Montag, 6. August 2018

Freiwillig will keiner? Dann eben mit Zwang!

Angestoßen durch die offenkundige Inkompetenz der großen Politik, in den für die Gesellschaft überlebenswichtigen Berufsfeldern der sozialen Dienstleistungen wie Alten- und Krankenpflege, aber auch Bundeswehr und Kinderbetreuung Rahmenbedingungen zu schaffen, mit denen diese Berufe am Arbeitsmarkt auch nur halbwegs konkurrenzfähig wären, aber eben auch wegen dem einem nicht Wollen oder nicht Können geschuldeten Ausbleiben, einen übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen, erweckt die heimliche Favoritin auf das Thronerbe der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, die Debatte um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht und trifft bei Vertretern aller Fraktionen auf Zustimmung.

Die Frage, ob eine Berufsarmee, die sich ausschließlich aus freiwillig Dienstleistenden rekrutiert, gesellschaftlich eine gute Idee ist oder nicht, wurde bereits im Vorfeld der Abschaffung der Wehrpflicht in Deutschland ausgiebig diskutiert. Die Hinweise auf die Erfahrungen aus der Weimarer Reichswehr und der auch unbestritten zu beobachtenden Tendenzen hin zur Entstehung von parallelgesellschaftlichen Strukturen in Berufsarmeen waren schon 2010 durch internationale Beispiele bekannt (US Marines Corps, US Army, Fremdenlegion, etc. pp.). Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass auch die Bundeswehr nicht davor gefeit ist. Erinnert sei exemplarisch an Oberleutnant Franco A., die Vorgänge in der Staufer-Kaserne Pfullendorf, in der Edelweiß-Kaserne in Mittelwald, oder auf dem Schnellboot Hermelin.

Die Warnungen, dass eine Berufsarmee, bedingt durch Struktur und Wesenskern, eher dazu führt, verstärkt im Ausland eingesetzt zu werden, haben sich im Kern ebenso bestätigt. Eine Armee aus Wehrpflichtigen kann - zumindest nicht ohne umfangreiche Eingriffe und Korrekturen im Grundgesetz - nicht im Ausland eingesetzt werden. Die Klagen über die "außerordentlichen Belastungen" der Bundeswehr durch Auslandseinsätze sind inzwischen nahezu gewohnheitsmäßiger Teil jeder Diskussion um beinahe jeden Aspekt der Bundeswehr. Auch die Dauer der Auslandseinsätze insgesamt hat zugenommen, ebenso wie die fast selbstverständliche Inanspruchnahme der Bundeswehr durch die Bündnispartner, sei es im Kosovo, am Horn von Afrika, in Afghanistan oder in Mali.

Die Wehrpflicht ist in Deutschland durch Artikel 12a im Grundgesetz verankert. Durch Änderung des Wehrpflichtgesetzes wurde 2010 bestimmt, dass ab 2011 die Bundesrepublik die Einberufung zum Wehrdienst mit Ausnahme des "Spannungs- oder Verteidigungsfalls" (WPflG Art. 1, Abs. 1a und 2) aussetzt. Theoretisch könnte der Staat die Wehrpflicht wieder einführen. Aber. Es waren gerade die Erfahrungen aus der Umsetzung der Wehrpflicht, die letzten Endes auch zu deren Abschaffung geführt haben. Das Stichwort "Wehrgerechtigkeit" mag manchem noch in deutlicher Erinnerung sein.

Die Wehrpflicht in Deutschland führte zu allerlei kuriosen Geschichten und Anekdoten und sorgte auch für die Justiz immer wieder für ausreichend Arbeitsbeschaffungsmöglichkeiten. Die Dauer des Wehrdienstes schwankte im Laufe der Jahre zwischen sechs und achtzehn Monaten, erreichte zwischen 1962 und 1973 ihren Spitzenwert. Danach wurde die Dauer langsam, aber stetig reduziert, am Ende auf sechs Monate. Selbst die Bundeswehr stellte am Ende öffentlich die Frage, ob Wehrpflichtige, die für neun oder sogar nur noch für sechs Monate eingezogen wurden, überhaupt noch dazu fähig wären, irgendeinen sinnvollen Beitrag zu leisten, selbst wenn sie es denn wollten.

Mit der Diskussion über die Einstellung des Wehrdienstes einher gingen Warnungen der caritativen Einrichtungen, die vor erheblichen Problemen im sozialen System warnten, denn mit Wegfall der Wehrpflicht würde auch zwangsläufig der Ersatzdienst ("Zivildienst") entfallen und das System würde nicht dazu in der Lage sein, das zu kompensieren (exemplarisch: Tagesspiegel 2011, Stern 2004, Deutschlandfunk 2009). Diese Warnungen haben sich als absolut zutreffend erwiesen.

Die CDU behauptet, dass die weltpolitische Situation eine Wiedereinführung der Wehrpflicht unumgänglich macht. Das ist- bei allem Respekt - Blödsinn. Es geht nicht um fehlende Soldaten, die ohnehin ausschließlich im Inland eingesetzt werden könnten. Die Bundeswehr hat nicht etwa deshalb zu wenige international einsetzbare Soldaten, weil grundsätzlich niemand dahin will. Es will nur kaum jemand für das Geld und schon gar nicht zu den Bedingungen. Selbst die Bundeswehr hatte damals nicht wirklich Bock auf die Wehrpflichtigen, die selber nur beim Bund waren, weil sie es mussten. Es hat den Staat unfassbar viel Geld gekostet, sich alleine mit dem Unwillen der Zwangsverpflichteten vor Gericht herumzuschlagen. Von den wirtschaftlichen Folgen des Unwillens bei der Armee kann sich ein Bild machen, wer sich mal mit ehemals Wehrpflichtigen beim Bier über die Zeit "beim Bund" unterhält.

Allerdings ist leicht zu durchschauen, was die Politik sich hier wirklich vorstellt. Spekuliert wird auf den Unwillen der großen Mehrheit der gerade volljährig Gewordenen, bei der euphemistisch "marode" zu nennenden Bundeswehr Zeit zu vertrödeln und stattdessen in einen der vielen Zivildienste auszuweichen. Da wären dann genau die billigen Zwangsarbeiter zu finden, die dem Pflege- und Sozialsystem fehlen. Zivildienst müsste nicht entsprechend der hochqualifiziert ausgebildeten Pflegekräfte bezahlt werden, sondern könnten mit einem gerade noch am Rande der Verfassungsmäßigkeit angesiedelten Mindestlohn den darbenden Chefetagen der Pflegekonzerne die dringend benötigte Entlastung bieten.

Zack - Sozialstaat Deutschland gerettet! Aber ist es wirklich so leicht? Artikel 12 Grundgesetz verbietet die Zwangsarbeit. Deshalb kann auch nicht "mal eben" ein allgemein verpflichtender Dienst für Staat und Gesellschaft geschaffen werden, der vielleicht "unter anderem" die Option "Dienst bei der Bundeswehr" anböte. Darauf wurde in der jetzt angestoßenen Debatte bereits hingewiesen. Beantwortet wurde dieser Hinweis durch den lapidaren Kommentar, dass man dann eben das Grundgesetz ändern werde. Gleichzeitig bemüht sich die CDU intensivst und hektisch darum, den Begriff des "Zwangsdienstes" aus der Debatte zu entfernen:

"(...) der Ersatzdienst für diejenigen, die keine Wehrpflicht leisten wollen, aus unterschiedlichen Gründen, ist auch vor dem Grundgesetz kein Problem. Ein allgemeiner Zwangsdienst ist das Problem - den fordert aber auch keiner."
Patrick Sensburg, CDU, in: DLF

Einen solchen generell für jeden verpflichtenden Dienst einzuführen mag sich auf dem Papier gut lesen. In den Chefetagen der sozialen Dienste werden zurzeit wahrscheinlich Freudenpartys gefeiert, denn die Ankündigung, für Krankenhäuser und andere Pflegeeinrichtungen verpflichtende Personalquoten einzuführen, wurden dort mit Blick auf die Bilanzen und Gehälter der Konzernvorstände nicht gerade Begeisterung aufgenommen. Da herrscht ohne jeden Zweifel Bedarf und auch mehr als genug Potenzial, die Leute auch zu beschäftigen. Hier scheitert es eher am Willen, die notwendigen und gerechtfertigten Gehälter auch zu bezahlen. Aber bei der Bundeswehr?

Kasernen, Personal (Stichwort: Ausbilder) und Material wurden im ganz großen Stil verkauft und abgeschafft. Wenn "plötzlich" jedes Jahr rund eine Millionen Menschen in den Genuss der Dienstpflicht kommen und nur 10% davon sagen "ich geh zum Bund", dann muss die Bundeswehr 100.000 Menschen zusätzlich ausrüsten, unterbringen, ausbilden und beschäftigen. Prima Plan. Wie? Womit? Wo? Wir haben jetzt schon gewaltige Probleme mit den paar Freiwilligen, die sich jetzt beim Bund melden. Die Debatten um die Aufstockung des Wehretats haben die Grenzen der Comedy lange hinter sich gelassen. 100.000 Leute mehr - und das ist eine niedrig angesetzte Schätzung - werden zu ganz anderen finanziellen Herausforderungen führen. Wie das politisch realisiert werden soll, ist mir angesichts des völlig zerstrittenen Parlaments in allen die Bundeswehr betreffenden Belangen völlig schleierhaft.

Selbst wenn die Bundeswehr nur eine Option in einem größeren Katalog von "verpflichtenden Angeboten" wäre und deshalb die Verweigerung des Dienstes an der Waffe ein untergeordnetes Problem wäre: Was, wenn sich keine Sau für die Bundeswehr meldet? Was, wenn die Bewerberquote noch stärker einbricht? Denn: Wenn ich eh nur einen marginalen Hungerlohn bekomme, dann wähle ich doch das allerkleinste Übel und das ist erfahrungsgemäß nicht die Bundeswehr. Das Problem ist nämlich, dass es noch genügend Eltern und Großeltern gibt, die beim Bund waren und dem Nachwuchs bildhaft schildern können, was da auf sie zukommt - egal, ob das Geschilderte realistisch ist oder nicht, motivierend wirken diese Geschichten in der Regel nicht.

Ganz abgesehen von den Problemen, die es schon mal gab und dann wieder geben wird: Das Handwerk hat existenzielle Nachwuchsprobleme. Denen erstmal die Azubis wegnehmen, wie es schon damals gerne gemacht wurde? Ich bin mir sicher, dass das zu ausufernder Maximalbegeisterung in den Branchen führen wird. Ausnahmereglungen einführen? BGH und BVG sind eh unterfordert. Die warten nur auf die sofort wieder in Gang gebrachten Normenkontrollklagen zu Wehrgerechtigkeit und Zwangsarbeit etc. Verwaltungs- und Arbeitsgerichte warten nur auf Klagen wegen Härtefällen, ungerechtfertigten Eingriffen in Arbeitsverhältnisse und so weiter und so fort. Fachärzte werden sich mit Sicherheit über den Schub an Untersuchungen und Attesten freuen, mit denen die Tauglichkeit zu diversen "Diensten" von Unwilligen, aber Zahlungsbereiten, ausgeschlossen werden wird.

Wirtschaftlich wäre dieser "verpflichtende Dienst" insgesamt ein gewaltiges Subventionsprogramm. Aber wer bezahlt das? Und wovon? Kann ernsthaft irgendein mit Steuermitteln ausgestatteter Sektor von sich behaupten, er wäre "überfinanziert"? Wohl kaum. Aber von allen Bereichen müssten Gelder abgezogen werden, um Infrastruktur und notwendige Verwaltung zu schaffen oder wiederaufzubauen. Was also kürzen? Renten? Gesundheitssystem? Umweltschutz? Bildung? Entwicklungshilfe? Forschung? Na? Wer hat zu viel Geld? Irgendwelche Freiwilligen?

Ich verstehe die Intention vollkommen. Die Wehrpflicht und der damit zusammenhängende "Zivildienst" lösen auf den ersten Blick eine Menge Probleme. Aber die, die dessen Wiedereinführung jetzt fordern, sind die, die genau wissen, dass sie davon niemals betroffen sein werden. Selbst wenn die Einführung mit Hochdruck vorangetrieben würde: Die bereits jetzt erkennbaren parlamentarischen Widerstände lassen erkennen, dass es mit ziemlicher Sicherheit kein einstimmiges Dafür bei den Fraktionen geben wird. Die unumgänglichen Gesetzesänderungen dürften sich diverse Jahre hinziehen. Die CDU plant das Thema deshalb auch eher als mögliche Komponente des neuen Grundsatzprogramms 2021 ein - das wäre in drei Jahren. "Zügig" oder gar "morgen" wird das also so oder so nicht kommen. Über den Daumen gepeilt würde ich mal sagen 2025 so die grobe Gegend.

Aber bis dahin haben wir trotzdem ein Problem beim Bund und in der Pflege. Die Bundeswehr zerfällt. Oder besser: Deren Material. Entsprechend entwickeln sich die Bewerberzahlen. Das Pflegesystem steht mit anderthalb Beinen im Personalkollaps. Beide Großbaustellen haben keine fünf, sieben oder zehn Jahre Zeit. Mit Notlösungen überbrücken? Das hat man bis jetzt schon versucht. Es zeigt sich aber, dass das gar nicht funktioniert und hat die Situation soweit verschärft, dass wir jetzt in der Situation sind, dass selbst ganz weit oben in der Politik klar ausgesprochen wird, dass uns der Laden um die Ohren zu fliegen droht.

Ob es dem Vertrauen der Bürger in Staat und Politik hilft, wenn dort mit der gerade in jüngerer Vergangenheit gezeigten Professionalität und Sachlichkeit über solche fundamentalen und jeden betreffenden Fragen unseres Staates gestritten wird, ist noch mal ein ganz anderes Thema. Ich mag mir aber nicht ausmalen, was passiert, wenn dieses Thema ernsthaft auf die Tagesordnung gesetzt und dann ähnlich professionell vor die Wand geschleudert wird, wie zum Beispiel die Rechtschreibreform. Oder die Abgasnormen. Oder die Atomkraft. Oder die Raumfahrt. Oder Bologna. Oder das Gesundheitswesen. Oder Riester. Oder Hartz. Oder Glyphosat. Oder, oder, oder.

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