
Der Urlaub war echt klasse. Ich weiß jetzt, dass es tatsächlich Orte gibt, an denen die Einheimischen nicht nur zwischen "Einwohnern" und "Touris" unterscheiden, sondern erstere wie letztere strikt in verschiedenen Kategorien wegsortieren. Die Einheimischen trennen sich selber in Kategorien wie "gehört dazu" und "gehört nicht dazu". Die genauen Trennungsparameter habe ich nicht verstanden, aber irgendwie sind die altersabhängig.
Da gibt es den Gruß der alteingesessenen Insulaner, der mich ernsthaft verblüffte. Auf der Straße von einer deutlich älteren Frau (Wie alt war sie? 80? 90?) im Vorbeifahren mit "Hey!" gegrüßt zu werden, war mir neu. Ebenso war mir vollkommen neu in Norddeutschland für ein "Moin" verständnislose Blicke zu ernten. Man lernt eben nicht aus. Diese an sich noch harmlose Unterscheidung war allerdings nur der Anfang einer langen Reihe seltsamer Beobachtungen.
Wer noch nie (oder - wie ich - seit Ewigkeiten nicht mehr) auf Norderney war, wird mit der Geographie schnell überfordert. Mitten auf der Insel an einem Schild vorbei zu kommen, das verkündet, dass hier Norderney ende, wird nicht nur mich rätselnd vor einige Fragen stellen. Die Lösung ist so verwirrend wie einfach: Sowohl die Insel als auch die Siedlung auf der Insel heißen "Norderney". Der Ort endet irgendwo mittendrin, die Insel hingegen überall erst im Wasser.

Der "letzte Parkplatz" (dessen Existenz mir wiederum das Vorhandensein des "Nationalparkauses", siehe vorangegangener Artikel, irgendwie logisch erscheinen ließ) liegt mitten im Nichts. Okay, "Nichts" ist jetzt etwas übertrieben, denn hier hat es Sand, Hügel, Grünzeug und Viecher, aber hinter diesem Punkt (von hier aus in westlicher Richtung) ist Ende mit geregeltem Verkehr. Ab hier sind Autos, Mopeds, Fahrräder und so weiter tabu. Der Haken? Nun, von hier bis zum Wrack (mir konnte niemand sagen, um was für ein Wrack es sich eigentlich handelt), das sozusagen das westliche Ende der Insel markiert, sind es, je nach dem, wen man fragt, fünf bis sieben Kilometer.

Die Strecke ist auf dem Papier lächerlich kurz. Marathon würde ich zwar nie laufen (ich bin irre, aber nicht blöd!) und ich bin nun wirklich weder vollkommen konstitutionsbefreit noch schwächlich oder gar weinerlich, aber dieser "kurze Fußmarsch" war ernüchternd. Sehr ernüchternd. Man kommt sich vor, als trete man auf der Stelle und komme keinen Zentimeter voran. Der Sand ist immer "gegen Dich" und egal, was Du auch versuchst, es kostet Dich drei mal mehr Kraft, als Du eigentlich hast. Kurz: Die Hölle für sportbefreite Stadtmenschen. Vom Parkplatz bis zum Wasser sah nach maximal einem Kilometer aus, doch der dauerte gefühlt drei Stunden und kostete mich beinahe alles an Kraft und Ausdauer, was ich irgendwo finden konnte. Der blanke Horror.

Es gibt aber auch Gegenden, in denen der Weg nicht so weit und nicht ganz so beschwerlich ist. Das ist dann in Norderney (dem Ort). Hier allerdings trifft man auf Touristen und die sind einfach nur der Hass. Ernsthaft, seit diesem Wochenende habe ich eine nicht zu unterschätzende Hochachtung vor den Insulanern und ihrer Geduld. Es ist nahezu unbeschreiblich, welche Massen von vollkommen hirnbefreiten Pflegefällen sich als Touristen auf der Insel rumtreiben. Anfangs verstand ich nicht, warum "die Touristen" unterteilt werden in "Touris" und "Cluburlauber", aber das beantwortete sich beim ersten Rundgang durch Norderney (den Ort).
"Cluburlauber" sind ganz leicht zu erkennen. Sie latschen unkoordiniert torkelnd in Grüppchen von drei bis acht Leuten nebeneninander und nehmen dabei so viel Platz in Anspruch, wie da ist. Gegenverkehr interessiert sie nicht und wird dumm-dämlich angepöbelt. "Der" Cluburlauber ist ständig besoffen, ordinär, strunzendoof und tritt im Rudel auf. In seiner Gegenwart wünscht man sich Handgranaten, Schrotflinten und Knüppel und lernt "Touris" zu schätzen. Cluburlauber bevölkern bereits vormittags irgendwelche Alkizuchtsationen und beweisen mit Bravour, dass sich die Anonymen Alkoholiker um Kundschaft keine Sorgen zu machen brauchen. Ernsthaft: Cluburlauber auf Norderney sind derjenige Abschaum, um den die Pestbeulen an der Furunkel am Arsch der Tourismusindustrie einen großen Bogen machen würden, wenn sie könnten.
Darüber hinaus fällt an Norderney noch etwas auf: Es gibt irgendwie keine Kinder. Klar, Touris schleppen säckeweise Nachwuchs mit (und hoffen wahrscheinlich auf natürliche Selektion durch plötzlich einsetzende Springfluten, hungrige Raubtiere und Treibsand oder so), aber einheimische Kinder sind rar. Man klärte mich auf: Die werden weggeschlossen. Kein Witz. Der durchschnittliche Norderneyer lebt irgendwie von den Touris. Er hat entweder Kabuffs ("Ferienwohnungen") oder Fahrräder, die er vermietet, oder eine Kneipe oder einen Fressschuppen, oder sonstwie einen Laden, in dem $Zeug für teuer Geld verhökert wird. "Teuer" meint in diesem Zusammenhang übrigens 10-25% über vom Festland gewohnter Preisgestaltung, was hier wiederum als "unschlagbares Sonderangebot" angesehen wird.
Die Kinder stören dabei nur. Entweder nerven sie den Gast oder sie halten die Erwachsenen vom Geldverdienen ab oder sie stören das Gesamtbild. Kinder werden deshalb "verscheucht" oder "eingesperrt" oder "ausgelagert". Insider berichteten mir, dass sich auf der Insel die Schulformen nicht durch den Schulstoff unterscheiden, sondern durch das Alter, in dem mit dem Konsum von Rauschmitteln begonnen wird. Es wäre, so meine Informanten, durchaus nicht unüblich, dass Mädchen zum 11. oder 12. Geburtstag von den eigenen Eltern eine Flasche Wodka geschenkt bekommen, "damit sie wissen, was Frauen trinken". Entsprechend hoch ist darum auch die Quote der einheimischen Alkoholiker(-innen).

Männliche Insulaner in der Spät-Adolezenz erkennen sich übrigens untereinander an einem Ohrring. Einem zierlichen goldenen Ohrring. Nein, nicht Ring, das trifft es nicht. Ohrreif trifft es besser. So ähnlich, wie diese hauchdünnen Metallarmreifen, die manche Mädchen im Dutzend am Arm mit sich herumschleppen. Ungefähr in der Größe eines mittelalterlichen Türklopfers, in dem Polly von Captain Blackbeard bequem hätte rasten können, würden dort nicht ebenfalls reichlich groß dimensionierte, goldene Initialien des Trägers prangen. Filigrane Kreolen sind ungefähr so männlich wie rosa Spitzenunterwäsche, aber diese Verbrechen wider der Menschlichkeit haben selbst mich ziemlich entsetzt.
Davon abgesehen ist die Insel wirklich schön. Es gibt "für jeden etwas". Vielleicht nicht unbedingt das Paradies für den 5th-Avenue-verwöhnten Globetrotter, aber für Urlauber, die Meer und Gegend mögen, die sich entspannen wollen, für Landschaftsfreaks, Fotografen mit Geduld und Ausdauer, für Sherpas und Ausdauersportler ist Norderney ebenso empfehlenswert, wie für Säufer und solche, denen der Ballermann zu "normal" geworden ist.
Ich werde garantiert "demnächst" nochmal hin fahren, um mir das Ganze noch mal aus der Nähe anzusehen.
Du hast noch ein wichtiges Detail, eine geografische Besonderheit Norderneys weggelassen. Es ist nämlich - nach Aussage eines Ortsansässigen Fremdenführers - der einzige Ort der Welt, wo der Südwind aus Norden kommt.
AntwortenLöschen:)
Hier noch ein interessantes Detail zu dem Norderneyerischen Gruß "He" von einem Insider: ;-) Je länger das "He" gedehnt wird, desto besser kennen sich die sich grüßenden Insulaner und desto beliebter ist sein Gegenüber. Also ein "heeeeeeeeh" ist schon eine Auszeichnung!
AntwortenLöschenDas DIR niemand Auskunft zum Wrack geben konnte/wollte lag sicher an der Art deiner Frage(wenn Du fragst wie Du schreibst).
AntwortenLöschenHier für alle Anderen die Geschichte zum Wrack:
Wie kam es zur Strandung des Schiffes am Inselende von Norderney?
Ende Dezember 1967 lief kurz vor Weihnachten ein Heringslogger, der auf dem Wege von Glückstadt nach Emden war, auf die Othello-Plate auf.
Diese Sandbank befindet sich unmittelbar am Inselende und hat ihren Namen nach einem Schiff, das dort im vorigen Jahrhundert gestrandet sein soll.
Der Emder Heringslogger gab Notsignale mit der Leuchtpistole, die in Baltrum bemerkt wurden. Da das Norderneyer Rettungsboot gerade an der Weser zur Werftüberholung war, mußte das Langeooger Rettungsboot auslaufen und helfen (Baltrum hatte damals noch kein eigenes Rettungsboot). Da das Schiff leckzuschlagen drohte, mußte die Besatzung sofort von Bord geholt werden. Diese Aufgabe war wegen der schweren Grundsee sehr kompliziert. Es bestand die Gefahr, daß das rettende Boot durch eine mächtige See gegen das manövrierunfähige Schiff geschlagen werden könnte. Schließlich wurden die Menschen mit Hilfe des Sprungnetzes übernommen. Das Schiff konnte wegen des starken Sturmes und des hohen Seegangs nicht geborgen werden. Es trieb am nächsten Tag von der Sandbank auf die Insel, wo es festkam.
Wenn man ein Schiff birgt, kann man viel Geld verdienen. Das dachte sich offenbar auch der Inhaber eines in Bensersiel beheimateten Muschelbaggers. Diese Schiffe baggern (ernten) die Muscheln von den Muschelbänken im Wattenmeer. Jetzt wurde es dazu eingesetzt, eine Rinne zum Logger freizubaggern. Dabei geriet es selbst auf den Strand, ohne daß man dies zunächst in Baltrum bemerkte. Man war der Meinung, der Bagger wäre noch beim Arbeiten. In der Nacht kam ein Sturm aus nordöstlicher Richtung, der den Bagger noch weiter auf die Insel trieb. Als das Wasser zurückging, lag das Schiff auf dem Trockenen. Kapitän und Maschinist seit Tagen ohne Proviant mußten zu Fuß zum Leuchtturm wandern, wo sie erst einmal verpflegt wurden.
Ironie des Schicksals: Während der gestrandete Heringslogger im März mit Hilfe starker Schlepper befreit werden konnte, liegt der Saugbagger heute noch am Inselende von Norderney und sandet, wie auch ein Frachtschiff zwischen Nordbad und Ostbad, daß bereits in den 50er Jahren strandete, immer mehr ein.
Gruß
Udo