Donnerstag, 25. Februar 2010

Erwachsen werden

Wie so oft, wenn mich mehrere Bekannte auf verschiedene Texte zu noch sehr viel verschiedeneren Themen hinweisen, treiben meine Gedanken ab und am Ende einer ganz langen und komplizierten Verkettung von Gedankengängen komme ich an einer ganz anderen Stelle heraus, als alle Beteiligten anfangs geplant hatten. Und so kam ich von neuen Panikanfällen der katholischen Kirche (der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Bischof Robert Zollitsch, verlangt von Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger binnen 24 Stunden eine Entschuldigung) (btw, in diesem Zusammenhang: alt aber verdammt gut, danke Seigu), über den unvermeidlichen Rücktritt Bischöfin Margot Käßmann nach einer Trunkenheitsfahrt mit Rotlichtverstoß (nur so am Rande gefragt: Ist das schon Straßenverkehrsgefährdung unter Alkoholeinfluss?) und die zum Teil erstaunlichen Kommentare der Presse darüber und von da aus zum Platzen des Verkaufs von Hummer und der jetzt durch GM angekündigten Schließung des Werkes, über die Mitteilung, dass eine Schule in Rhone Island, USA, ALLE Lehrer gefeuert hat, weil sich die gewerkschaftlich organisierten Lehrer nicht einsahen dem Wunsch des Rektors zu entsprechen, mehr Zeit mit den Schülern zu verbringen. Wie ich von da ohne Umwege zu einer Diskussion darüber kam, wie die Zukunft der NATO aussehen könnte, wollt ihr nicht wissen, glaubt mir.

Und damit bin ich beim Thema: Was wird aus der NATO? Die Tage wurde bekannt, dass Deutschland die USA auffordert, die in Deutschland verbliebenen Atombomben abzuziehen. Bereits 2009 forderte der damalige Außenminister Steinmeier die USA öffentlich dazu auf und Anfang Februar verkündete das Auswärtige Amt, dass Bundeskanzler Verzeihung, Bundesaußenminister und Viezekanzler Westerwelle mit offiziellen Gesprächen über genau dieses Thema begonnen habe. Dieser "Vorschlag" wird beiderseits des Atlantiks sehr unterschiedlich bewertet.

Die Argumente sind durchaus kontrovers und die Thematik ganz bestimmt nicht trivial, denn im Kern geht es um nicht weniger, als ein elementares Konzept der NATO, das historisch gewachsen ist. Die NATO wurde ursprünglich geschaffen, um Deutschland in Schach, die Russen auf Abstand und Amerikas Vorherrschaft aufrecht zu halten. Die Frage nach den Atomwaffen wuchs quasi parallel dazu und war in erster Linie ein Ding zwischen den USA und Russland, denn auch wenn die USA ihre Atomwaffen in diversen NATO-Staaten stationiert haben, Zugriff darauf haben wohl eher sie selbst und nicht jene Staaten, in denen sie stationiert sind. Inzwischen ist speziell in Europa die Rolle der NATO mehr als nur umstritten. Als Versuch der USA herauszufinden, ob die NATO und ihre Mitglieder überhaupt dazu willens und in der Lage sind, der angestrebten Transformation von einer Verteidigungsallianz hin zu einem global operierenden Instrument der Machterhaltung und -gestaltung zu folgen, darf ohne Zweifel die ISAF in Afghanistan angesehen werden.

Nun soll jetzt und hier nicht darüber diskutiert werden, ob der Einsatz in Afghanistan überhaupt sinnvoll, richtig, gut, erfolgversprechend oder notwendig ist. Vielmehr geht es darum, dass sich gerade in diesem Einsatz zeigt, wie deutlich die Unterschiede zwischen den Zielvorstellungen, der Einsatzbereitschaft und dem Willen zum Erreichen eines Ziels bei den beteiligten Bündnispartnern ausgeprägt sind. Seit 2001 konnten wir alle wunderschön am Schreibtisch verfolgen, wie sich die USA abrackerte und hunderte Millionen US-Dollar und tausende Soldaten durch Afghanistan schleuste, während sich zum Beispiel Deutschland in erster Linie mit der Frage befasste, ob in Afghanistan Krieg herrsche oder nicht und ob dort unsere Freiheit verteidigt wird.

Entsprechend unterschiedlich fielen auch die Beteiligungen aus. Zwar erreichte Deutschland im Laufe der Jahre den Status des drittgrößten Kontingents alliierter Soldaten in Afghanistan, aber erstens sollten die unsere Soldaten umgebenden Vorschriften und Restriktionen die Soldaten um jeden Preis aus jeder denkbaren militärischen Konfrontation herauszuhalten und zweitens ist die Relation zwischen Rlang 1 und Rang 3 in dieser Aufstellung sehr ernüchternd. Während wir uns rühmen jetzt tatsächlich 5350 Soldaten für Afghanistan bereitzustellen, haben die USA Ende 2009 ganze 68.000 Soldaten, mehr als das zehnfache, im Einsatz. Materiell und finanziell zeigen sich nicht minder große Unterschiede. Der Punkt ist nicht, dass Deutschland sehr viel mehr Soldaten einsetzen sollte oder müsste. Der Punkt ist, dass nicht nur Deutschland keinen Bock auf diesen Einsatz hat. Wie sonst sollte die Feststellung des als beinahe genial und heilsbringend gefeierten Strategiepapiers von General Stanley McChrystal zu verstehen sein, dass die ISAF zukünftig völlig anders operieren müsste?
"ISAF will change its operating culture.... ISAF will change the way it does business." "ISAF's subordinate headquarters must stop fighting separate campaigns."

General Stanley A. McChrystal
Die USA als militärisches Schwergewicht in der NATO hat grundlegend andere Ziele. Den USA geht es um die globale Sicherung der USA, das Wohlergehen der US-amerikanischen Bürger und den Wohlstand im eigenen Land. Erst danach kommen auf der Liste der Prioritäten die Interessen der Bündnispartner. Warum wohl haben sich die USA in nahezu allen Bündnisstaaten in die Innen- und Außenpolitik nachhaltig eingemischt, sich aber umgekehrt aber jegliche Einmischung verbeten und radikal abgeblockt (man denke nur an das Abkommen von Kyoto)?

Die Unterschiede, die hier gegeneinander stehen, sind offenbar nicht überwindbar. Europa befindet sich noch immer (und meiner Meinung nach ohne grundlegende Veränderung der Ausgangslage wohl auch für immer) in einem aussichtslosen Bürokratenstreit um eine wie auch immer geartete "europäische Einigung". Die Europäische Union besteht inzwischen aus 27 Mitgliedsstaaten und ist nicht einmal dazu in der Lage, den eigenen Bürgern zu erklären, wozu der Laden überhaupt da ist (man beachte die unglaubliche Wahlbeteiligung), geschweige denn sich darauf zu einigen, auf welcher gemeinsamen Verfassungsgrundlage man die gemeinsame Zukunft überhaupt aufbauen soll und statt diese Probleme zu lösen, diskutiert man darüber, wen man als nächstes in die EU holt.

Neben der inneren Zerstrittenheit geht es in Europa und für Europäer immer nur um den eigenen Vorgarten. Globale Probleme sind den meisten Europäern weitestgehend egal und lieber geht man seltsam anmutende Kompromisse ein, die von Politikern teilweise mit abenteuerlichen Verrenkungen als Erfolg verkauft werden, statt sich und seine Interessen (welche das denn auch immer sein mögen) wirklich durchsetzen zu wollen. Die USA hingegen hat gar keine Probleme damit, internationalen Verhandlungspartnern ganz klipp und klar zu sagen "mit uns nicht" und Verhandlungen scheitern zu lassen, wenn sie amerikanischen Interessen und Zielen entgegen stehen.

Die USA wiederum sehen sich ganz eigenen, völlig anderen Problemen gegenüber. Vor der eigenen Haustür, in Mexiko, entbrennt ein Kleinkrieg, in dem seit 2007 in den mit Drogen im Zusammenhang stehenden bewaffneten Auseinandersetzungen mehr Menschen ums Leben kamen als amerikanische Soldaten im Irak und Afghanistan insgesamt getötet wurden. Das eigene Land hat ein erhebliches strukturelles Problem: Der Sozialstaat ist in Amerika eines der schwerwiegendsten Konfliktthemen überhaupt, dessen Umfang und Tragweite kaum ein Europäer auch nur halbwegs nachvollziehen kann. Dazu kommen die Interessen der USA in Afghanistan, Irak, im Iran, im Nahen Osten und so weiter, die von ganz eigenen Zielen aber auch Verpflichtungen bestimmt werden.

In der NATO müssen diese zum Teil erheblichen Widersprüche überwunden werden, denn angeblich sind ja hier alle gleichberechtigt und alle tragen die "Last" des Bündnisses gemeinsam. Gerade Afghanistan zeigt, wie weit die Vorstellungen von "gemeinsam" voneinander abweichen und die jüngsten Entwicklungen machen deutlich, dass es den USA langsam reichlich egal ist, ob "die anderen" mitmachen oder nicht. Aber was bedeutet das für die NATO?

Wenn die USA zu der Überzeugung kommen, dass dieses transatlantische Bündnis mehr und mehr zu einem Debattierclub mutiert, der - ähnlich wie die EU - jedem interessierten offen steht (wer hat sich nicht gefragt, was Albanien und Kroatien in der NATO zu suchen haben?) und jetzt sogar wieder "angedacht" wird, wie man denn zu einer Aufnahme Russlands in die NATO steht, dann wird die USA sich fragen, ob eine weitere Beteiligung an der NATO überhaupt sinnvoll ist.

Diese Überlegung ist meiner Meinung nach gar nicht so verkehrt. Machen wir uns nichts vor: Europa hat an Militär ein Interesse, dass sich am ehesten noch mit "widerwillig" umschreiben lässt. Militärische Projekte werden auf dem Dienstweg geplant und zusammengeklempnert (siehe A400M, NH90, PzH2000, Puma, EuroHawk und so weiter und so fort), ganze fünf von 27 Mitgliedsstaaten halten sich an die verbindliche Vereinbarung, 2% des Bruttoinlandsproduktes in die Rüstung zu investieren, einer davon sind die USA. Wenn es darum geht, wirklich und ernsthaft das Militär einsetzen zu müssen, dann würde sich am liebsten jeder hinter dem anderen und alle hinter den USA verstecken. Wird der gesellschaftliche Stellenwert der Armee hinzugezogen, dann fällt mir zu Deutschland als erstes das Wort "verkrampft" ein. Andere Staaten der EU sind da zwar etwas entspannter und realistischer, aber so richtig stolz ist hier niemand auf seine Bürger in Uniform. Klar, alle haben Militär, aber sieht man mal von England und Frankreich ab: Wer traut sich denn in Europa der eigenen Bevölkerung zuzugeben, dass das Militär tatsächlich existiert und wofür es da ist? Eher niemand. Militär wird in Europa überwiegend versteckt.

Wie soll auf dieser Grundlage eine Zusammenarbeit mit den USA funktionieren? Noch dazu in einem Militärbündnis? Ich sehe da ernsthafte Probleme. Auch in den USA ist man nicht davon begeistert, dass Soldaten sterben, im Gegenteil. Besonders angepisst ist man dort aber davon, dass deren Soldaten für andere (lies: Europäer) ins Gras beißen müssen, bloß weil "die anderen" keinen Bock haben das Spiel nach den nun mal geltenden Regeln zu spielen, sondern sich stattdessen lieber ihre eigenen Regeln und Spiele zusammendichten. Mehr noch: So sehr die Amerikaner auch gefordert, gebeten, verlangt, gelockt und was weiß ich noch haben, an der europäischen Grundhaltung hat sich rein gar nichts geändert, im Gegenteil.

Vor diesem Hintergrund sollte die Frage erlaubt sein, ob die Zukunft der NATO nicht vielleicht doch genau da zu suchen sein sollte, wo die NATO historisch und funktional einmal angesiedelt war. Ursprünglich war die NATO doch im Kern dazu gedacht, die Sicherheit in Europa sicherzustellen, damit auch die USA in Sicherheit leben können, denn Krieg in Europa bedeutete damals zwangsläufig auch Krieg für die USA. Warum sollte Europa diese Rolle nicht alleinverantwortlich und selbständig übernehmen? Warum sollen sich die USA mit den innereuropäischen Querelen herumschlagen? Warum sollen sich andererseits die Europäer mit deutlich erkennbarem Widerwillen an Missionen beteiligen, die sie gar nicht wollen, die die USA aber für notwendig halten? Braucht Europa die USA, um die Sicherheit in Europa zu gewährleisten?

In Europa gibt es seit inzwischen 65 Jahren keine Kriege zwischen Staaten mehr. Den kurzen, aber heftigen Bürgerkrieg in Ex-Jugoslavien und dem Kosovo mal außen vor gelassen lebt Europa in einer ungewohnt langen Phase eines überaus stabilen Friedens. Offensichtlich ist Europa sehr gut dazu in der Lage, sich selbst zu schützen und das eigene Überleben sicherzustellen. Immer wieder wird ja gerade deshalb behauptet, dass man in Europa kein Militär brauche, weil es ja für Europa keine (äußeren) Bedrohungen gäbe. Russland darf man zwar nicht unterschätzen, aber eine militärische Bedrohung Europas ist von dort inzwischen eher nicht mehr zu erwarten. Dazu sind die Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten mittlerweile zu groß. Wer sollte die EU militärisch im größeren Rahmen bedrohen? China? Marokko? Der Sudan? Die Schweiz?

Warum sollen sich die USA dann nicht in allen Ehren und im gegenseitigen Einvernehmen und allem Frieden aus der NATO zurückziehen? Eltern lassen ihre Kinder ja auch irgendwann aus dem Haus und ihr eigenes Leben leben. Die USA haben Europa nach dem Zweiten Weltkrieg genau wie Eltern ihre Kinder "aufgezogen". Sind wir vielleicht als Europa jetzt an dem Punkt angekommen den Schritt in die Unabhängigkeit, sozusagen ins Erwachsenenleben zu machen? Vielleicht muss Europa erst in der harten Realität ankommen, wenn es plötzlich die territoriale Integrität neu hinzugewonnener Mitglieder selber verteidigen muss. Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn Georgien 2008 Mitglied der EU gewesen wäre? Oder wenn Litauen plötzlich um Hilfe ruft? Bislang kann sich Europa hinter den breiten (militärischen) Schultern der USA verstecken, aber hilft das dabei "erwachsen" zu werden und im Innern zusammenzuwachsen?

Ein Sprichwort besagt, dass nichts so sehr zusammenschweißt, wie eine äußere Bedrohung, derer man sich gemeinsam erwehren muss. Vielleicht fehlt uns genau das hier in Europa. Vielleicht ist es genau dieses Problem, dass wir noch immer im wohl behüteten Sandkasten vor uns hin spielen können, ohne uns ernsthafte Sorgen machen zu müssen, denn wenn es hart auf hart kommt, dann sind ja die Eltern (die USA) in Rufweite. Genau das ist aber das Problem bei allen Heranwachsenden: Solange sie nicht wirklich voll für sich selber verantwortlich sind und in jeder Beziehung ohne Netz und doppelten Boden in die Welt hinaus geschickt werden, solange haben sie auch echt krude Flausen im Kopf. Ich denke, bei Europa ist das nicht viel anders.

Man muss sich ja nicht mit den Amerikanern überwerfen. Es geht ja nicht darum, die USA zum "neuen Feind" zu erklären. Im Gegenteil. Was spricht dagegen, dass die EU mit den USA ein Bündnisabkommen schließt? Ein Abkommen, in dem nicht jedes einzelne Land unter ein gemeinsames Dokument seine Unterschrift leistet, sondern die EU stellvertretend für alle seine Mitglieder mit den USA. Als gleichwertige, ebenbürtige Partner. Mit Frankreich und England haben wir eigene Atomwaffen in Europa. Für die "nukleare Abschreckung" (über die man wiederum denken kann wie man will) brauchen wir die USA nicht wirklich.

Wenn Brüssel wirklich die Zentrale Europas ist, wenn im Rat der Europäischen Union tatsächlich die Geschicke und die Zukunft Europas bestimmt werden, wenn wir schon einen Außenminister für Europa haben (ok, er heißt nicht "Außenminister" sondern "Hoher Kommissar" bzw. "Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik"), der die Position der EU-Länder koordiniert, wenn es um die Gestaltung und Durchführung der Außenpolitik geht und der von einem politischen und militärischen Stab unterstützt wird, warum soll der dann nicht auch genau das nach außen tun dürfen, nämlich seinen Job machen?

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich der Meinung, dass die Abnabelung Europas von den USA, die momentan künstlich durch die NATO verhindert wird, für beide Seiten ein echter Gewinn sein kann und wird. Die USA können ihre eigenen Interessen dort vertreten, wo sie es für notwendig halten (solange das Völkerrechtlich abgesegnet ist, siehe Weltsicherheitsrat) und Europa kann sich mit sich selbst beschäftigen und seine eigene Suppe auslöffeln. Auf lange Sicht kann das für alle Beteiligten nur von Vorteil sein.

Oder was übersehe ich gerade?

1 Kommentar:

  1. In meinen Augen ein auf kurz oder lang notwendiger Schritt,
    wäre auch für eine Europaarmee *in raum werf*

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