Der Papst erklärt die Religion für "außerhalb der wissenschaftlichen Beweisbarkeit". Er behauptet, der Ethos sei durch die Religösität, durch den Glauben gestiftet. Das wiederum bedeutet, dass der Verstand nicht dazu in der Lage ist, aus seinem Ratio heraus bestimmte Verhaltensformen - oder Konzepte - zu entwickeln, die ein gemeinsames Miteinander ermöglichen, solange das Konzept des Glaubens (mithin das Konzept der Religion) nicht existiert.
Sinn und Zweck jener These ist offensichtlich, aber ist sie schlüssig? Soziales Verhalten ist in allen menschlichen Kulturen zu beobachten. Soziales Verhalten war allerdings auch in allen Kulturen zu beobachten, bevor es das Christentum oder dessen unmittelbare Vorläufer überhaupt gab. Das Christentum wird aber als "Ursprung von Ethos und Moral" dargestellt. Ein Henne-Ei-Problem?
Es stellt sich daher nicht etwa nur die Frage, ob und inwiefern Ethos und Moral des Christentums frei von Zweifel und Kritik sind. Insbesondere dort, wo sie sich direkt auf die Kirche oder die Religion stützen gibt es genügend Anlaß das Verhältnis der beiden zueinander genau zu beobachten. Die lange Liste der Gräultaten, die im Namen des Glaubens begangen wurden - auch in der Neuzeit, siehe z. B. Ethnische Säuberungen in Jugoslavien und Irak - sind im Cristentum, aber eben auch in anderen Religionen zu beobachten und damit ist das wohl eher ein generelles denn ein spezifisches Problem.
Wie weit ist es mit der "Moral" einer Kirche, die sich als Hüter der Religion versteht, wenn diese zum Beispiel in einer Gegend mit solchen "verbrüdert", die offen antisemitisch sind, in anderen Gegenden aber genau diesen Antisemitismus verurteilt? Wenn die Kirche als Hüter und Bewahrer des Glaubens, mithin der Religion als solches, ihre eigene Moral abweichend von der der eigenen Lehre parktiziert, ist dann die Kirche überhaupt für diesen "Zweck" geeignet? Wenn sie nicht für diesen Zweck geeignet ist, welche Forderungen darf sie dann legitim an andere formulieren?
Davon ganz abgesehen: Die Kirche ist auf die Wissenschaft angewiesen. Nicht unbedingt auf jeden Zweig der Wissenschaft gleichermaßen. Auf einige Bereiche ist sie sehr dringend angewiesen, auf andere eher weniger. Als Beispiel mögen Geschichte, Finanzwesen, Gesellschaftsforschung oder auch Sprachwissenschaften herhalten. Die Kirche braucht die Erkenntnisse dieser Forschungszweige, um ihre vielfältigen selbsterklärten Aufträge überhaupt erfüllen zu können.
Ohne die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften zum Beispiel, könnte die Kirche ihre enormen Geldmittel nicht verwalten. Ohne die Erkenntnisse der Sprachwissenschaften könnte die Kirche ihre eigenen Texte nicht deuten und ihr eigene Herkunft belegen. Wieder andere Forschungszweige braucht sie, ohne unmittelbar oder existenziell auf sie angewiesen zu sein. Die Physik wäre ein passendes Beispiel, denn ohne die Physik hätte die Kirche zum Beispiel keinen Strom.
Die Gegenfrage lautet: Braucht die Wissenschaft die Kirche? Oder braucht die Wissenschaft die Religion? Sind tatsächlich die Konzepte des Zusammenlebens nur auf Grundlage einer Religiösität und dem Konzept der Gottesfürchtigkeit zu entwickeln oder kann der Mensch Regeln der Gesellschaft auch durch rationales Vorgehen, oder durch Versuch und Irrtum erkennen und umsetzen?
Andersherum: Interessiert sich ein Baum, ein Berg, diese Welt oder gar das Universum dafür, was wir glauben? Spielt es überhaupt eine Rolle? Soweit ich das bislang verstanden habe sind die einzigen, die sich in irgendeiner Form überhaupt davon beeindrucken lassen, ob irgendjemand an einen bestimmten Gott glaubt (oder eben nicht) ein paar Menschen, die denselben oder aber eben einen konkurrierenden Glauben haben. Die Religion hatte über diesen Konkurrenzkampf durchaus Einfluss auf die Entwicklung der kulturellen Entwicklung des Menschen.
Hatten Religion und Glaube aber einen Einfluss auf den Aufbau der Materie? Oder auf die Struktur des Sonnensystems? Oder der Glaube an höhere Wesen einen Einfluß darauf, wie die Fortpflanzung funktioniert?
Wenn sich eine Religion aufschwingt den Thron der umfassenden Erkenntnis zu beanspruchen, warum dann ausgerechnet diese? Warum nicht eine andere? Wenn es so viele und so alte Religionen gibt und nicht "die Eine", die allgemeingültig "richtig" ist, wie der Papst es vom Christentum behauptet, lässt das dann nicht den Schluß zu, dass es eventuell gar nicht "die eine richtige Religion" gibt oder geben kann?
Hätte sich im Laufe der menschlichen Geschichte nicht herumsprechen müssen, dass diese eine Religion die richtige ist? Hätte die Wissenschaft das nicht gar belegen müssen, wenn doch die Religion Stifter und Kern des Ethos aller Forschung ist? Das ist aber bis heute nicht geschehen und es sieht nicht danach aus, als wenn das zukünftig geschähe.
Was also soll dann die Erklärung des Papstes, dass die Religion und der Glaube außerhalb der Rationalen Erklärbarkeit und damit auch außerhalb der wissenschaftlichen Beweisführung angesiedelt, aber Ratio und Wissenschaft als Logos, als "Vernunft", unabdingbar immanent sind?
Ist es nicht so, dass "der Glaube" eingebettet in "die Religion" (egal welche) als ein Machtinstrument einiger weniger innerhalb des jeweiligen sozialen Gefüges (aka: Systems) benutzt wird, um einen eigenen Anspruch auf Entscheidungsgewalt zu formulieren, der denen strenggenommen gar nicht zustehen dürfte, wenn "die Religion" leisten könnte, was die jeweilige Kirche behauptet, nämlich die Erkenntnis des Richtigen?
Wenn die Religionen durch die Kirchen genau das leisten könnten, dann wären weder die Kirchen noch die Religionen durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder in das Zentrum der Kritik geraten und immer wieder mit der Wissenschaft nicht nur hart kollidiert, sondern von dieser auch immer wieder schmerzhaft widerlegt worden und das um so schneller, weitreichender und drastischer, je weiter der wissenschaftliche Fortschritt voranschreitet...
Oder wo bin ich jetzt falsch abgebogen?
Sonntag, 17. September 2006
2 Kommentare:
Bedingt durch die DSGVO müssen Kommentare zu Beiträgen der Tapirherde manuell freigeschaltet werden, um um der Veröffentlichung von Spam-, Hass- oder sonstiger unerwünschten Kommentaren vorbeugen zu können. Die Veröffentlichung eines Kommentars kann deshalb ein wenig dauern. Sorry dafür.
Wenn Sie Beiträge auf Tapireherde kommentieren, werden die von Ihnen eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. die IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Weitere Infos dazu finden Sie in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
tja, die größten Sekten der Welt können tun und lassen, was sie wollen. Nieder mit ihnen! Keiner braucht sie. Sie bringen nur Unheil und Kriege, denn auch der "Kampf gegen den Terror" ist im tiefsten Sinne nur ein Glaubenskrieg.....
AntwortenLöschenachso, was ich vergessen habe:
AntwortenLöschenUm die sozialen Einrichtungen, die die Kirche unterhält nach ihrem Sturz aufrecht zu erhalten, kann man die Kirchensteuer umschichten und diesen Einrichtungen zur Verfügung stellen....