Mittwoch, 27. Januar 2010

Strategiewechsel

(Eines meiner Lieblingsthemen nutze ich als Testballon dafür, ob ich überhaupt noch schreiben kann. Der geneigte Leser möge mir stilistische Schwächen verzeihen. Ich bin etwas aus der Übung.)

Morgen, am 28.01.2010, beginnt die groß angekündigte Konferenz der an der ISAF beteiligten Staaten, Afghanistan und seiner Nachbarländer unter der Leitung des britischen Regierungschefs Gordon Brown und des UN Generalsekretärs Ban Ki-moon. Zusätzlich eingeladen wurden Repräsentanten der NATO, der EU und einiger anderer Organisationen, wie z. B. der Weltbank. Diese Konferenz nahm die Bundesregierung vor einiger Zeit zum Anlass, um ein neues, verändertes Engagement am Hindukusch zu verkünden. Wie zu erwarten war, stieß und stößt dies bei weiten Teilen der Bevölkerung Deutschlands auf wenig - um nicht zu sagen gar kein - Verständnis. Der Deutsche erwartet einen Rückzug, und zwar am besten gestern und keine Aufstockung der Truppen und erstrecht kein verstärktes militärisches Engagement. Was hat Deutschland schließlich da unten zu suchen?

In der heute vor dem Bundestag verkündeten Regierungserklärung zur neuen Afghanistanstrategie sagte die Bundeskanzlerin: "In London geht es also um nichts weniger als um eine Weichenstellung." Was die Bundeskanzlerin nicht sagte, war, worin diese "Weichenstellung" bestehen wird und auf welche Themenbereiche sich die Debatte erstrecken wird. Sie sagte nämlich unter anderem ausdrücklich nicht, dass auf dieser Konferenz das militärische Vorgehen, die Strategie, nicht diskutiert werden wird. Über diese neue militärische Strategie besteht nämlich zwischen den Führern der NATO und den zivilen Regierungen längst Konsens.

Diese "neue militärische Strategie" ist die im August / September letzten Jahres vorgestellte Strategie von General Stanley McChrystal, dem derzeit kommandierenden Befehlshaber der US-Streitkräfte in Afghanistan. Diese neue Strategie unterscheidet sich von den bis dato favorisierten Herangehensweisen in mehreren Punkten dermaßen fundamental, dass man getrost von einem Paradigmenwechsel sprechen kann. In den bisher angewandten Strategien ging es um einen militärischen Einsatz, der die Aufständischen in Afghanistan im Prinzip als militärischen Gegner im klassischen Sinne behandelte. Einen solchen Gegner gilt es (unter anderem) durch harte und gezielte militärische Schläge zu besiegen und aus den von ihm gehaltenen Gebieten zu verdrängen. So gesehen stellte man sich einen Einsatz ähnlich wie den im Irak vor, nur eben etwas anders.

Zurückblickend betrachtet war das aus vielen Gründen eine schlechte Idee. Es gab eine Menge Fehler zu begehen und ich bin mir ziemlich sicher, dass die in Afghanistan operierenden Kräfte mit wenigen Ausnahmen so ziemlich jeden Fehler in der einen oder anderen Form begangen haben, der irgendwie zu begehen war. Zwar hat man gemessen an der Zahl der getöteten Feinde und der zumindest zeitweise eroberten Gebiete nach der alten Strategie aus rein militärischer Sicht durchaus Erfolge erzielt. Aber diese Erfolge hatten mehrere schwerwiegende Schwächen und Fehler:

Fast alle diese Erfolge waren vorübergehender Natur. Viele der militärisch eroberten Gebiete fielen früher oder später an die Aufständischen zurück. Die getöteten Feinde scheinen trotz ihrer schieren Masse die Aufständischen zwar zu schwächen, aber ihr Engagement beeinträchtigte das wenig, geschweige denn gelang es, sie von eigenen fortwährenden Erfolgen abzuhalten. Zusätzlich wurden die zur Befreiung Afghanistans eingesetzten Streitkräfte zunehmend in Afghanistan selbst, aber besonders auch im Ausland, als Besatzer empfunden, was auch in aller Deutlichkeit auch von den Aufständischen kommuniziert und von den Medien bei jeder sich bietenden Gelegenheit verbreitet wurde.

In Deutschland wurde die Öffentlichkeit nahezu ausschließlich durch die Medien darüber informiert, was in Afghanistan "tatsächlich" los ist. Bei der Berichterstattung haben sich nicht viele Korrespondenten und Medienvertreter Attribute wie "unvoreingenommen" oder "objektiv" verdient. Die Politik wiederum hatte und hat noch immer deutlich Angst davor, sich dem Thema und der zwangsläufig damit verbundenen öffentlichen Diskussion zu stellen. Dies mag dem hierzulande in der politischen Kaste inzwischen immer mehr als erfolgreich identifizierten Diktum des "Erfolgs durch Abwarten" geschuldet sein, hat aber auch komplexe und komplizierte Ursachen und Wechselwirkungen in der gesellschaftlichen Struktur und unserer eigenen Geschichte. Ganz knapp zusammengefasst wird das Thema "Militär und Deutschland" dem Deutschen von Kindesbeinen an als ein Thema vermittelt, dass eigentlich nicht sein kann, weil es nicht sein darf, aber trotzdem sein muss - allerdings ohne so richtig zu erklären, warum. Es wird berechtigt auf die Zeit von '33-'45 verwiesen und immer wieder betont, dass "so etwas" nie wieder sein darf.

Was dabei allerdings nicht oder zumindest nicht verständlich bzw. begreifbar vermittelt wird, ist die Tatsache, dass sich die Welt und damit zwangsläufig auch Deutschland seit jener Zeit drastisch verändert haben und dass das Deutschland von heute nicht nur nicht mehr das Deutschland von 1945 ist. Damit aber nicht genug. In den Köpfen der großen Mehrheit der Bevölkerung herrscht noch immer der Glaube, dass Deutschland in der Welt von heute ja noch immer bloß die Rolle des von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs aufgepäppelten und am Leben gehaltenen Besiegten ist, der international aber nichts zu melden hat. Es wird sorgfältig vermieden, diesen Irrtum auszuräumen und der Bevölkerung zu vermitteln, wer wir inzwischen geworden sind und welche Rolle wir tatsächlich in der Welt spielen - ob gewollt oder erzwungen ist eine andere Frage. Salopp formuliert wird vermieden, dass "der Deutsche" stolz auf Deutschland sein (oder werden) könnte. Über die Gründe dafür darf man spekulieren.

Deutschlands Rolle in der Welt macht es unabdingbar, dass wir uns internationalen Aufgaben stellen müssen und unseren Teil dazu beitragen. Das in Afghanistan herrschende Regime wurde 2001 als internationale Bedrohung erkannt. Neben der desolaten Lage der Bevölkerung war das Kernproblem der von diesem Land ausgehende Terrorismus, maßgeblich finanziert u.a. durch Drogenhandel und Schmuggel, der im 11. September seinen Höhepunkt fand. Eine politische Lösung des Problems war unmöglich, da die Machthaber in Afghanistan nicht willens waren, eine andere politische Lösung herbeizuführen. Die USA begannen am 7. Oktober 2001 mit der Invasion Afghanistans (Operation Enduring Freedom), die nicht durch den Weltsicherheitsrat sanktioniert war. Erst Ende 2001 wurde durch den Weltsicherheitsrat der ISAF ein Mandat gegeben.

Dieses anfänglich eigenmächtige und umstrittene Handeln der USA gilt noch heute vielen Gegnern des Afghanistaneinsatzes als Primat: Weil der erste Angriff der USA nicht vom Weltsicherheitsrat genehmigt war, war er illegal und damit sind auch alle sich daran anschließenden oder diesen Angriff flankierende Einsätze illegal. Unter Hinweis auf (u.a.) das ISAF-Mandat möchte ich darauf verzichten, diese Sichtweise weiter zu diskutieren. Das ist an anderer Stelle bereits ausreichend geschehen und wer noch immer der Meinung ist, der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sei "illegal", der glaubt wahrscheinlich auch an den Erfolg des Marxismus-Leninismus unter Führung eines sozialistischen Russlands oder den Weihnachtsmann.

Eben aufgrund seiner tatsächlichen - und nicht der von der Bevölkerung gefühlten - Position und der damit verbundenen Rolle in der Welt, blieb Deutschland gar nichts anderes übrig, als sich an der ISAF zu beteiligen. Hätte sich Deutschland dem verwehrt, wäre der außenpolitische Schaden katastrophal gewesen und die Folgen nur schwer abschätzbar. Deutschland hätte sich durch ein Sperren gegen die Beteiligung international endgültig aufs Abstellgleis begeben und wäre fortan nicht mehr als Staat mit weltweitem Führungsanspruch, geschweige denn Mitspracherecht, akzeptiert worden. Andererseits wäre eine passive Beteiligung, z. B. durch rein finanzielle und logistische Mittel, durch die übrigen an der ISAF beteiligten Staaten nicht akzeptiert worden, was diese mehrfach und in aller Deutlichkeit klar machten. So gesehen hatte Deutschland keine echte Alternative, als sich aktiv am ISAF-Einsatz zu beteiligen.

Ein gravierender Fehler war allerdings der Bevölkerung Deutschlands den Einsatz nicht als das zu präsentieren, was er tatsächlich war und ist. Die politischen Führer aller Parteien gaben sich alle erdenkliche Mühe, der Bevölkerung den Einsatz in Afghanistan als "humanitären Wiederaufbau" zu verkaufen und verschwiegen dabei die tatsächliche Lage vor Ort. Unvergessen das Lavieren um das Wort "Krieg". Als im Laufe der Zeit durch ausländische Medien, nicht zuletzt aber auch durch den überaus beklagenswerten Tod von inzwischen mindestens 36 Bundeswehrsoldaten, auch in Deutschland immer mehr die Erkenntnis reifte, dass da in Afghanistan wohl doch etwas ganz Anderes am Kochen war, als man uns hierzulande verkaufen wollte, geriet die Politik in eine gefährliche Defensive.

Das Argument "die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigen" zu wollen (Peter Struck), war zwar von der Sache her zwar richtig, denn immerhin ging (und geht noch immer) von Afghanistan (und Umgebung) ein nicht geringer Teil des internationalen Terrorismus und Drogenhandels aus, der auch Deutschland bedroht. Allerdings nahm dieses Argument inzwischen kaum noch jemand für voll, denn es fehlte der argumentative und bedingungslos ehrliche Unterbau, den man nicht von jetzt auf gleich nachliefern konnte, ohne sich bis auf die Knochen zu blamieren und gegenüber dem Wähler als vollkommen unglaubwürdig zu präsentieren. Dazu hatte man in der Vergangenheit zu viel verschwiegen, verschleiert und beschönigt.

Einerseits wusste man unter den Entscheidungsträgern ganz genau, dass die Berichte aus dem Ausland über die Situation in Afghanistan überwiegend stimmten, andererseits wusste man aber auch, dass diese Berichte weit überwiegend nur (bestenfalls) die halbe (traurige) Wahrheit verkündeten. Der ganze Umfang des Dramas wurde nur nach und nach und das weit überwiegend auch nur durch ausländische Berichterstattung deutlich und hat sich in Deutschland bis heute noch lange nicht bei allen herumgesprochen. Die Folge ist eine durchaus verständliche Abneigung der Bevölkerung Deutschlands gegen den Einsatz, die zu einem nicht geringen Teil damit zu tun hat, dass die Bevölkerung der politischen Führung schlicht und ergreifend nicht (mehr) glaubt, was diese zum Thema Afghanistan von sich gibt. Selbst wenn eben jene Politiker zu (für deutsche Verhältnisse) teilweise erstaunlichen Zugeständnissen und Offenbarungen bereit sind, ändert das nur wenig an der öffentlichen Meinung.

Die Crux ist, dass Deutschland sich nicht von heute auf morgen aus Afghanistan zurückziehen kann. Deutschland ist verbindlich internationale Verpflichtungen eingegangen und hat seine Beteiligung am ISAF-Mandat gegenüber dem Weltsicherheitsrat (und damit letztendlich gegenüber der gesamten Welt) zugesichert. Ein sofortiger Abbruch der Mission bedeutet nicht weniger, als gegenüber dem Weltsicherheitsrat und den übrigen an der ISAF beteiligten Staaten vertragsbrüchig zu werden. Die Folgen dürften nicht weniger dramatisch sein als diejenigen, wenn Deutschland sich gar nicht erst am Einsatz beteiligt hätte. Diese Forderung, so verständlich sie auch im Kontext der Gegebenheiten in Deutschland ist, ist zwar moralisch und ideologisch nachvollziehbar, aber illusorisch.

Inzwischen hat man - was viele für unmöglich halten - eine Menge über Afghanistan und den Einsatz dort gelernt. Sozialwissenschaftler, Anthropologen, Historiker und Militärs haben meterweise Analysen, Essays und Erfahrungsberichte über Afghanistan und die komplizierten Verflechtungen innerhalb der Bevölkerung, Auswirkungen der militärischen Operationen, die Taliban und viele andere damit verwandte Themen verfasst. Zu meiner nicht geringen Verwunderung wurden die offensichtlich sogar von irgendwem gelesen, dem man zuhört. Die Folge der Erkenntnisse ist im Endeffekt die oben erwähnte neue Strategie McCrystals. Der Hauptunterschied zur bisherigen Strategie besteht darin, dass der militärische Einsatz jetzt den Schwerpunkt hat, die Bevölkerung zu schützen und den Wiederaufbau überhaupt erst zu ermöglichen, statt wie bisher "die Taliban" besiegen und nebenher das Land wieder aufzubauen zu wollen. Das mag sich nach einem unwichtigen Detail anhören, aber wer sich das Strategiepapier durchgelesen hat und das mit dem bisher (bekannten) Vorgehen vergleicht, wird auf den ersten Blick eine Vielzahl erheblicher Unterschiede sehen.

Auch diese Strategie hat ihre Schwächen. Das Kernproblem dieser Strategie ist jedoch nicht, dass sie nicht funktionieren kann, sondern dass sie voraussetzt, dass der Einsatz auf Nachhaltigkeit und Nähe zur Bevölkerung ausgerichtet ist und parallel dazu ein Fundament geschaffen werden soll, auf dem in Afghanistan überhaupt ein funktionierender Staat entstehen kann. Das impliziert mindestens drei Schwierigkeiten. Erstens wird dieser Ansatz Zeit in Anspruch nehmen. Niemand kann vorhersagen, wie viel Zeit dieser Ansatz brauchen wird. Zweitens wird dieser Ansatz teuer werden. Finanziell wie materiell ist der Einsatz in Afghanistan chronisch knapp gehalten. Gemessen an der Größe des Landes ist das, was die meisten beteiligten Nationen bisher dazu beigetragen haben, bei nüchterner Betrachtung bestenfalls halbherzig zu nennen. Außerdem - und das wird besonders in Deutschland ganz große Probleme verursachen - gilt der bisherige Einsatz der Truppen mit dem Primat der "Force Protection" als kontraproduktiv. Das bedeutet, dass die Truppen raus müssen aus ihren Panzerwagen und ihren Stellungen und 'ran müssen an das Volk und rein in die Problemzonen. Das dritte Problem ist, das trotz allem Engagements nicht garantiert ist, dass das Ganze am Ende auch Erfolg hat, wenn man dem Ansatz nicht genügend Zeit einräumt.

Alle drei Probleme dürften in Deutschland erhebliche Diskussionen und Widerstände auslösen. Geld haben wir gerade nicht so dicke und angesichts der lokalen finanziellen Probleme sieht kaum jemand ein, warum man Geld am anderen Ende der Welt für einen Einsatz ausgeben sollte, den sowieso niemand will. Zeit haben wir erstrecht nicht. Die Opposition will den sofortigen Abzug aller Truppen (Linke), bzw. die Benennung eines festen Datums des Truppenabzugs (Grüne) oder zumindest das Festlegen auf ein festes Datum, wann der Abzug beginnt (SPD). Angesichts der gestellten Aufgabe können solche Forderungen nicht nur nicht produktiv sein, sondern werden erstrecht nicht realistisch zu beantworten sein. Die Spekulation auf ein Zeitfenster von fünf Jahren ist mit Sicherheit diesem Druck geschuldet, aber bestimmt nicht anhand harter Fakten belegbar und daher eher eine Hoffnung denn eine verbindliche Aussage.

Die Bundeswehr aus ihren Lagern hinaus ins Land zu schicken und dann auch noch auf gepanzerte Fahrzeuge (usw.) zu verzichten und dazu auch noch die Force Protection hintenan zu stellen, wird nicht wenigen erhebliches Kopfzerbrechen bereiten. Es ist abzusehen, dass zumindest in der Anfangsphase die Verluste deutlich ansteigen werden. Angesichts der überaus empfindlichen Gemütslage des Wählers in Deutschland dürfte man seitens der Politik vor dieser (notwendigen) Unvermeidbarkeit erhebliche Angst haben. Vor diesem Hintergrund der innenpolitischen Situation ist es überaus verständlich, dass die Begeisterung für eine Verstärkung und Ausweitung des Engagements bei gleichzeitiger Erhöhung des Risikos für die eingesetzten Soldaten seitens der Politiker in Deutschland äußerst begrenzt ist. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass immerhin eine Truppenaufstockung von zunächst 500 Soldaten und später weiteren 350 Soldaten im Bundestag mehr oder weniger im Eiltempo durchgewinkt wurde. Auch die finanzielle Beteiligung an einem von Japan geführten Fond, mit dessen Hilfe Afghanistan substantielle Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden, mag mit 50 Millionen Euro jährlich zwar "geringfügig" aussehen, aber man sollte auch nicht übersehen, dass außerdem auch ein Anheben der finanziellen Entwicklungshilfe von derzeit 220 Millionen auf 430 Millionen Euro vorgesehen ist. Angesichts der Haushaltslage ist das doch schon ein eine ganze Menge Geld, das zusätzlich zu den ohne Zweifel deutlich steigenden Kosten des Einsatzes aufgewendet wird.

Am Ende stellt sich die Frage, ob dieser Strategiewechsel überhaupt Erfolg haben kann und ob deshalb eine Verstärkung des Engagements in Afghanistan überhaupt sinnvoll ist. Die neue Herangehensweise an das Problem Afghanistan berücksichtigt nahezu alle Kritikpunkte, die am bisherigen Einsatz vorgebracht wurden. McCrystal stellt in seiner Strategie fest, dass ein militärischer Sieg klassischer Art in Afghanistan nicht möglich ist, es sei denn, man will seine Truppen in Afghanistan bis in alle Ewigkeit als Besatzungsmacht belassen. McCrystals Strategie betont, dass es die Aufgabe des Militärs sein muss, die Bevölkerung zu schützen und überhaupt die Möglichkeit zu schaffen, dauerhafte Erfolge zu erzielen. Seine Strategie fußt klar erkennbar auf Clausewitz Erkenntnis, dass das Militär nur Werkzeug der Politik sein kann, nicht umgekehrt. Deutlich erkennbar sind die aus der Beinahekatastrophe von Wanat (13. Juli 2008) gezogenen Lehren. Parallel zu diesem veränderten Vorgehen muss allerdings - und das ist neu - seitens der Staatengemeinschaft dafür gesorgt werden, dass sich in Afghanistan überhaupt so etwas wie eine zentralisierte Regierung mit der unmittelbar dazugehörenden juristischen und exekutiven Infrastruktur bilden kann. An dieser Stelle sind die Politiker, aber auch und besonders die NGOs gefordert.

Als nicht militärisch lösbare Probleme wurden nicht nur die Korruption und der Drogenhandel erkannt, sondern auch die überwiegend fehlende Gerichtsbarkeit und die praktisch nicht existente Durchsetzung verhängter Strafen. Welche Form eine zukünftige Regierung in Afghanistan haben wird, welche Strukturen und Gesetzgebungen sich die Afghanen selber geben, das können nur die Afghanen selber entscheiden. Diese Aufgabe kann und darf das Militär nicht übernehmen. Um das aber überhaupt tun zu können, brauchen die Afghanen erst einmal die Luft zum Atmen und den Freiraum, sich über solche Probleme überhaupt Gedanken machen zu können. Dieser Freiraum kann am Anfang nur durch das Militär geschaffen werden, denn der Gegenspieler, die Aufständischen, haben wenig Skrupel ihre Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen und zu verteidigen. Es ist vollkommen illusorisch davon auszugehen, dass z. B. das THW oder das DRK alleine durch seine Wiederaufbauarbeit dazu in der Lage wäre, die Gesamtsituation zu verändern, geschweige denn den Bestand des Erreichten zu sichern. Dazu ist die Situation viel zu gewalttätig und wird es auch noch einige Zeit bleiben. Singen, klatschen und im Kreis tanzen wird da wenig helfen. Eins ist klar: Die Aufständischen werden sicherlich nicht widerstandslos zusehen und von jetzt auf gleich wird sich die Lage auch nicht ändern.

So gesehen: McCrystals Strategie klingt auf dem Papier sehr erfolgversprechend. Die Frage ist, ob sie auch entsprechend umgesetzt werden kann und wird. Wenn er Recht hat - und meiner Meinung nach hat er das - dann steht am Ende des Einsatzes in der jetzt geplanten Form ein eigenständiger Staat Afghanistan, der zumindest dazu in der Lage ist, sich Schritt für Schritt selber zu entwickeln und zu Formen. Von innen heraus. Ohne aufgezwungene Regierung, sei es nun vom "Westen" oder durch die Taliban, oder die Warlords oder sonst wen. Macht es Sinn, diese Strategie zu unterstützen und den Einsatz fortzuführen? Ja. Ein Abbruch des Einsatzes wäre eine Bankrotterklärung der sich zurückziehenden Staaten und hätte nicht abzuschätzende negative Folgen für die alles andere als auf ewig gefügte Weltpolitik dieser Staaten. Abgesehen davon wäre ein Afghanistan, aus dem sich heute alle Staaten zurückziehen, sehr schnell wieder dort, wo es 2001 schon mal war, wenn nicht schlimmer, und DAS wollen wir alle ganz bestimmt nicht.

Insgesamt könnte die Strategie McCrystals "die Wende" bringen und sie klingt vielversprechend. Schade nur, dass keine einzige der jetzt von deutschen Politikern proklamierten "neuen Ideen" auf deren Mist gewachsen ist, sondern dem Konzept der US-Armee entstammen.

5 Kommentare:

  1. Ein wie gewohnt guter Artikel,
    ich frage mich allerdings was der Herr von Gutenberg noch anstoßen wird, gerade was es angeht der "Truppe" den Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern.
    Den Strategiewechsel, so wie du Ihn beschreibst, kann ich nur befürworten, lediglich der Verzicht von den gepanzerten Fahrzeugen bereitet mir Magenschmerzen, finde ich die Kontaktaufnahme zur Bevölkerung doch jetzt schon, in der Herangehensweise ( nicht in der Anzahl der generierten Kontakte) ausreichend.

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  2. Durchaus richtig ein rückzug kommt nicht in frage!

    Aber ob die wende jetzt noch zu bringen ist, in einem Land in dem viele garnicht wollen das wir (die staatengemeinschaft) dort sind. Die uns als bedrohung empfinden? ich bin mir nicht sicher ob das zu schaffen ist. Den einen Feind den man nicht sehen kann, kann man schlecht bekämpfen, bis garnicht bekämpfen. Es wird noch ein langer weg bis Afganistan dort ist wo wir es gerne sehen würden. Dieser wird ein menge kosten, und damit meine ich nicht nur Geld!
    Dieses Preis müssen wir nun zahlen einen anderen weg wird es jetzt nicht mehr geben!

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  3. gerade der punkt was die bevölkerung will bringt mich zum nachdenken.
    die veränderung muss von innen heraus erfolgen, da ein aufgezwungenes system geringere erfolgschancen hat, ganz zu schweigen von der akzeptanz.
    gibts irgendwie verwertbare daten in welche richtung sich die mehrheit bewegen will? stelle ich mir aufgrund der desolaten zustände dort doch etwas schwer vor

    anbei schöner wiedereinstieg. gewohnt gut und vorallem begeistert mich die neutralität die du über den gesamten Artikel zur thematik beibehälst.

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  4. ich denke mal, dass dieser strategiewechsel ne gute sache ist. zumindest sofern alle beteiligten das nötige durchhaltevermögen an den tag legen. denn die zahl der aufgaben, die es für eine stabilisierung des landes zu erledigen gilt, ist schier astronomisch. bzw. braucht es für einige dinge einfach eine gewisse zeit, bis sie sich einränken.
    sich vorzeitig zurückzuziehen hätte sicher katastrophale folgen - darüber sollten sich alle beteiligten (auch der deutsche wähler) klar sein...

    PS: willkommen zurück :)

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