die Idee als Populismus. Aber viel wichtiger ist die Bezugnahme auf einen anderen Denker, der 1834 warnte:
"Das Christenthum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwuth […] Der Gedanke geht der That voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freylich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bey diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft todt niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihre königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revoluzion nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte."
(Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland)
Vielleicht sollten wir uns, meinetwegen unreligiös, aber wenigstens philosophisch mal wieder mit denjenigen ethischen und moralischen Grundsätzen auseinandersetzen, denen wir letztendlich verdanken, dass wir unsere Kinder nicht mehr dafür loben, dass aus Frust Streit über ein verlorenes Ballspiel den überlegenen Gegner mit der Axt erschlagen. Ja, das war tatsächlich mal "normal" hierzulande, ebenso wie Menschenopfer (letztes auf Rügen irgendwann um 1100 n. Chr. herum belegt) und etliche andere unlustige Konzepte alltäglicher Brauch waren. Sklaverei und Leibeigenschaft zum Beispiel, die erst 1235 im Sachsenspiegel verboten wurden. Oder die Todesstrafe, die erst 1949 in der BRD, 1981 in der DDR endgültig abgeschafft wurde. Letztendlich alles aufgrund der durch das Christentum geschaffenen ethisch-moralischen Grundlagen.
Wenn ich mir aber ansehe, wie manche Politiker sich heute nahezu ungezügelt in aller Öffentlichkeit zum Gejohle der Massen nahezu beliebig weit außerhalb aller zivilisatorischen Errungenschaften wildern, nicht nur verbal, sondern auch noch mit der Kraft und Macht ihres Amtes, habe ich die Befürchtung, dass die Warnung Heines noch immer viel zu aktuell ist, als sie eigentlich sein dürfte, wenn wir denn aus unserer eigenen Geschichte lernen wollen würden.
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