Mittwoch, 14. März 2018

Ganz bestimmt alles reiner Zufall

Es ist bemerkenswert, wenn ehemaliger russischer Doppelagent Opfer eines Attentats wird. Sergej Skripal und seine Tochter wurden in Sailsbury bewusstlos auf einer Parkbank entdeckt. Sie kämpfen nach Angaben englischer Behörden mit dem Leben. Die Untersuchung der Opfer ergab offenbar, dass beide mit einem sehr speziellen Nervengift in Kontakt kamen: Nowitschok.

Nowitschok ist ein in den 1970er / 1980er Jahren entwickeltes Nervengift, das sich aufgrund seiner zentralen Phosphor-Fluor-Bindung als Weiterentwicklung von Sarin verstehen lässt. Nowitschok gilt als acht Mal giftiger als Sarin und wurde speziell entwickelt, um durch die von NATO-Staaten verwendeten Chemiewaffendetektoren nicht entdeckt zu werden. Zum Teil sind sie so beschaffen, dass selbst bei einem Auslösen eines Giftalarms eines entsprechenden Analysegerätes die Ursache nicht identifizierbar wäre und deshalb von einem Fehlalarm ausgegangen würde.

Angeblich existiert eine Vielzahl an Novitschok-Giften und über 100 verschiedene Varianten wurden während der Entwicklung getestet. Einige sind als binäre Wirkstoffe entwickelt worden, wodurch das Gift nicht nur noch schwieriger zu entdecken ist, sondern auch sehr viel problemloser handhabbar. Einige dieser Binärkomponenten ähneln gängigen Produkten der Agrar- und Industriechemie.

Das Gift wirkt auf das Enzym Acetylcholinesterase. Kurzgefasst legt es das Nervensystem derart lahm, dass es in permanentem Erregungszustand, ähnlich eines epileptischen Anfalls bleibt. Das Opfer stirbt letzendlich an Atemlähmung. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass das Opfer überlebt, sind die Langzeitfolgen derart schwerwiegend, das überlebende Opfer hinterher in der Reghel schwerstbehindert sind.

Wie gefährlich das Nervengift ist, ist daran zu erkennen, dass infolge des Anschlags nicht nur das unmittelbare Ziel, sondern nach bisherigem Kenntnisstand zwanzig weitere Personen Opfer dieses Gites wurden. Verschiedene Experten sehen in Nowitschok eine Klasse von Chemiewaffen, die praktisch nicht zu bekämpfen sind.

Für sich genommen ist bereits die Tatsache, dass ein ausschließlich in Russland hergestelltes, militärisches Kampfmittel bei einem Attentat in England verwendet wird, ein diplomatisches Problem - um es ganz vorsichtig zu umschreiben. Das Verhältnis zwischen England und Russland ist nicht nur infolge diverser "Manöver" der russischen Luftwaffe an den Grenzen des englischen Luftraums in auffällig-unauffälliger Nähe zu den Heimathäfen der englischen Flotte schon länger angespannt.

Brisant wird die Lage allerdings, wenn wenige Tage nach diesem Attentat ein anderer Exil-Russe tot aufgefunden wird, der möglicherweise stranguliert wurde. Nikolai Gluschkow war enger Vertrauter von Boris Beresowski. Der wiederum war erklärter Kritiker des Kreml und hatte sich mit V. Putin überworfen, war nach London ins Exil gegangen, wo er Asyl erhielt und schließlich im März 2013 tot aufgefunden wurde. Es konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob Beresowski Opfer eines Gewaltverbrechens wurde oder sich selbst getötet hatte. Allerdings hatte er gesagt, er halte Präsident Putin für fähig, jeden zu töten, den er als Feind sieht, und er sah sich selbst als potentielles Opfer eines solchen Anschlages. Sein Haus glich deshalb eher einer Festung.

Auch wenn sich zwischen Gluschkow und Skripal kein direkter Zusammenhang zeigen lässt - abgesehen davon, dass beide aus Russland aus Angst um ihr Leben getürmt waren - reicht es der Regierung in London jetzt wohl. Insgesamt 15 ungeklärte Todesfälle von "Exilrussen" sind doch etwas viel Zufall und der Einsatz eines chemischen Kampfstoffes mit ausufernden Kollateralschäden mehr, als 10 Downing Street bereit ist, zu dulden.

Andere westliche Staaten stellten sich inzwischen demonstrativ an die Seite der Inselbewohner. Selbst Donald Trump verkündete, für ihn sähe es so aus, als wären es die Russen gewesen. Die Engländer haben den Russen bis Dienstag Mitternacht (also quasi "bis vorhin") Zeit gegeben, die Sache mit dem Kampfstoff auf englischem Boden zu erklären. Die Russen lehnen jegliche Verdächtigung kategorisch ab und verlangen, das gefundene Gift selber untersuchen zu dürfen.

Wenn Russland oder der Kreml oder die russischen Geheimdienste (früher KGB, heute GRU) keine lange Vita in Sachen Eleminierung von Menschen hätten, die in ihren Augen Verräter am russischen Staat waren, man könnte ernsthafte Zweifel haben. Aber eben diese Vita hat Russland bzw. dessen Geheimdienst(e). Hinzukommt, dass Skripal ehemaliger Oberst der GRU ist. Auch der Umstand, dass dieses sehr spezielle Gift im Westen überhaupt nicht hergestellt werden kann (weil etliche Detailkenntnisse über die Produktion unbekannt sind) und die Existenz des Kampfstoffs einzig durch einen russischen Überläufer im Westen bekannt ist, macht die Indizienlage schon etwas eindeutiger. Auch ist das Dementi von russischer Seite auffallend frei von Belegen und Erklärungen und erstreckt sich auf ein eher aggressiv vorgetragenes "und wenn ihr zehn Mal Beweise habt...".

Berechtigt ist die Frage, wie es überhaupt zu den Attentaten kommen konnte. Lapidare Feststellung und Erklärung: Der Westen bewacht seine Überläufer nicht mehr so wie früher. Das kann notwendige Folge von Einsparungen sein. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Westen insgesamt die Situation nicht mehr als so gefährlich eingeschätzt hat, wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Spätestens die Methode, militärische chemische Kampfstoffe ohne Rücksicht auf Kollateralschäden einzusetzen, ist ein extrem eindeutiges Signal, das mindestens mitteilt "Wir sind hier. Wir haben ein Messer und wir halten es Euch an den Hals." und dürfte ein klares Signal für ein Ende der entspannten geopolitischen Großlage der letzten Jahrzehnte sein.

Es ist offensichtlich, dass die Regierung Englands jetzt reagieren muss. Im Moment ist noch nicht klar, wie England reagieren wird, welche Maßnahmen folgen und welche Gegenmaßnahmen aus dem diplomatischen Werkzeugkasten geholt werden. Allerdings sollte auch auffallen, dass diese ungeklärten Attentate kurz vor der Wahl des russischen Präsidenten am 18.03.2018 stattfanden. Welches Interesse Russland und / oder V. Putin verfolgen könnte, solche Attentate so auffällig so kurz vor der Wahl auszuführen, lässt doch diverse Alarmlampen aufleuchten - zumal kaum realistisch zu erwarten ist, dass der Posten zukünftig von einer anderen Person als dem gegenwärtigen Amtsinhaber besetzt wird.

Eins meiner schon länger gehegten Szenarios beruht auf einer subtilen, aber nachhaltigen Destabilisierung westlicher Schlüsselregierungen: Paris, London, Berlin. Den "Informationskrieg" sollte jeder spätestens bei den Stichworten Trump und RT auf dem Schirm haben. Auch "Cosy Bear" sollte manchen noch irgendetwas sagen. Bei uns häufen sich in jüngerer Vergangenheit (oh Wunder der Choreographie) Berichte über Schläfer, die russische Mafia und andere "Vereinigungen", die mehr oder weniger direkt in Verbindung mit - und deutlich positiv eingestellt zu - V. Putin stehen. Russland und Paris... da bin ich aktuell überfragt, aber Russland hat (mindestens) einigermaßen brauchbare Beziehungen mit Marokko. Erst neulich war der russische Premier Medvedev zu Besuch. Frankreich wiederum hat etliche Probleme mit marokkanischen Migranten.

Als neulich ein weißrussischer Diplomat im Deutschen Fernsehen einen Reporter recht unverblümt fragte, wie der darauf komme, dass der Osten der Ukraine nicht mit russischen Truppen durchsetzt sei, wurde ich hellhörig (wir erinnern uns? Krim? Separatismus Donezk / Luhansk? Da war was, nicht wahr?) Auch der gerade stattgefundene Test der eindeutig für nukleare Zwecke konstruierten Hyperschallrakete war nicht zufällig zu diesem Zeitpunkt angesetzt. Das Engagement in Syrien und die undurchsichtige Annäherung an die Türkei... Sicher. Vage und spekulativ. Aber einen Schritt vom Bild zurückgetreten werden Konturen erkennbar, die zumindest mich etwas beunruhigen.

[Update]

Mittlerweile wurden eine Reihe von Sanktionen in Bewegung gesetzt und angekündigt. In einem ersten Schritt wurden 23 Diplomaten des Landes verweisen. Dies ist die größte Ausweisungswelle seit dem Überläufer Oleg Gordievsky, 1985. Damals wurden 31 Diplomaten des Landes verweisen. Noch folgen sollen:

  • Verschäfte Kontrollen bei privaten Flügen, Zollkontrollen und Frachtverkehr
  • Staatliche Vermögen sollen eingefroren werden, sofern es Beweise gibt, dass diese benutzt wurden, um das Leben oder den Besitz britischer Bürger zu bedrohen
  • Minister und die Königliche Familie werden die Fussball WM in Russland boykkottieren
  • Sämtliche bilaterale Kontakte zwischen England und Russland werden auf Eis gelegt
  • Neue Gesetzgebungen werden in Gang gebracht, um sich besser gegen "feindliche Aktivitäten anderer Staaten" wehren zu können.

Die Diplomaten auszuweisen... gut. Symbolpolitik. Der Boykott seitens der Royalen und Minister tut schon eher weh, denn dadurch kann man nicht "mal eben miteinander über dieses oder jenes reden", aber auch eher nervig. Aber der Rest... das ist schon eher der größere Hammer, zu dem 10 Downing Street da greift. Russlands Reaktion war entsprechend auch wenig begeistert. Davon ausgehend, dass dies die Ouvertüre zu einem längeren Schauspiel war, dürften "bald" noch einige interessante Entwicklungen bevorstehen.

2 Kommentare:

  1. Russland will nicht wirklich angreifen, sondern provozieren. Einem Wettrüsten mit den USA oder einer direkten militärischen Konfrontation ist Russland nicht gewachsen. All das soll zu einer Antwort des Westens führen, die Putins Erzählung von einer von NATO und USA bedrohten und umzingelten Nation weiter untermauert. So will er seine Macht im Innern sichern und gleichzeitig seine Utopie eines in den Rang einer Weltmacht zurückgekehrten Russlands realisieren. Ein starker, expandierender Westen, ein geeintes Europa, ist bei diesem Ziel offensichtlich nicht hilfreich.

    -mt.

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  2. In dem Zusammenhang:

    http://www.bbc.com/news/av/embed/p061208j/43389032

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