Es ist einfach nur faszinierend, wie die Politik auf bestimmte Reizwörter reagiert. Gestern brach eine bundesweite Debatte vom Zaun, in der es darum ging, ob es in Deutschland eine "Unterschicht" gibt oder nicht. Diese Debatte, bei der es in erster Linie um Schuldzuweisungen und um Streitereien um den Begriff "Unterschicht" ging, geht weiter. Die erste Runde in der alles klärenden Feststellung, dass die Aussage, in Deutschland gäbe es eine Unterschicht, eine Aussage von weltfremden Soziologen wäre, die für die politisch handelnden nicht brauchbar wäre.
Da stellt man sich dann allerdings auch einige Fragen. Wir alle kennen diese bedauernswerten Gestalten, die im Freien übernachten müssen, die in Mülltonnen nach Pfandflaschen und anderem Verwertbaren suchen müssen, um überleben zu können. Keiner von uns bezweifelt, dass es eine Art "Bodensatz der Gesellschaft" gibt, die gemessen am Maßstab des Geldes "ganz unten" angesiedelt ist. Selbst das Fernsehen berichtet immer wieder von "Überlebenskünstlern", die mit dem Sammeln von Pfandflaschen, dem Schnorren in Geschäften und sozusagen "Extrempreisvergleichen" einigermaßen das wirtschaftliche Überleben ihrer Familie zu sichern versuchen.
Was die Bevölkerung als Realität seit Jahren erkannt hat, ist keinem Politiker erlaubt auszusprechen. "Armut" und "Unterschicht" sind Begriffe, deren Nennung einem Sakrileg gleich kommt. Die Reaktionen erinnern sehr an die Feststellung damals, dass es in Deutschland ein Problem mit dem Rechtsextremismus gäbe. Die Parallelen sind verblüffend. Damals wie heute wird um Begriffe und Schuldzuweisungen gestritten, aber nicht um Inhalte. Die werden sorgfältig vermieden: "Wir sind nicht Schuld daran, das waren die anderen und außerdem gibt es keine Unterschicht in Deutschland, wer so etwas sagt, will die Bevölkerung spalten." Ungefähr so lässt sich die Diskussion zusammenfassen.
Wem hilft diese Debatte? Wem hilft es, dass verschiedene Politiker in aller Öffentlichkeit breittreten, dass sie von Soziologie keine Ahnung haben und den Diskurs mit dieser Wissenschaft scheuen? Wenn das nicht so wäre, dann wüssten die hohen Herren, dass der Begriff des Schichtenmodells schon seit etlichen Jahren als unpräzise und unzutreffend aus dem Begriffskanon gestrichen wurde und gegen andere, sehr viel komplexere Modelle ersetzt wurde. Dann wäre den Damen und Herren Politikern bekannt, dass seit Jahren vor genau dieser Entwicklung gewarnt wurde und dann wäre auch bekannt, wo die Ursachen dieser Entwicklung gesehen werden: In einer seit einigen Generationen verfehlten Bildungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.
Es ist nicht etwa so, dass hier Wissenschaftler und Politiker an einander vorbei reden. Im Gegenteil, es ist so, dass die Politiker nicht zuhören wollen und jetzt voller Panik erkennen, was in der Fachwelt seit Jahren prognostiziert und auch frei kommuniziert wird. Das Bildungssystem, die Sozialpolitik und die Arbeitsmarktpolitik spalten primär diese Gesellschaft, und nicht etwa die analysierende Wissenschaft oder gar ein Wort, wie manche Politiker es jetzt darstellen. Aber meinetwegen. Nennen wir es eben nicht Unterschicht, sondern nennen wir es halt Randgruppe. Oder Prekärmilieu. Oder wäre vielleicht "wirtschaftlich suboptimal aufgestellte Konsumentengruppe" genehm?
Gleichzeitig muss dann auch für die Bundespolitik ein neuer Begriff her. Denn "Politik" im Sinne des Wortes ist eine Gestaltung der Gemeinschaft, die auf die Durchsetzung von Vorstellungen zur Ordnung sozialer Gemeinwesen und auf die Verwirklichung von Zielen und Werten ausgerichtet ist und nicht auf das Streiten um Wörter, die man aussprechen darf oder nicht.
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