Freitag, 5. September 2008

Folkloristisch, pittoresk, Deutschland

DenkmalWenn wir an Deutschland denken, dann beschreiben wir uns meistens als fortschrittliches Land, als modern, als in der Spitzengruppe der Staatengemeinschaft stehend und so weiter. Klar, wir räumen auch mal Probleme ein, aber das sind doch eher Lappalien oder Einzelschicksale. Aber so generell ist doch alles toll. Mehr oder weniger. Zumindest im direkten Vergleich mit sagen wir mal Angola oder der Nord Korea. Aber wie weit vorne sind wir tatsächlich?

Gestern fand zum Beispiel der sogenannte "Datengipfel" statt. Da wurde von ganz wichtigen Menschen erschrocken darüber Debattiert, dass ja "einfach so" mit Daten gehandelt werde, sich der Betroffene nicht wehren kann und der Staat dem sogar noch Vorschub leistet, indem er die Meldedaten seiner Einwohner verhökert. Dringend müsse gehandelt werden. Wie sieht "handeln" in Deutschland aus? Man beschließt die Gründung einer Arbeitsgruppe. Für den Bund der Kriminalbeamten zeigt das, "mit welchen folkloristischen Ansätzen Deutschland kriminellen Machenschaften in Internet im internationalen Datenhandel zu begegnen beabsichtigt". Methoden wie aus dem Mittelalter der Aktenhaltung.

Anderes Beispiel: Bundeswehr. Raus aus Afghanistan, denn dort ist es zu gefährlich. Helfen wolle man. Wiederaufbau. Und so. Polizei ausbilden. Kämpfen? Ja nee, eher nicht, woll? Das ist ja nicht der erteilte Auftrag. Und Krieg? Auf gar keinen Fall! Von Krieg zu sprechen ist kontraproduktiv. So spricht der Herr Jung, in deutlicher Panik, sobald das Wort "Krieg" genannt wird. Deutschland hat niemandem den Krieg erklärt, betont er dann herrisch.

Wann wurde denn der letzte Krieg "erklärt"? Ob jene 30 toten Soldaten der Bundeswehr auch der Meinung wären, dass dort kein Krieg herrscht? Wahrscheinlich haben die USA, Großbritanien, Frankreich, Kanada und wer sich dort sonst noch engagiert alle gar keine Ahnung, wenn deren Regierungen vom Krieg in Afghanistan sprechen. Argumentationen, die einer Denkweise des letzten Jahrhunderts entsprechen.

Pittoresk auch die Debatten um die Deponie Asse. Schon seit Jahren sollen alle Verantwortlichen ganz genau gewusst haben, was da Sache ist. Jetzt ist nicht mehr das Niedersächsisches Ministerium für Umwelt zuständig, sondern das Bundesamt für Strahlenschutz. Aber das Bundesministerium für Umwelt soll oder will oder muss bis Ende des Jahres eine Grundsatzentscheidung über die Zukunft des Atommüll-Lagers Asse treffen.

In der Zwischenzeit wird darüber gestritten, ob das Bergwerk morgen, in zwei oder vielleicht doch erst in zwanzig Jahren einstürzen wird und ob man den radioaktiven Müll in der Zwischenzeit dort herausholen kann oder soll oder eher nicht oder wie oder was. Ob wirklich etwas getan wird, wissen wahrscheinlich nicht einmal die Arbeiter vor Ort. Kompetenzgerangel in Schilda. Kein Problem, das sich nicht totdebattieren ließe. Ganz wie damals.

Während in Deutschland der Wahlkampf tobt, dem bereitwillig alles geopfert wird, was an Resten von Glaubwürdigkeit seitens der Politiker überhaupt noch vorhanden sein könnte, wird besonders stark ins Ausland abgelenkt. Auf die USA, denn dort ist auch Wahlkampf. Und wenn da gewählt wird, wird alles besser. Wie früher. Dann haben die USA uns wieder leib und wir sind wieder in Sicherheit und keiner kann uns was tun und wir müssen uns nicht mehr mit der bösen bösen Welt beschäftigen, denn das tut der Amerikaner ja für uns. Ganz so wie früher.

Früher. Dieses Wort scheint Deutschland im Moment am Besten zu beschreiben. Schule? Früher! Uni? Früher! Politik? Früher! Gesundheit? Früher! Wirtschaft? Früher! Egal welches Thema in Deutschland zur Zeit angesprochen wird, überall wird nach hinten, in Richtung der Vergangenheit debattiert und gedacht. Gemeinsamer Tenor ist überall, dass es früher besser war. Oder zumindest grundsätzlich gar nicht so schlecht, wenn man halt hier und da etwas ein wenig anders macht. Die Vergangenheit soll in die Zukunft zu transportiert werden ohne sie zu verändern - es sei denn, diese Veränderung ist im Wahlkampf hilfreich, wie z. B. Herr Lafontaine vorführt.

Während der Rest der Welt sich überwiegend darauf konzentriert, dass es weitergeht, konzentriert man sich hierzulande darauf, dass sich möglichst nichts verändert. Veränderungen sind schlecht, sind gefährlich, unüberschaubar, ungewohnt, unzumutbar. Da muss man sich gegen wehren! Besinnt Euch auf Eure Wurzeln! Ehret die Ahnen! Rettet die Alte Welt!

Langsam - ganz langsam - beginne ich zu begreifen, was Onkel George "damals" eigentlich meinte, als er von "Old Europe" sprach. Ob ihm klar ist, wie sehr er den Nagel damit auf den Kopf traf? Ob uns rechtzeitig klar wird, welche Warnung er uns damals hat zukommen lassen?

Ich weiß es nicht, aber ich habe Zweifel.

3 Kommentare:

  1. Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründ' ich einen Arbeitskreis.
    Sind wir eine große Truppe,
    besser noch 'ne Arbeitsgruppe.

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  2. Also Veränderungen sind zwiespältig. Es gibt auch positive Veränderungen, das will ich nicht leugnen. Nur hier sicher nicht, wenn sich hier was ändert ist dank der großen Kompetenz unserer Entscheidungsträger das Chaos vorprogrammiert. Dass eine Veränderung hier vielleicht doch auch Auswirkungen da haben kann, ist den meisten Politikern entgangen. Die, die was merken, haben eh die Fresse zu halten und sind ja nur hyperaktive Kleinkinder.

    Ergo: Seien wir froh, dass es bleibt, wie es ist, es könnte noch viel schlimmer werden...

    @adger
    Schön, dass Du wieder "da" bist!

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  3. "Ich weiß nicht ob es besser wird, wenn es anders wird, aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll." Lichtenberg traf es auf den Kopf und einige Leute hierzulande sollten sich das echt hinter die Ohren schreiben. :-/

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