Marco sitzt noch immer in der Türkei in Untersuchungshaft. Der Prozess gegen ihn stockt immer wieder und jeder der seltenen Verhandlungstage endet mit einer Vertagung auf ein für Außenstehende scheinbar beliebig gewähltes Datum. Das Interesse an diesem Fall ist noch immer hoch, wie mir erst vor wenigen Tagen die Referer bewiesen, als die Zugriffe auf den Artikel vom 8. September 2007 schier explodierten, weil sich die User in einem Forum fürchterlich darüber aufregten, was die Türkei sich denn wohl einbilde, einen solch lapidaren Fall derart unbotmäßig in die Länge zu ziehen und das es - mit anderen Worten - doch wohl eine Unverschämtheit sei, dass sich ein von Europa und natürlich insbesondere von Deutschland dermaßen abhängiges Land wie die Türkei erdreiste, derart ungesetzlich, ja, unrechtmäßig zu handeln und den Jungen quasi als Geisel zu in Haft zu behalten.
Die sich derart Beschwerenden zeigen exakt jenen Denkfehler, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, den ich bereits damals kritisierte: Deutschland ist nicht die Türkei und das türkische Rechtssytem ist nicht das deutsche Rechtssystem. Nicht einmal ansatzweise. Für uns mag es unvorstellbar sein, dass ein Prozess wegen irgendwelcher Formalien um mehrere Monate vertagt wird. In der Türkei ist das aber, wie mir etliche Türken unabhängig von einander bestätigten, vollkommen normal und auch absolut rechtens. Für uns mag es jenseits der Grenzen unserer Vorstellungskraft liegen, dass Jugendliche für Monate trotz vollkommen diffuser, um nicht zu sagen zweifelhafter Beweislage in Untersuchungshaft sitzen, in der Türkei kräht allerdings kein Hahn danach, wenn es um Verbrechen geht. Und Vergewaltigung einer Minderjährigen ist ein Verbrechen, unabhängig davon, wer es begeht. Sogar in Deutschland.
Deutsche, mit denen ich über dieses problematische Thema sprach, attestierten der Türkei alles zwischen Dummheit, Vorsatz, Rachegelüsten, Rechtlosigkeit, Rückständigkeit, Borniertheit und beliebig anderen Extremen. Kaum einer, der der Türkei jene Autonomie zugestand, nach eigenem Recht urteilen zu können und zu dürfen. Nach dem Grund gefragt waren die Aussagen fast einhellig: "im Gesetz steht doch..." oder auch "Das ist doch sein verbrieftes Recht..." Aber wo steht das? Wo ist das verbrieft? Etwa im deutschen Recht? Und das gilt in der Türkei?
Interessant waren auch die Vorstellungen, wie das Problem zu lösen sei: "Die Politiker müssen sich einschalten" Welche denn noch? Der UN-Sicherheitsrat oder die USA vielleicht? Oder doch eher Russland und China? Mein bislang ungeschlagener Favorit ist aber: "Sollen die halt ihren Preis nennen, zahlen wir halt ein Lösegeld. Das macht man doch im Irak auch so." Ich erspare es mir im Detail aufzuzählen, welche Unterschiede es zwischen Türkei und Irak gibt. Belassen wir es für den Anfang dabei, dass die Türkei eine etablierte und anerkannte autonome Demokratie mit gefestigter Gewaltenteilung ist.
Gewaltenteilung, das ist vielen scheinbar überhaupt nicht klar, bedeutet insbesondere, dass Richter ihre Urteile nur nach dem in ihrem Land geltenden Recht und nicht nach den Wünschen irgendeiner, noch dazu ausländischen, Regierung sprechen. Wäre das nicht so, gäbe es keine Gewaltenteilung. Nun ist es in der Türkei - für viele Deutsche völlig unbekannt - erschwerend auch noch so, dass die vom Volk demokratisch gewählte Regierung eher in Richtung Islam und Glauben und "Kirche" tendiert, Militär und Gerichte jedoch stark säkular (also weg von der Kirche und vom Glauben) ausgeprägt sind. Daraus resultiert ein hinter den Kulissen tobender Machtkampf, den wir uns in seiner Dimension und fundamentalen Bedeutung hier überhaupt nicht vorzustellen in der Lage sind.
Die Regierung in Berlin hat der Regierung in Ankara sehr deutlich gesagt, wie man über diesen Fall denkt. Auch Brüssel hat stellvertretend für die gesamte EU eine sehr deutliche Ansage gemacht. Man wünscht sich eine "zügige" Klärung des Falles. Sogar mit unmittelbaren Konsequenzen für die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU wurde offen gedroht. Mit anderen Worten: "Lasst den Jungen laufen, sonst gibt es ernsthaft Stress." Hat das irgendetwas genutzt? Ist der Junge frei? Ist ein Urteil gesprochen oder auch nur in Sicht? Nein? Ach sieh mal an.
Was zeigt uns das? Mindestens zweierlei: Erstens funktioniert in der Türkei die Gewaltenteilung offensichtlich hervorragend. Zweitens halten sich die türkischen Gerichte an das bei ihnen geltende Recht und nicht an die Rechtsvorstellungen irgendwelcher Ausländer. Genau dafür gebührt der Türkei mein aufrichtiger Respekt - unabhängig davon, ob ich das türkische Rechtssytem insgesamt für unserem, das ja nach Ansicht der Theken- und Forenfachleute völlig frei von jeglichem Fehl und Tadel ist, ebenbürtig halte oder nicht.
Ach, und waren es nicht irgendwie auch gerade Berlin und Brüssel, die gefordert hatten, dass die Rechte der Frau in der Türkei gestärkt wurden? Ging es dabei nicht auch unter anderem um Vergewaltigung, die in der Türkei häufig straffrei blieb? Hatte die Türkei nicht gerade wegen dieser Forderungen und der Androhung des Abbruchs der Beitrittsverhandlungen etliche Veränderungen im Strafrecht zugunsten der Frau eingeführt, bei denen es unter anderem um Vergewaltigung geht? Und jetzt soll sich die Türkei auf Drängen derselben Leute plötzlich über genau jene Gesetzesänderungen hinwegsetzen, die sie wegen genau dieser Leute überhaupt erst eingeführt hat? Weil sonst die Beitrittsverhandlungen abgebrochen werden?
Leute, ich bin ja auch der Meinung, dass verglichen unserem Rechtssystem die Sache mit dem Marco etwas sehr lange dauert und es vielleicht bei uns schneller ginge, aber Deutschland ist eben nicht die Türkei und gerade dieser komplizierte und emotional vollkommen überladene Fall zeigt meiner Meinung nach überdeutlich, wie wenig wir eigentlich über unsere "Nachbarn" wissen. Es wäre besser, wenn wir die Türkei "einfach machen lassen". Auch wenn dabei ein Einzelschicksal wie das dieses 17jährigen Jungen vielleicht zu Unrecht vollkommen auf der Strecke bleibt.
Es geht hier um mehr, als nur einen beinahe Volljährigen, der vielleicht formaljuristisch unschuldig ist. Es geht hier um die elementaren Grundsätze des Rechtsstaates. Und die sollten gerade uns, die wir uns gerade fürchterlich über einen "amoklaufenden Innenminister" echauffieren, etwas mehr wert sein, als irgendwelche Scheißhausparolen, die vor allem eins zeigen, nämlich wie wenig wir von der Sache tatsächlich verstehen.
Donnerstag, 29. November 2007
2 Kommentare:
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Wenn er schuldig sein sollte - ab in den Knast. Und dann kann er sogar noch froh sein, wenn die Türkei ihn hierher ausliefert und er die ihm auferlegte Strafe nicht in einem türkischen Gefängnis absitzen muss, sondern hier ins Gefängnis muss.
AntwortenLöschenWenn er unschuldig sein sollte - dann soll er nach Ende der Verhandlung sofort freigelassen werden und für die durch die U-Haft entstandenen Schäden eine angemessene Entschädigung erhalten - sofern eine solche Entschädigung vom türkischen Rechtssystem vorgesehen ist.
Ich schrieb schon damals, dass ich nicht weiß, ob er schuldig ist - ich war ja schließlich nicht anwesend. Aber wenn es sein sollte, dann gehört er nunmal bestraft, ob das im Ausland passiert ist, oder nicht. Es wäre ja noch schöner, wenn man sich durch das Verlassen des Vaterlandes sämtlicher Rechtsstaatlichkeit entziehen und straffrei auf Gutdeutsch "Fünfe gerade sein lassen" könnte.
mir is ja auch wayne ob der typ 100 jahre in u-haft sitzt... mir ist auch egal was die typen da fürn rechtssystem ham... aber was das ganze so brisant macht sind die verhältnisse im knast... wenn ein urteil da wär, kann er ja dort in der gosse versauern... aber wenn nun rauskommt, dass alles doch nicht so schlimm war und die mutter für das mädl gelogen hat, wer entschädigt dann den marco für die zeit im knast... die türkei? kann ich mir nicht vorstellen
AntwortenLöschener sollte wenigstens bis zum schuldspruch inner menschlicheren umgebung hausen