Montag, 11. August 2008

Chinadebatte

Flagge ChinaVorhin hatte ich eine längere Diskussion über China. Besonders über das Verhalten des Staates "China" gegenüber seinen nach Autonomie strebenden Provinzen. Wie so oft: Wenn Deutsche über China sprechen, dann ist Tibet ganz schnell auf der Tagesordnung. Fast schon eine Selbstverständlichkeit ist es in solchen Gesprächen vorauszusetzen, dass China ja "eigentlich" auf dem "richtigen" Weg sei, aber die Sache mit den Menschenrechten und erst Tibet... Das geht ja so mal gar nicht. Freiheit für Tibet! Nieder mit der Diktatur! Auf die Frage hin, ob China überhaupt eine Diktatur sei, reagiert der Großteil der Gesprächspartner mit völliger Verblüffung und Entrüstung. Natürlich ist China eine Diktatur! Das kann man doch gar nicht anzweifeln! Und Kommunisten sind das auch!

Wer so reagiert, sollte sich spätestens jetzt zurücklehnen und darüber nachdenken, was da gerade im Kopf passiert und welche Schranken und Scheuklappen gerade den eigenen gestreckten Galopp über den Acker der vollkommenen Unkenntniss diktieren. Ist ein autoritäres Einparteiensystem, dass mit Mehrheitswahlrecht und (indirekt) unter Beteiligung aller Bürger operiert eine Diktatur? Klar, "Kommunismus" ist schlecht, haben wir ja an der DDR gesehen, aber wie kommunistisch ist das China von heute eigentlich?

China hat eigene Vorstellungen von richtig und falsch, die so rein gar nichts mit unserer Vorstellung zu tun hat. Für uns steht das Individuum im Zentrum allen Handelns. "Vom Tellerwäscher zum Millionär" ist unser Leitbild, bei dem es ausschließlich um den Einzelnen und nie um das Ganze geht. Der Einzelne ist der einzige und zentrale Dreh- und Angelpunkt unseres Weltbildes. Warum wohl verliert die Familie immer mehr an Bedeutung in unserer Gesellschaft?

China dagegen hat eine über Jahrtausende gewachsene Tradition der gegenseitigen und allumfassenden Loyalität. Das erscheint uns spätestens seit dem Dritten Reich instinktiv als gefährlich und falsch. Grob vereinfacht gilt in China: "Sei Deinem Land gegenüber loyal, dann ist Dein Land loyal zu Dir." Die Methoden, mit denen diese Loyalität durchgesetzt wird, sind bestimmt diskussionswürdig, aber darum soll es jetzt mal nicht gehen. China macht Fehler, auch gravierende und überflüssige, aber wer macht das nicht? Die USA vielleicht? Russland? Frankreich? Oder gar Deutschland?

Lassen wir also mal die Frage außen vor, ob China das "richtige" System hat oder nicht, denn diese Frage können wir schon gar nicht beantworten. Wir leben schließlich in einem System, dass uns von außen diktiert wurde und das von den meisten gar nicht verstanden wird. Ich höre Protest? Na gut, dann geh doch mal raus und frag irgendjemanden auf der Straße was denn eine Republik ist und worin der Unterschied zur Demokratie besteht. Warum sind wir ein föderaler Bundesstaat? Seit wann gibt es ein einigermaßen einheitliches Deutschland unter einer allumfassenden Führung, die keine Monarchie oder Diktatur ist und wer hat die auf welcher Grundlage errichtet und wer hat das autorisiert? Soviel zu den Themen "Wir haben aus eigener Kraft das richtige System erfunden" und "Wir haben Ahnung".

In unseren Köpfen ist Tibet annektiert worden. Wir denken da in Zeiträumen von ein paar Jahrzehnten und würden diesen Vorgang instinktiv irgendwo im 20. Jahrhundert ansiedeln. Wir beziehen uns auf das Jahr 1950, als China in Tibet einmarschierte und dessen Unabhängigkeit beendete. Es ist kaum jemandem bewusst, dass Tibet seit dem 13. Jahrhundert ein Protektorat des Chinesischen Kaiserreichs war und erst in den ganz China befallenden Unruhen ab ca. 1900 eine Art Unabhängigkeit erlangte, die aber eher darauf zurückzuführen sein dürfte, dass China mehr mit sich selbst und seinem eigenen Überleben als mit seinen Protektoraten zu tun hatte.

Man könnte auch sagen, dass sich Tibet damals für unabhängig erklärte, weil man nicht wusste, ob es das China, dass bis gestern noch das Überleben Tibets gewährleistet hatte, zukünftig überhaupt noch geben würde. In China fanden zu der Zeit massivste Umbrüche statt und die Frage, ob China diesen Prozess überhaupt als ein Staat überleben würde, war alles andere als eindeutig absehbar.

So gesehen hat China seit Ewigkeiten das Überleben der Menschen in Tibet ermöglicht. Natürlich nicht uneigennützig, aber das gilt auch für andere. Oder haben wir uns etwa aus reiner Selbstlosigkeit in Afrika engagiert? In Tibet hat es eigentlich nicht viel, von Gegend, Steinen, Schnee, Salz, Mönchen und ein paar Yaks mal abgesehen. Fast alles in Tibet wird seit Ewigkeiten aus China importiert. China schützte Tibet auch gegen äußere und auch gegen innere Feinde. China hat deshalb den aus dieser Perspektive nachvollziehbaren Anspruch, Tibet komplett finanziert und aufgebaut zu haben. Wer gibt schon freiwillig auf, was er seit Jahrhunderten aufgebaut und finanziert hat?

Das ist sogar dem Dalai Lama klar. Der will nämlich nicht etwa Unabhängigkeit von China (vergleiche Webseite des Dalai Lama), sondern mehr Autonomie. Tibet will "nur" das Recht für sich, mehr eigene Entscheidungen über eigene Belange zu treffen, weil man in Tibet verständlicher Weise glaubt besser zu wissen, was gut für Tibet ist, als man das in Beijing weiß.

Die Unabhängigkeit von 1913 bis 1950 hat Tibet nicht genutzt, um sich international als eigenständiger Staat zu etablieren. Niemand hat jemals den Herrschaftsanspruch Chinas über Tibet in Frage gestellt, selbst während der Unabhängigkeit nicht. Seit Jahrhunderten nimmt man in Tibet dankbar alles an, was China gibt. Auf welcher faktischen Grundlage sollte eine Unabhängigkeit fußen? Abgesehen vom Wunsch es auch mal alleine (und sehr wahrscheinlich völlig erfolglos) versuchen zu wollen fällt mir gerade nichts ein.

Ja, es gibt in Tibet "Freiheitskämpfer", die ein unabhängiges Tibet und die Rückkehr zum Status von vor 1950 fordern. Ja, die Überlegung als solche ist berechtigt. Aber genauso berechtigt wäre die Überlegung, zum Beispiel Schleswig-Holstein in die Unabhängigkeit zu entlassen, nur weil dort einige Leute der Meinung sind, dass sie von "Deutschland" irgendwie falsch behandelt werden. Ähnlich ist das auch mit der Bayernpartei und deren Forderungen nach einem unabhängigen Bayern. Wie würden "wir" wohl darauf reagieren, wenn sagen wir mal Baden-Würtemberg plötzlich wieder erklärt unabhängiges Königreich zu sein?

Wir verwechseln das chinesische System gerne mit totaler Gleichschaltung in allen Belangen und Bereichen. Damit liegen wir ziemlich falsch. China erlaubt sehr wohl Individualität, aber eben nicht auf Kosten und zu Lasten der Gemeinschaft. Individualität wird unterstützt, solange sie der Gemeinschaft dient und China insgesamt irgendwie weiter bringt. In China herrscht Religionsfreiheit. Allerdings dürfen die Religionen nicht zum Ziel haben, das System zu übernehmen oder umzustürzen. Aus genau diesem Grund haben es Christen in China so schwer, der tibetanische Glaube hingegen ganz leicht: Im Christentum ist der Absolutheitsanspruch hinsichtlich Gültigkeit und universeller Autorität elementar, im tibetanischen Glauben fehlt er.

Die Chinesen wollen Tibet nicht vernichten. Sie wollen auch nicht die Kultur auslöschen oder die Klöster zerstören oder den Glauben verbieten. Für uns unvorstellbar, aber seit der Kulturrevolution hat man in China dazugelernt. Das geht so weit, dass die Tibetaner nicht einmal der "Ein Kind Politik" gehorchen müssen, die sonst überall in China verbindlich ist. Die Chinesen haben sehr wohl erkannt, dass die tibetanische Kultur nicht nur eine kulturelle Bereicherung der Nation der Chinesen ist, sondern auch wirtschaftlich lohnend: Der Tourismus ist in Tibet eine der wichtigsten Einnahmequellen. Und übrigens ist es nicht so, dass Tibet sich von China befreien will, weil es den Tibetern so schlecht geht.

In Tibet hat sich das Bruttoinlandsprodukt seit den 1950er Jahren verdreißigfacht. Die Gehälter in Tibet sind die zweithöchsten unter allen Provinzen in ganz China. Die Lebenserwartung ist von 35,5 Jahren (1957) auf 67 Jahre (2000) gestiegen. Die tibetanische Opposition beklagt zwar, dass China immer mehr Han Chinesen in Tibet ansiedeln würde, um das Volk der Tibeter zu verdrängen. Dem widerspricht man in Beijing allerdings energisch. Es ist nicht Gegenstand des Entwicklungsplans, Han Chinesen in Tibet anzusiedeln, um Tibeter zu verdrängen. Vielmehr sei die Ansiedlung Resultat des Vordringens des Wohlstandes von der Ostküste aus in die verarmten Provinzen im Westen des Landes.

Wir vergessen auch gerne, dass es die Chinesen waren, die den theokratischen Despotismus in Tibet beendeten. Man kann hier sicherlich argumentieren, dass der Teufel mit dem Beezelbub ausgetrieben wurde, aber in Tibet herrschten während der Unabhängigkeit aristokratische Mönche wie Könige und übten ihre absolute Macht unangefochten aus. Das "normale" Volk in Tibet hatte in der Zeit gar keine Rechte und hatte einen mit Leibeigenen im Europa des Mittelalters vergleichbaren Status, inklusive dem Recht, exorbitant hohe Steuern bezahlen zu dürfen. Die Steuern waren so hoch, dass kaum jemand seine Steuerschuld zu Lebzeiten abzahlen konnte, darum wurden diese Schulden vererbt.

Dieses System wurde getragen durch die religiöse Doktrin der Tibetaner, die besagt, dass es das Schicksal eines jeden sei, für seine Sünden in vorangegangenen Leben zu büßen. Deshalb betrachtet die tibetanische Theokratie Sklaverei und Ausbeutung als legitim, ist doch die individuelle Situation eines jeden Einzelnen das unmittelbare Resultat seines eigenen Verhaltens. Dieses Dogma war und ist tief in der Überzeugung des Volkes eingegraben und wird Generation für Generation weitervererbt. Ob das eine "Freiheit" ist, die man befürworten sollte? Das wäre in etwa so, als würde man Deutschland zurück in das 15. Jahrhundert verfrachten.

Sicher, China ist noch ein gutes Stück davon entfernt ein fehlerfreier Staat zu sein - wenn es soetwas überhaupt gibt. Aber China hat in knapp einem Jahrhundert aus eigener Kraft den Weg beschritten, sich von einem nahezu vollkommen isolierten und xenophobischen Kaiserreich zu einer modernen Marktwirtschaft zu entwickeln. Für diesen Weg haben wir Deutsche mehrere hundert Jahre gebraucht und haben es schlussendlich aus eigener Kraft nicht mal geschafft, sondern leben mit einem System, das sich Fremde für uns am grünen Tisch ausgedacht haben. Sind wir deshalb so viel besser?

Wir haben überwiegend gar keine Vorstellung davon, welcher Grad an Loyalität und Nationalstolz in China maßgeblich für alle Entscheidungen ist und es ist uns völlig unverständlich, dass eine Gesellschaft das Individuum der Masse unterordnet, weil wir überwiegend nur an uns selber denken. Nicht nur in der Tibet-Frage schützt China sich selbst. Es schützt sein Territorium und sein Volk. Der Staat als Ganzes schützt sich selbst. Für uns undenkbar, denn für die meisten hier hat "Staat" nichts mit "Bürger" zu tun und wer versteht sich schon als "Bürger"? Zu tief ist hier bei uns die Differenzierung zwischen "Volk" und "System" seit spätestens dem Untergang des GröFaZ und der Entnazifizierung verankert: "Identifierst Du Dich zu sehr mit dem System, ist das am Ende nur schlecht für Dich!" Es ist für uns vollkommen undenkbar, dass wir mit dieser Denkweise falsch liegen könnten.

Ich frage mich, ob unsere Vorstellung von Gesellschaft als nebeneinander her von Individuen, denen es ausschließlich um den eigenen Vorteil zu Lasten aller anderen geht auf lange Sicht gegen ein solches System wie China überhaupt konkurrieren kann oder ob wir nicht vielleicht doch ein oder zwei Dinge von und über China lernen sollten.

(Quelle: BBC, National Public Radio, Michael Parenti, Dalai Lama)

10 Kommentare:

  1. Steiningt ihn, er hat die Richtigkeit des Systems in Frage gestellt...Jehova

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  2. Nicht nur das, sondern vor allen Dingen die Leistungsfähigkeit und Überlebensfähigkeit.

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  3. der asiate an sich braucht halt so ein system weil er eh nicht fähig ist eine eigene meinung zu formulieren. die ausnahmen plappern nur das nach was luxuslinke aus dem western vorschreiben um sich selbst zu profilieren.

    schließlich ist es in gewissen kreisen ja auch schick ein kind aus afrika zu adoptieren um zu zeigen das man was für die armut in der welt tut.

    ein ganzes volk zu retten ist dann nur der logische nächste schritt. wenns nicht funktioniert kann man sich weiter hervortun was für ein gutmensch man ist und wenns klappt sagt man halt das mans schon immer gesagt hat.

    das einzige was mich an dem ganzen kram stört ist das die asiaten, wie die islamisten, dann meinen ihr system vorzugsweise auch auf alle auszudehnen, weil sie es für das einzig wahre halten.

    aber man selbst ist da ja auch nicht anders, weil was der bauer nicht kennt, das frisst er nicht.

    von daher, auf in den krieg.

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  4. Nett, auch mal eine fundierte Meinung zum aktuellen Trend zu hören. :)

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  5. "(...) luxuslinke aus dem western (...)"

    *gröhl*

    -mt

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  6. Halbwissen ist gefährlicher als landläufig angenommen wird ;)

    Mir fällt zu der Problematik ein Zitat ein (leider nur noch Sinngemäß):
    Mit den wachsenden Möglichkeiten [Medien/Internet] wissen immer mehr Menschen über immer Mehr immer weniger, bis letztendlich alle über Alles nichts mehr wissen.
    (Peter Sloterdijk)

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  7. einer der bisher interessantesten und klug durchdachten artikel hier auf / in diesem Blog.

    Adhibendum: China hatte in der Tat größere Probleme Ende des 19.Jhdrs als sich um Protektorate zu kümmern...da sind "wir" der Westen rein und haben uns das Reich hübsch aufgeteilt...Honkong kam ja erst kürzelich zurück (Die Pachtverträge waren ja kein Akt chin. Freiwilligkeit) Wenn man da noch die Opiumkriege, den Boxeraufstand und die japanischen "Expeditionsabenteuer"ab 1937 hinzu denkt, sollten "wir" da Vorsichtig mit der Beurteilung sein, immerhin hat China damals wie heute Tibet als "Protektorat" besser behandelt als der "Westen" deren Protektorate in China....

    MF

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  8. "DeichShaf hat gesagt...

    @adger: Danke."

    'nuff said.

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  9. Im Grundgedanken bin ich mit dem Peter Sloterdijk einer Meinung. Aber mir fällt es schwer die Allgemeine "Dummheit" auf das komplette Volk zu übetragen. Nur weil "viele" Leute nicht die Möglichkeit nutzen sich für mehr, als das eigene Leben, zu interessieren, ist es noch lange keine Zwangsläufigkeit, dass "Alle nichts mehr wissen".

    Deutschland als Volk von Egomanen abzustempeln, aus Gründen der Unwissenheit, ist eine mutige These. Meiner Meinung nach wird Egoismus erst dann zum Problem für eine Gemeinschaft, wenn sich diese Charaktereigenschaft noch mit Ehrgeiz und Intelligenz paart. Diese beiden Gruppen (Egoisten und erfolgreiche Egoisten) sind aber minderheiten. Ich muss abder mit Trauer sagen, dass es die erfolgreicheren Gruppen,von den in Deutschland vertretenen sind.

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