Mittwoch, 31. März 2010

Ist das Wetter eine Gefahr für die Demokratie?

Wir hören immer wieder, dass die Demokratie in Gefahr ist. Sei es durch Extremisten von links oder rechts, durch Politikverdrossenheit, übermäßige Eingriffe in die Verfassung oder andere Gründe. Wer aber hätte gedacht, dass die Demokratie selbst eine Gefahr ist? Normalerweise erwartet man solche Aussagen von Leuten, die andere Regierungsformen bevorzugen, meistens, weil sie ihre eigene Macht durch die Demokratie gefährdet sehen. Wer aber hätte erwartet, dass renommierte Wissenschaftler zu einer solchen Schlussfolgerung kommen würden?

James Lovelock ist ein Name, den nicht jeder auf Anhieb zuzuordnen weiß. Herr Lovelock ist aber nicht irgendjemand, sondern einer, der es in der Wissenschaft zu herausragender Anerkennung gebracht hat. Er studierte Medizin und Chemie in England, entwickelte eine Vielzahl wissenschaftlicher Geräte, forschte unter anderem in Yale und Harvard und bekam eine Reihe Auszeichnungen verliehen. Zu diesen gehören zum Beispiel: Fellowship of the Royal Society, die Tswett-Medaille, Fellowship of the American Chemical Society, der Norbert Gerbier Preis der World Meteorological Organiszation, der Dr. A. H. Heineken Preis für die Umwelt, ist Commander of the Order of the British Empire, ist Mitglied der Order of the Companions of Honour, erhielt die Wollaston Medaille und ist Inhaber des Arne Naess Lehrstuhls für Global Justice and the Environment. Alle diese Auszeichnungen erhielt er für seine wissenschaftlichen Arbeiten. Dem Normalsterblichen ist er vielleicht noch am ehesten ein Begriff durch die von ihm entwickelte Earth Feedback Hypothese. Diese wurde später umbenannt in "Gaia-Hypothese".

Die Gaia-Hypothese ist eine ökologische Hypothese, die postuliert, dass sich der Lebensraum aller Lebewesen und deren physikalische Umwelt durch ein komplexes Netzwerk von wechselseitigen Abhängigkeiten in einem Gleichgewicht halten. Dieses Gleichgewicht erst ermöglicht Leben. Vereinfacht formuliert besagt diese Hypothese, dass der komplette Lebensraum der Erde wie ein einziger Organismus funktioniert, in dem jede Komponente einen Zweck erfüllt und die Aktionen jeder einzelnen Komponente Auswirkungen auf jede andere hat. Lovelock formulierte ursprünglich:
"a complex entity involving the Earth's biosphere, atmosphere, oceans, and soil; the totality constituting a feedback or cybernetic system which seeks an optimal physical and chemical environment for life on this planet."
Die Hypothese ist inzwischen überwiegend anerkannt, jedoch sind die Implikationen der Hypothese umstritten.

Herr Lovelock ist also nicht irgendjemand, sondern eher einer, dem man schon mal zuhören sollte, wenn er etwas zum Thema Klima und dessen Auswirkungen auf die Ökologie sagt. Vom Guardian wurde Lovelock zum Desaster um die Daten der Klimaforscher und die zu erwartenden Veränderungen des Weltklimas interviewt. Dort sagte er nicht nur, dass die Sache mit den gefälschten Daten absehbar war und durch das System, das heute Wissenschaftler produziert, nahezu unumgänglich war. Er sagte auch:
"We need a more authoritative world. We've become a sort of cheeky, egalitarian world where everyone can have their say. It's all very well, but there are certain circumstances - a war is a typical example - where you can't do that. You've got to have a few people with authority who you trust who are running it. And they should be very accountable too, of course.


But it can't happen in a modern democracy. This is one of the problems. What's the alternative to democracy? There isn't one. But even the best democracies agree that when a major war approaches, democracy must be put on hold for the time being. I have a feeling that climate change may be an issue as severe as a war. It may be necessary to put democracy on hold for a while."
Starker Tobak. Mit anderen Worten: Es gibt Situationen, in denen Demokratie sich nicht dazu eignet, große Probleme zu lösen, weil zu viele Leute mitreden wollen und zu viele Ansichten unter einen Hut gebracht werden müssen. Getreu dem Motto "zu viele Köche verderben den Brei" müssen seiner Ansicht nach solche Extremsituationen durch das entschlossene und entschiedene Handeln weniger Verantwortlicher bewältigt werden.

Nun habe ich meine ganz eigenen Probleme mit der Idee sich von der Demokratie zu verabschieden und ich bin nicht eben ein Fan solcher Vorschläge. Allerdings sehe ich den Kern der Idee von Herrn Lovelock und ich stimme ihm darin zu, dass die Vielzahl der sich zum Teil diametral widersprechenden Interessen das Finden von Problemlösungen nicht gerade vereinfacht. Allerdings habe ich erhebliche Zweifel daran, ob wir wegen des Wetters auf die Demokratie verzichten sollten. Was mir besondere Sorgen bereitet, ist der Umstand, dass Politiker die Ansicht eines solchen renomierten Wissenschaftlers als Ausgangsbasis dafür benutzen könnten, sich tatsächlich von der Demokratie zu verabschieden - aus völlig anderen Gründen, als Herr Lovelock das eigentlich vorsah.

Das Beispiel der Internetsperren in Deutschland zeigt den Mechanismus, den ich meine. Aus dem Familienministerium kam die Initiative, verstärkt gegen Kinderpornographie vorzugehen, was ich für eine hervorragende Idee halte. Heraus kam jedoch eine Gesetzgebung, die, vereinfacht formuliert, eine nahezu beliebige Zensur von Inhalten im Internet und einen Generalverdacht aller Menschen zur Folge hatte. Und da ging es "nur" um das Eingrenzen einer (zugegeben sehr schwerwiegenden) Straftat mit der Begründung, dass ja im Internet die Kinderpornographie floriert. Wenn ich mir überlege, was bestimmte Politiker aus dieser Steilvorlage von Herrn Lovelock zusammenschustern könnten, wird mir anders.

Vielleicht sollten wir den Politikern in Zukunft etwas besser auf die Finger schauen, wenn es um das Thema "Klimapolitik" geht und genauer darauf achten, was von denen an "Ideen" formuliert wird, wie man den "Bedrohungen" des Klimawandels begegnen soll.

Montag, 29. März 2010

Hysterie um türkische Gymnasien

Aus der Türkei kam der Vorschlag, dass es in Deutschland Schulen geben sollte, an denen der Unterricht in türkischer Sprache stattfindet. Im Interview mit der Zeit sagte Ministerpräsident Erdogan:
"ZEIT: Nicht alle hören hin. Auch die dritte Generation [der Türken in Deutschland] hat große Sprachprobleme. Warum?

Erdogan: Hier hat Deutschland noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt. Man muss zunächst die eigene Sprache beherrschen, also Türkisch - und das ist leider selten der Fall. In der Türkei haben wir deutsche Gymnasien - warum sollte es keine türkischen Gymnasien in Deutschland geben?"
Die Aufregung ist groß und überall wird die Idee auf breiter Front abgelehnt. Dabei hat Erdogan grundsätzlich eine berechtigte Frage gestellt: Warum soll man Menschen, die daran interessiert sind, nicht Unterricht in einer anderen Sprache ermöglichen? Der Hinweis auf die Schulen in der Türkei, an denen auf Deutsch unterrichtet wird, war völlig legitim. Warum also die schon fast hysterische Überreaktion?

Die Antwort darauf steckt in dem Satz, den Erdogan unmittelbar davor gesagt hat: "seine eigene Sprache (…), also Türkisch". Um diesen Punkt geht es. Erdogan macht erneut deutlich, dass er Türken in Deutschland in erster Linie als Türken versteht, und nicht als Menschen türkischer Abstammung, die jetzt einem anderen Kulturkreis angehören. Diese Auffassung kollidiert mit unserem Interesse, unsere Einwanderer zu integrieren.

Jedoch - und das ist meiner Meinung nach der Knackpunkt - gelingt uns das nicht. Die Erfolge unserer Bemühungen zur Integration sind nicht nur im Fall der türkischen Migranten eher suboptimal. Die immer wieder aufkommenden Diskussionen um "Subkulturen" zeigen das immer wieder. Das weist darauf hin, dass dieses Problem wohl eher nicht an den Türken liegt, sondern an uns selbst. Die Politiker haben verstanden, dass eine gemeinsame Sprache für die Integration unumgänglich ist. Insofern musste Erdogans Aussage, dass die eigene Sprache der Migranten mit türkischer Abstammung das Türkische ist, auf Ablehnung stoßen. Allerdings sind die vorgebrachten Argumente eher flach und wirken vorgeschoben.

Der Haken ist, dass Erdogans Position nur begegnet werden kann, wenn Kultur und die Integration darin als Abgrenzung gegen andere Kulturen verstanden wird. Vereinfacht: "Wir sind wir und ihr seid ihr." Es geht um die kulturelle Identität. Integration ist der Prozess, der genau diese Identität vermitteln soll. Wenn ich mich als Einheimischer eines Landes fühlen will, dann muss ich mich zwangsläufig auch als Angehöriger der dort vorherrschenden Kultur verstehen. Nur irgendwo zu wohnen und vielleicht auch dort zu arbeiten ist noch längst kein Ausdruck von Integration. Wäre das anders, dann wäre jeder Tourist während seines Aufenthaltes Angehöriger der Bevölkerung des jeweiligen Gastlandes. Diese Vorstellung ist falsch, denn jeder weiß instinktiv, dass mehr dazu gehört als der reine Aufenthalt in einem anderen Land, bevor man zur einheimischen Bevölkerung gehört.

Was macht denn eigentlich einen "Einheimischen" aus? Dazu gehören ohne Frage Sprache, Wohnort, vielleicht auch Beruf, Freundeskreis und so weiter. Darüber hinaus gehören aber auch noch andere, jeweils für sich alleine nicht ganz eindeutig und scharf abgrenzbare Faktoren. Es geht um die sogenannte kulturelle Identität. Die Bevölkerung eines Landes wird dadurch zu einem Volk, dass sie Gemeinsamkeiten hat, die über den Wohnort hinausgehen. Ein Volk entsteht durch die politische und kulturell zustande gekommene Gesamtheit, die durch Sprache oder Abstammung und Kultur miteinander verbunden sind und aus dieser tradierten Verbundenheit zu gemeinsamer Orientierung und Handlungsbereitschaft gelangen. Der Schritt von Volk zu Nation ist nicht weit: Ein Volk wird zur Nation, wenn es sich seiner geschichtlichen und kulturellen (abgrenzbaren) Eigenwerte bewusst wird und sich in seiner Gesamtheit als Träger und Subjekt gemeinsamer Werte und Zielvorstellungen versteht. Erst durch das Volk entsteht der Staat, nicht andersherum.

Wir haben als Deutsche meistens wenige Probleme damit, unsere Wertvorstellungen zu formulieren. Zwar mögen manche dieser Vorstellungen in Bezug auf die "ideale" Umsetzung anders aussehen, aber im Kern gibt es eine große Zahl sich überschneidender Ideen und Vorstellungen. Dazu gehören solche, wie zum Beispiel Freiheitsrechte, Demokratie, Bürgerrechte und so weiter. Wir haben sogar erstaunlich wenige Probleme uns über diese Wertvorstellungen unmittelbar von anderen uns umgebenden Wertvorstellungen abzugrenzen. Allerdings wird diese Abgrenzung umso schwieriger, je ähnlicher sich die Wertvorstellungen sind. Genau aus diesem Grund fällt es uns leicht eine große Nähe zu zum Beispiel Franzosen oder Österreichern oder sogar Spaniern zu empfinden, denn im Kern sind viele Ideen vom Zusammenleben hüben wie drüben nahezu identisch.

Des Pudels Kern sind jedoch die geschichtlichen Eigenwerte. Die meisten Deutschen würden sich ja gerne als Europäer verstehen, wenn sie denn wüssten, was Europa überhaupt ist. Dieses Wissen fehlt nicht etwa wegen Dummheit oder fehlender Bildung. Es fehlt, weil das moderne Europa, die EU, zwar eine gemeinsame Geschichte hat, diese Geschichte jedoch die Summe der Handlungen einzelner Völker ist und nicht eines einzelnen im Innern verbundenen Volkes. Genau deshalb wird es auch noch sehr lange dauern, bis die EU im Innern das Konzept des Nationalstaates überwinden kann.

Was für ganz Europa in Bezug auf die EU gilt, gilt ganz besonders für die Deutschen in Bezug auf Deutschland. Wir können uns mit der EU nicht identifizieren, weil wir uns in ihr nicht wiederfinden. Allerdings können wir uns in Deutschland als Deutsche auch nur mit Schwierigkeiten wiederfinden: Was ist denn überhaupt ein Deutscher? Die uns vermittelten Wertvorstellungen sind nicht das Problem. Aber diese Wertvorstellungen finden wir auch genauso oder sehr ähnlich in der Bevölkerung anderer Staaten wieder. Warum sind wir Deutsche und nicht zum Beispiel Russen? Unser Problem ist unsere Geschichte und unsere Zukunft. Deutschland gelingt es zwar zu formulieren, wie die Regeln des Zusammenlebens aussehen sollen. Wir haben international bewundertes Talent, klare und eindeutige Regeln zu finden. Ausdruck findet das in der Bürokratie, unseren Gesetzen und so weiter. Damit haben wir keine Probleme. Mit der Sprache verhält es sich ähnlich. Die deutsche Sprache ist zwar kompliziert und schwierig zu erlernen, aber welche Sprache ist schon einfach?

Die offene Wunde, in die Erdogan seinen Finger legt, ist das Problem, dass die Sinnfrage nicht beantwortet wird. Sprache und Gesetze sind theoretisch austauschbar. Unsere eigene Rechtschreibreform und die sich ständig wandelnde Rechtsprechung führen uns das deutlich vor Augen. Die Frage jedoch, warum wir Deutsche sind und eben nicht Franzosen oder Engländer oder Polen, die können wir nicht eindeutig beantworten, weil wir unserer Geschichte aus dem Weg gehen. "Geschichte" bedeutet für die meisten Deutschen '33-'45 und jedem ist irgendwie klar, dass das etwas kurz gegriffen ist. Allerdings können die wenigsten erklären, warum. Erdogan hingegen kann sehr gut zum Ausdruck bringen, warum jemand Türke ist: Abstammung, Geschichte, Moralvorstellungen und Religion sind Konzepte, die jeder Migrant türkischer Abstammung zumindest im Groben kennt. Diese verbinden ihn mit anderen Türken. Wer fühlt sich schon über die Zeit des Dritten Reiches mit seiner Umgebung verbunden, umso mehr, da uns immer wieder eingeredet wird, dass es genau so nicht sein dürfe? Die Sprache ist der logische nächste Schritt in Erdogans Gedankengang und von da bis zur (Tages-)Politik ist es nicht mehr weit.

Genau dies ist der Grund, warum die Politiker so hysterisch reagieren. Erdogan gelingt es im Vorbeigehen und in einem Nebensatz auf den Punkt zu bringen, woran Deutschland scheitert: Er kann eine "türkische Identität" formulieren, der wir nichts entgegenzusetzen haben. Es gibt schlicht und ergreifend keine verbindlich formulierte "deutsche Identität", die von der Bevölkerung akzeptiert und getragen wird. Die Reduktion auf den Zweiten Weltkrieg funktioniert einfach nicht und wird von vielen nicht akzeptiert, aber andererseits wird auch nichts angeboten, in das diese Periode eingebettet werden könnte. Nach der Zukunft befragt sieht es nicht besser aus. Weder unsere politische Führung noch die Parteien oder sonst ein Richtungsweisendes Gremium ist dazu in der Lage klar und verbindlich zu formulieren, wo Deutschland hin will, wo es hin soll und wo Deutschland hingehört. Es fehlen Visionen und Ziele.

Erdogan gelingt es, den Deutschen in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, dass sie gar nichts haben, in das sie integrieren könnten. Mit anderen Worten: Deutschlands Integrationspolitik ist auf ganzer Linie ein Fehlschlag und wird es auch immer bleiben, solange wir nicht begreifen, dass ein Volk durch Kultur und Geschichte gemeinsame Ideale entwickelt, die davon nicht unabhängig sind. Erdogan kann klare Ziele aufzeigen: Die Türkei steht für ein klares Konzept, mit dem man sich identifizieren kann. Wer türkische Wurzeln hat, der gehört "dazu" und muss sich nicht erst irgendwo "integrieren" lassen, wo man ihn sowieso nicht als das akzeptiert, was er ist.

Statt Erdogan mit Vorwürfen zu überhäufen und seine Idee als Unfug abzutun, sollten wir seinen Gedanken lieber zu Ende denken und uns fragen, ob - und falls ja - warum er Recht hat und warum wir davor Angst haben.

Samstag, 27. März 2010

Zitat des Tages (8)

"Im Alltag siegt das Dringende über das Wichtige."

Jean Remy von Matt 
deutscher Werbefachmann

Ist Abrüstung um jeden Preis eine gute Idee?

Der Generalsekretär der NATO, Anders Fogh Rasmussen, fordert Europa auf, ein kontinentales Raketenabwehrsystem in Europa aufzubauen. Er warnte davor, dass durch die schrumpfenden Rüstungsetats zunehmend ein Ungleichgewicht zwischen den militärischen Möglichkeiten der USA und denen der europäischen NATO-Mitglieder entsteht. Mit anderen Worten: Europa soll aufrüsten. Es stellt sich die Frage, warum.

Sicher ist, dass Europa eine der längsten Friedenszeiten der Geschichte erlebt und es wenig wahrscheinlich ist, dass einer der klassischen westeuropäischen Bündnispartner plötzlich zu den Waffen greift. International wirkt die Lage auch auf den ersten Blick sehr übersichtlich und weitestgehend nicht so sehr bedrohlich für das kontinentale Europa. Aber wie stabil und sicher ist dieser Frieden? Die Geschichte lehrt uns, dass es oft Nichtigkeiten und Überreaktionen sind, die Staaten zu den Waffen greifen lassen. Gibt es unmittelbar bedrohende Eskalationsherde in unserer Nachbarschaft? Ja, es gibt sie. Die offensichtlichsten Krisengebiete des Nahen und Mittleren Ostens sind zwar gefühlt "weit weg", tatsächlich aber fast vor Europas Haustür. Aus genau diesem Grund will die EU unter anderem die Türkei möglichst eng an sich binden. Auch die Erweiterung in Richtung Schwarzes Meer und damit in die Nähe des Kaukasus ist nicht zuletzt durch strategische Überlegungen getragen worden.

Hier nämlich, im Großraum Kaukasus, befinden sich einige nicht eben politisch stabile Gebiete, deren zukünftige Entwicklung ganz und gar nicht fest steht, die aber andererseits wegen ihres Reichtums an Rohstoffen für Europa alles andere als "egal" sind. Der andauernde Konflikt um Georgien sollte uns das vor Augen geführt haben. Was besonders in Deutschland auch gerne vergessen wird, ist die Tatsache, dass viele der militanten Taliban, die in Afghanistan kämpfen, aus Usbekistan und angrenzenden Regionen stammen. Im Kopf schieben wir die Verantwortung für diese Gebiete zwar immer wieder auf Russland. Der Kreml hat jedoch nicht ohne Grund zugelassen, dass sich etliche Teilrepubliken abspalteten. Oft wird ignoriert, dass die ehemalige UDSSR ein Vielvölkerstaat mit erheblichen inneren Spannungen war. Der Tschetschenienkonflikt mag als ein Beispiel für die Härte und das Ausmaß dieser Spannungen dienen.

Nun ist es nicht eben wahrscheinlich, dass sagen wir mal Kirgistan oder Usbekistan Europa den Krieg erklärt. Das wäre zu einfach gedacht und nicht realistisch. Aber wenn wir uns an den Zwischenfall um Georgien erinnern, werden denkbare Konstellationen klarer: Eine der Teilrepubliken geht Verträge mit Europa ein, Europa wiederum macht Versprechen und Zusicherungen, eine Zeit lang geht alles gut und plötzlich putscht eine Junta und marschiert - mit der Idee der Unterstützung aus der EU im Rücken - gegen den ehemaligen und verhassten Machthaber aus Moskau. Und dann? "Ja also SO war das mit den Verträgen ja gar nicht gemeint"? Die denkbaren Konsequenzen für das Nichteinhalten von Verträgen sind keine Lappalie. Wenn sich Europa bei einem kleinen Vertragspartner als unzuverlässig erweist, was werden dann die großen denken? "Ach, das machen die mit uns bestimmt nicht"? Wohl kaum. Die Gefahr, dass Europa sich aufgrund komplizierter Vertragsverflechtungen plötzlich in einer Situation wiederfindet, in der ein solcher Staat Beistand einfordern könnte, sind nicht vollkommen von der Hand zu weisen. Man erinnere sich nur daran, wie heiß man unmittelbar vor dem letzten Georgienkonflikt darauf war, eben jenes Georgien in die EU und / oder die NATO zu holen.

Klar, gesetzt den Fall wird man natürlich erst einmal versuchen, wie in Georgien, auf diplomatischem Wege irgendwie das Schlimmste zu verhindern. Aber gerade der letzte Georgienkonflikt hat deutlich gezeigt, wie machtlos Europa tatsächlich bei solchen Problemen ist. Haben die wütenden Auftritte der Politiker vor der Presse verhindert, dass russische Truppen im Handstreich das Land besetzten? Die Schuldfrage lasse ich mal ganz bewusst ausgeklammert. Nein, das Drängen und Betteln der Politiker hat nichts gebracht. Hätten die USA nicht eingegriffen und in aller Deutlichkeit Präsenz gezeigt und wäre Russland nicht irgendwie doch irgendwann gesprächsbereit gewesen (wahrscheinlich weil Russland Georgien ungefähr so dringend wieder eingemeinden will, wie der Normalsterbliche seine Schwiegermutter bei sich wohnen haben möchte), niemand hätte voraussagen können, wie weit der Konflikt eskaliert wäre. Und Georgien ist selbst heute alles andere ein "entschärfter Krisenherd".

Nicht ausreichend als Bedrohung? Nehmen wir die Türkei. Erst neulich wurde dort ein großes Komplott der militärischen Führung aufgedeckt, mit dem die Regierung in Ankara gestürzt werden sollte. Wie der EU wohl eine Türkei unter Militärherrschaft und Waffen gefiele? Angesichts der Probleme mit den Kurden und den Armeniern ist die Türkei ja nun nicht gerade dafür bekannt, Probleme zwischen Volksgruppen auf diplomatischem Wege zu regeln. Und ja, die Türkei verbindet mit Griechenland eine tief verwurzelte Rivalität, hart an der Grenze zur Feindschaft. Warum wohl rüsten Griechenland und die Türkei bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf und warum wohl hat die Türkei so rein gar kein Interesse daran, den besetzten Teil Zyperns aufzugeben? Zwar mag ein Entgleisen der Türkei auf den ersten Blick ziemlich unwahrscheinlich erscheinen, allerdings sollte man sich hin und wieder mal fragen, warum die EU die Türkei seit Jahrzehnten hinhält und 2006 selbst die SPD noch urteilte, dass ein Beitritt der Türkei zur EU derzeit "undenkbar" wäre. Ein offen ausbrechender Konflikt zwischen Ankara und Athen lässt sich nun beim besten Willen nicht mehr mit dem Argument wegdiskutieren, dass Deutschland oder die EU in der Region keinerlei unmittelbaren Interessen hätten.

Es gibt auch andere Regionen auf diesem Planeten, die uns angehen. Zwar ist Afghanistan für die meisten ein denkbar ungeeignetes Beispiel, weil es schwierig ist, die unmittelbar vitalen Interessen Deutschlands in dieser Region aufzuzeigen. Gehen wir aber einfach ein paar Kilometer weiter nach Osten, nach Pakistan. Pakistan gilt als "gefährdeter Staat". Die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung ist miserabel, die politische Führung nahezu unberechenbar. Pakistan verbindet eine Erbfeindschaft mit Indien, die nicht zu unterschätzen ist: Das Land unterstützt sogenannte Terrorcamps auf indischem Boden, macht gemeinsame Sache mit den Taliban und will um jeden Preis die Region Kashmir für sich haben. Der Haken am Kashmir ist jedoch, dass Pakistan, Indien und China zu gleichen Teilen Anspruch an diesem Gebiet erheben und nur China hat die Lage einigermaßen im Griff. Wenn aber der Konflikt zwischen Indien und Pakistan eskaliert, dann geht es ums Ganze, denn dann sind Atomwaffen im Spiel. Pakistan und Indien haben mehrfach betont, dass sie wenig Hemmungen haben, ihre Arsenale auch einzusetzen. Deutschlands Interessen in Pakistan mögen nicht so gewaltig sein, aber bei Indien sieht das schon etwas anders aus: Man denke nur daran, wie viele Firmen dort zum Beispiel ihre Callcenter, Buchhaltungen und Softwarezentren haben.

Angenommen der Konflikt um den Kashmir eskaliert. Angenommen, die Regierungen in Neu Delhi und Islamabad schalten auf stur und machen mobil. Will Europa dann die Hände in den Schoß legen und abwarten, bis sich im schlimmsten Fall der nukleare Fallout wieder gelegt hat? Die Folgen einer militärischen Eskalation in der Region hätten unmittelbare und heftige Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft und selbst Deutschland wäre unmittelbar betroffen. Airbus zum Beispiel lässt einen nicht geringen Teil seiner Buchhaltung in Indien ausrechnen. Welche Folgen mag es wohl haben, wenn die Buchhaltung von Airbus von heute auf morgen für unabsehbare Zeit nicht funktioniert?

Unwahrscheinlich? Der Konflikt zwischen Indien und Pakistan gilt als einer der wahrscheinlichsten Auslöser für das sogenannte "Pazifikszenario", in dem sich der gesamte asiatische Raum in einen unüberschaubaren Kriegsschauplatz verwandelt. Zwar ist die Lage zwischen Indien und Pakistan im Moment einigermaßen stabil, aber niemand mag darauf wetten, dass das auf längere Zeit so bleibt. Die letzten Verlautbarungen aus Islamabad zum Kashmir waren nicht eben beruhigend.

Die Bündnisse, Abneigungen, offenen Rechnungen, Rivalitäten und so weiter sind in Asien, speziell in Südostasien, vielfältig und "bunt" und es gilt als wahrscheinlich, dass bei einer Eskalation zwischen Indien und Pakistan etliche der dort tief verwurzelten Probleme als eine Art "Brandbeschleuniger" dienen werden. Nicht nur die Amerikaner sehen das so, auch die Russen und auch die Chinesen teilen diese Ansicht. Wenn es dort knallt, dürfte Europa dann die Hände in den Schoß legen und sagen: "Uns doch egal"? Dürfte Europa, oder besser: dürfte Deutschland hilfesuchend nach Westen, zum "großen Bruder" USA, blicken und mal wieder darum betteln, dass doch bitte die Amerikaner die Kastanien aus dem Feuer holen? Ich habe da Zweifel.

Afghanistan und der Irak haben zu einem Umdenken bei den Amerikanern geführt. In Zukunft sollte Europa sich nicht darauf verlassen, dass sich die Amerikaner bei der Durchsetzung europäischer Interessen vor den Karren spannen lassen. Das hat sich Europa mit dem zurückhaltenden Herumgestümpere besonders in Afghanistan endgültig verbockt. Ganz besonders die Rolle Deutschlands ist den Amerikanern in Afghanistan äußerst negativ aufgefallen und wird bestimmt so schnell nicht vergessen werden. Sicher würden die Amerikaner eingreifen, aber bestimmt nicht, damit uns der Hintern nicht auf Grundeis geht.

Die jüngsten Kommentare aus Pentagon, dem Weißen Haus und anderen Kreisen der USA machen klar, dass in Zukunft beim Einsatz des US-Militärs die Devise gelten wird "USA first" - der Wiederaufbau im Irak zeigt in aller Deutlichkeit, wie wir uns das in der Praxis vorzustellen haben: Nach dem Ende des Konfliktes werden die Karten neu gemischt und wer erhält wohl die "Sahnestücke"? Bestimmt nicht die Europäer. Übrigens ist das auch einer der Gründe, warum Deutschland - trotz aller Widerstände aus der Bevölkerung - nicht aus Afghanistan abzieht, denn aus wirtschaftlicher Sicht ist ein Land im Wiederaufbau ein großer Aktivposten, der eine Menge Arbeitsplätze im Inland schafft.

Von diesen Überlegungen aber abgesehen: Dürften wir uns überhaupt einmischen? Deutschland will seit langen Jahren einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen. Egal wo auf der Welt irgendetwas passiert, aus Deutschland kommen immer Kommentare und oft schaltet sich Deutschland als Vermittler ein, oft erfolgreich. Wäre es moralisch vertretbar zu sagen: "Wir haben es probiert, auf uns hört ja keiner, dann schlagt Euch halt die Köpfe ein"?

Wohl eher nicht. Einen Sitz im Weltsicherheitsrat bekommt nicht jeder, sondern nur diejenigen Länder, die auch die Macht dazu haben, andere Staaten im Ernstfall zu einem bestimmten Handeln zu zwingen. Diplomatisch mag Deutschland bedingt durch seine Wirtschaftsmacht durchaus Mittel und Wege haben, aber machen wir uns nichts vor: Alleine mit dieser Karte kann man im Pokerspiel der internationalen Politik nicht jeden beeindrucken. Wenn doch, dann wäre es nicht zum Krieg im Irak und in Afghanistan gekommen und der Iran würde auch nicht so verbissen an seinem umstrittenen Atomprogramm festhalten, um nur drei Beispiele zu nennen. Militärisches Potenzial ist zwar besonders in Deutschland nicht eben beliebt, was wohl damit zu tun hat, dass uns die Perspektive dafür fehlt, was man mit Militär alles an positiven Dingen erreichen kann. Aber militärisches Potenzial ist international unverzichtbar, wenn man denn wirklich ernstgenommen werden will.

Europa liegt militärisch weit zurück. Zwar haben wir eine hochmoderne Rüstungsindustrie und exportieren unsere militärischen Erfindungen in alle Welt, aber selber nutzen? Eher nicht. Stattdessen sind besonders in Deutschland weitere Abrüstungen und Etatkürzungen geplant. Denken wir diese Entwicklung mal weiter. Deutschland rüstet so weit ab, dass die Bundeswehr im Ausland gar nicht mehr in dem Umfang von heute eingesetzt werden kann (viel braucht es dazu nicht, wenn man sich die Berichte der Wehrbeauftragten der letzten Jahre mal näher ansieht). Wen will Deutschland denn aus Europa vorschicken und mit welchem Argument? Das stärkste Land der EU verlangt von allen anderen, dass die sich ins Zeug legen und zieht sich selber auf den moralisch scheinbar unangreifbaren Posten der "historischen Verantwortung" und der Verpflichtung zum Pazifismus zurück. Man zeige mir die Länder in der EU, die da sagen: "Na klar, Deutschland, wir machen das mal eben für Euch..."

Viel wahrscheinlicher ist, dass andere Länder der EU dem Beispiel Deutschlands folgen und ebenfalls abrüsten. Angenommen, Europa schraubt seine ohnehin schon nicht so sehr ausgeprägte Möglichkeit zur Machtprojektion noch weiter zurück. Die Konsequenz wäre, dass Europa zwar eine Menge toller Vorschläge machen könnte, bei der Durchsetzung seiner Interessen aber vollkommen auf das Funktionieren der Diplomatie und andere Mächte angewiesen wäre. Die Vergangenheit zeigt uns, dass es ein riskantes Spiel ist, sich blind darauf zu verlassen, dass die Diplomatie immer funktioniert. Andere Staaten könnten irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft auf die Idee kommen uns ganz klar zu sagen "Na und? Fordert ihr mal. Ihr könnt uns eh' nichts!" Angesichts der Tatsache, dass die USA unsere Interessen nicht mehr um jeden Preis verteidigen werden, ist das alles andere als eine Illusion. Mit wem oder was will Europa oder Deutschland dann drohen? Und angenommen, es kommt soweit, was dann? Die Gefahr sich auf diesem Wege in eine stark einseitige Abhängigkeit von anderen zu begeben, ist groß. Zu nahe an den USA, Russland oder China kann auf Dauer nicht gut sein, wenn Europa als eigenständiges Gebilde überleben soll. Oder will.

Es geht ja nicht darum, um die Welt zu ziehen und überall Angst und Schrecken durch militärische Drohung zu verbreiten. Es geht darum, sich die Möglichkeit zu erhalten, im schlimmsten Fall auf militärische Mittel zurückgreifen zu können. In Bezug auf Deutschland wäre es allerdings wohl richtiger davon zu sprechen, diese Möglichkeit erst einmal vernünftig aufzubauen. Der Unterschied zwischen der Aufrüstung vor den Weltkriegen und der jetzt in Rede stehenden Aufrüstung besteht darin, dass es heute nicht um territoriale Ausbreitung geht. Es geht nicht darum, andere Länder zu erobern und zu Kolonien zu machen - ganz abgesehen davon, dass Deutschland in Bezug auf Kolonien in der Vergangenheit eine erschreckende Inkompetenz bewiesen hat. Heute geht es darum, dazwischen gehen zu können, wenn jemand anderes sich nicht an die Regeln halten will.

Die Bereitschaft dazu, eben jene Regeln zu missachten, nimmt international zu, wie ein Blick in die Tagespresse zeigt: Israel siedelt fleißig in anderen Staaten vor sich hin und marschiert mal hier, mal da mit seinen Truppen ein. Der Iran baut schön weiter seine Nuklearanlagen auf und testet zwischendurch Mittel- und Langstreckenraketen. Pakistan unterstützt zwar irgendwie die USA beim Kampf gegen die Aufständischen in Afghanistan, unterstützt aber gleichzeitig dieselben Aufständischen, gegen die die Amerikaner kämpfen. China rüstet fleißig auf, modernisiert seine Truppen zusehends und zeigt nebenbei noch, dass Kriegsführung heute auch den Erdnahen Weltraum umfasst. Mexiko zeigt sich vollkommen unfähig, den Kampf gegen die Drogenbarone im eigenen Land zu gewinnen und andere Staaten in Mittel- und Südamerika scheinen diesen Kampf bereits aufgegeben zu haben. Politiker wie Chavez sind immer wieder für politische Überraschungen gut und wenn man an Argentinien und die Falklandinseln denkt, sollte man sich durchaus auch ein paar Sorgen machen. Und das sind jetzt nur die offensichtlichen Problemchen. Es gibt noch ganz andere. So ganz klar ist nämlich zum Beispiel nicht, was denn nun mit Indien und Sri Lanka ist. Auch die Situation in Zentralafrika ist alles Andere als astrein und ungefährlich. Damit aber nicht genug.

Es besteht die durchaus reale Gefahr, dass sich eine Neuauflage der Situation vor Ende der 1990er Jahre entwickelt. Russland bekommt seine wirtschaftlichen Probleme zunehmend unter Kontrolle und ist wieder verstärkt dazu in der Lage, sein Militär zu finanzieren. Die jüngsten Vorfälle im schottischen Luftraum beweisen, dass Moskau zunehmend beweisen möchte, wieder ein international ernstzunehmender Machtblock zu sein. Die NATO findet das nun wirklich nicht lustig und die Idee, Russland in die NATO aufzunehmen, sollte man wirklich mit äußerster Vorsicht und Skepsis durchdenken. China hat zwar im Augenblick keinerlei Möglichkeiten dazu, sich mit den USA oder Russland eine ernsthafte militärische Konfrontation zu leisten, aber das wird nicht immer so bleiben. Es ist schon lange bekannt, dass China eine Mordswut im Bauch hat wegen der Geschichte mit Taiwan und auch mit Japan möchten manche Chinesen gerne noch ein Hühnchen rupfen. China und Russland sind sich auch nicht so besonders grün. Zwar sind die Zwischenfälle an der chinesisch-russischen Grenze inzwischen seltener uns harmloser geworden, aber das heißt nicht, dass sich die Lage zwischen den beiden Staaten deutlich verbessert hätte.

Die Gefahr besteht, dass Europa zukünftig nicht an der Seite eines Mächtigen gegen einen anderen steht, sondern zwischen drei Machtblöcken, die sich einen gepflegten Scheiß dafür interessieren, was Europa will. Wenn Europa sich die Möglichkeit nimmt, seine Interessen notfalls mit Gewalt durchzusetzen und zu erzwingen - auch Frieden in der Welt ist ein Interesse, das man zur Not erzwingen muss - warum sollten die sich abzeichnenden Machtblöcke der Zukunft auf Europa Rücksicht nehmen? Weil wir so liebe, nette Menschen sind? Bestimmt nicht. China hat zum Beispiel nicht vergessen, was Europa sich in der Vergangenheit zum Durchsetzen wirtschaftlicher Interessen so alles geleistet hat. Russland weiß ganz genau, was von Europa zu halten ist und wofür Europa ein nützlicher Partner ist und wo Europa ein Konkurrent ist. Die USA sehen in Europa in erster Linie einen Absatzmarkt und ansonsten eher Konkurrenten am Futtertrog.

Es wäre ja schön, wenn international alle auf Waffen und Militär verzichten würden. Das wäre echt klasse und würde uns vielleicht sogar wirklich nach vorne bringen. Es ist aber ein wenig sehr illusorisch davon auszugehen, dass das passieren wird, nur weil Deutschland sich dazu entschließt, seine Bundeswehr so zusammenzustutzen, dass sie bestenfalls zum Flicken von Deichen und vielleicht noch zum Aufhalten marodierender Hooliganmobs taugt. Abrüstung als solche ist noch kein Argument für andere Staaten Deutschland nachzuahmen. Abrüstung bedeutet vielmehr zu allererst einen Verzicht auf Macht und Einfluss und die Fähigkeit, sich durchsetzen zu können.

Man darf nicht unterschätzen, dass andere Staaten sehr genau beobachten, wie Europa zusammenwächst, oder besser: Wie es das verhindert. Die von Deutschland vorgeführte Abrüstung bietet anderen keine Handlungsalternative an, sondern sie zeigt, wohin das alles führt, nämlich in ein endloses Kompetenzgerangel, in dem Probleme vertagt und verbürokratisiert, aber nicht gelöst werden.

Es läuft damit auf die Frage hinaus, wohin die Reise eigentlich gehen soll. Welche Rolle soll oder will Europa in Zukunft in der Welt spielen? Angesichts der Tatsache, dass Deutschland für sich selbst schon in totaler Planlosigkeit erstarrt ist, was seine eigene Rolle angeht, von der Rolle innerhalb der EU ganz zu schweigen, ist die Frage erlaubt, welches Ziel Deutschland denn überhaupt vorgeben will oder bei welcher Zielsetzung die eigenen Interessen überhaupt zu suchen sind. Gerade mit diesem Gedanken im Hinterkopf ist es schon leichtsinnig davon auszugehen, dass alles schon irgendwie gut gehen wird und sich die anderen darum kümmern werden, dass sich alles zum Besten Deutschlands (und Europas) entwickeln wird.

Ich meine, die Forderung von Rasmussen und die Empfehlungen aus den USA sollten wir in Europa und besonders in Deutschland langsam mal losgelöst von unseren schon fast zwanghaften Komplexen betrachten und uns der Realität der nicht eben unwahrscheinlichen Entwicklungen der Zukunft stellen. Angesichts dieser Zukunft halte ich die Frage für mehr als gerechtfertigt, ob wir es uns wirklich leisten können in dem Maße abzurüsten, wie wir das gerade vorhaben.

Freitag, 26. März 2010

Zitat des Tages (7)

"One of the lessons of history is that nothing is often a good thing to do and always a clever thing to say."

William James Durant

Durch blühende Landschaften...

Tjaja, Deutschland und seine Bauvorhaben. Wir erinnern uns? Damals, Anno 2004, da wurde bei Dresden eine blühende Landschaft im Osten der Republik zum Weltkulturerbe erklärt. Blöd nur, dass bei Vergabe des Titels nicht daran gedacht wurde, die Regierenden der Stadt nach den Plänen für eben jene blühenden Landschaften zu befragen. So gab es denn schon 2006 ersten Stress, denn es wurde bekannt, dass genau jene nicht befragten Regierenden vor einem drastischen Problem standen: Die bestehenden Verkehrsanbindungen der Stadt über genau diese jetzt weltkulturerblich gesegneten Landschaften waren nicht nur marode, sondern den Anforderungen der Gegenwart überhaupt nicht gewachsen. In den Schubladen lag deshalb schon lange der Plan für eine ganz neue, tolle, preiswerte Verbindung zwischen den beiden Hälften der Stadt.

Es geht natürlich um Dresden und das Debakel rund um die "Kulturlandschaft Dresdner Elbtal". Machen wir uns nichts vor: Dresden braucht eine neue Anbindung zwischen den beidseitig der Elbe gelegenen Teilen der Stadt. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Allerdings ging bei der Planung dieser neuen Anbindung einiges schief. Die Debatte gipfelte in einem Eklat, in dessen Folge alle Beteiligten auf stur schalteten: Die regierenden Politiker der Stadt Dresden bestanden auf eine Brücke und die UNESCO strich das Elbtal als erstes zweites (danke Gonzo) Weltnaturerbe wieder von der Liste. Kritiker merkten schon damals an, dass ein Tunnel eine vielleicht gar nicht so schlechte Idee sei.

Diese Alternative wurde jedoch abgeschmettert; die Einen sagen aus Kostengründen, die Anderen sagen, weil der Befreundete Bauunternehmer, der den Zuschlag für die Brücke erhalten hatte, einen solchen Tunnel gar nicht bauen könnte, selbst wenn er wollte. Offiziell weil der Bau des Tunnels in ein durch europäisches Naturschutzrecht geschütztes Biotop eingegriffen hätte und deshalb an der Brücke kein Weg vorbei führt. Außerdem dauert es viel zu lange einen Tunnel zu bauen. Und er ist viel zu teuer.

Langer Rede kurzer Sinn: Die Brücke musste her, auf das Kulturerbe verzichtete man gerne, denn man hat ja noch andere Tourismusattraktionen im Schrank. Als Entschädigung bekam Deutschland das Wattenmeer auf die Liste gesetzt und Dresden den Zuschlag für Deutschlands Militärhistorisches Museum der Bundeswehr (Neueröffnung 2011), dem dann wohl größten Museum für Militärisches auf deutschem Boden. Alle waren zufrieden. Na gut, fast alle. Das Thema hätte todgeschwiegen werden können und in 10 Jahren hätte kein Hahn mehr danach gekräht. So oder ähnlich jedenfalls war wohl der Plan.

Dumm nur, dass wegen einiger unvorhersehbarer Entwicklungen die ungeliebte Brücke jetzt unwesentlich teurer wird. Mit ihren ursprünglich veranschlagten 156 Millionen Euro war die Brücke bereits vorher die mit Abstand teuerste Stadtbrücke der Republik. Diesen Vorsprung sichert sich Dresden jetzt durch einen lächerlichen Aufschlag von nur noch 20 bis 25 Millionen Euro. Die Stadt Dresden rechtfertigt diesen geringfügigen Preisanstieg des Projektes mit "Verzögerungen, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, Preiserhöhungen bei Baumaterial, aber auch Nachträge der beauftragten Bauunternehmen." Inzwischen wird auch der letzte Winter noch als Mitverantwortlicher genannt. Schuld sind in Deutschland ja immer die Anderen.

All das wäre ja nun irgendwie zu verkraften, wenn denn ein Ende des Debakels (und damit der Kostenexplosion) absehbar wäre. Genau das ist es aber eben nicht. Der Bau ruht nämlich und das wohl noch für einige Zeit. Grund dafür ist nicht etwa der Winter oder irgendwelche neuen oder zusätzlichen bautechnischen Maßnahmen oder so. Nein, der Grund ist ein anderer. Einer, den die Verantwortlichen eigentlich hätten voraussehen müssen.

Bereits im Mai 2009 entschied das Verwaltungsgericht Dresden, dass der Bau des Tunnels(!) gegen ein paar unwesentliche Gesetze verstößt, insbesondere gegen das europäische Naturschutzrecht. Diese Verstöße, die interessanterweise vom Gericht als "gegeben" angesehen wurden, noch bevor der erste Gutachter sich das Ganze angesehen hatte, sorgen jetzt dafür, dass die Landesdirektion Dresden den Bau der Brücke bis auf Weiteres gestoppt hat, denn der verstößt gegen dieselben Gesetze.

Wir erinnern uns? Mit dem Argument "Verstoß gegen europäisches Naturschutzrecht" wurde der Bau des Tunnels abgeschmettert und stattdessen die Brücke erzwungen. Die für den Bau Verantwortlichen müssen also um die bestehende Rechtslage gewusst haben. Oder sie haben es ignoriert. Wie auch immer, eigentlich hätte die Brücke in diesem Monat fertig sein sollen. Hätte. Wenn man nicht vergessen hätte, die benötigten Flächen für die Fertigstellung der Brücke im Planfeststellungsverfahren mit aufzuführen. Genau das geschah aber nicht. Und weil das nicht geschehen ist, muss das jetzt nachgeholt werden. Formvollendet, natürlich, mit typisch deutscher Gründlichkeit und Bürokratie: Antrag, Genehmigungsverfahren, Widerspruchsverfahren, Gerichtsweg. Wir kennen das. Man denke nur an Gorleben.

Fassen wir zusammen: Zu teuer, dauert zu lange, Probleme mit den europäischen Naturschutzgesetzen. Ja, alle drei Argumente haben wir schon gehört. Nämlich zulasten des Tunnelbaus. Alle drei Argumente gelten jetzt aber auch für die Brücke. Mit dem Unterschied, dass bei Bau der Brücke die Landschaft auf der Liste des Weltkulturerbes erhalten geblieben wäre, was sich ja jetzt erledigt hat.

Wer jetzt abwinkt und sagt "auf die 25 Milo kommt es jetzt auch nicht mehr an", der vergisst dabei, dass durch den Wegfall des Titels "Weltkulturerbe" der Stadt Dresden ein zweistelliger Millionenbetrag aus Fördermitteln des Bundes für die deutschen Welterbestätten durch die Lappen geht. Gleichzeitig wird die Verkehrssituation in Dresden nicht besser und der Anblick einer ewig nicht fertig werdenden Baustelle macht die Stadt auch nicht gerade attraktiver. Mit anderen Worten: Kohle weg und der Tourismus findet es auch nicht so geil. Insider schätzen, dass schon jetzt - also noch vor dem bevorstehenden Genehmigungsverfahren - bei zurückhaltender und vorsichtiger Berechnung die Kosten für die Brücke nicht um 20-25 Millionen Euro gestiegen sind, sondern eher um 35-50 Millionen. Der Kaufpreis der Brücke läge damit schon jetzt bei uneinholbaren 200 Millionen Euro. Zum Vergleich: Der Bau der vierten Röhre des Elbtunnels in Hamburg, einer hochmodernen, über drei Kilometer langen Elbquerung in 30 Meter tiefem Wasser, hat gerade mal 500 Millionen Euro gekostet. Die Gesamtlänge der Brücke (mit allen Anfahrten, Zufahrten, Über- und Unterquerungen und so weiter) in Dresden soll 636 m betragen.

Die Mit dem Bau versprochenen Vorteile für die einheimischen Unternehmen sind auch mehr als umstritten, mußten doch beauftragte Kleinunternehmen der Region wegen Überforderung Hilfe ausländischer Partner in Anspruch nehmen. Die Gelder bleiben damit eher nicht in Deutschland. Einige dieser Aufträge sind bis heute nicht vollständig abgewickelt und lassen weitere - teure - Verzögerungen erwarten. Meine ganz eigene Vermutung ist, dass die Brücke bei Fertigstellung ungefähr um das Jahr 2020 herum ca. 250 Millionen Euro gekostet haben wird.

Ach ja. Es steht bereits jetzt fest, dass auf der Brücke - so sie denn irgendwann mal fertiggestellt und freigegeben wird - in beide Fahrtrichtungen Tempo 30 gilt.

Politische Neuausrichtung der Taliban?

In der letzten Zeit wurde eine Menge Aufwand betrieben, um die Erfolge im Kampf gegen die Taliban und al-Qaida aufzuzeigen. Alle Beteiligten sind bemüht zu beweisen, dass sie den Strategiewechsel ernst meinen. Der Fokus wird zunehmend weg vom bewaffneten Kampf hin zu politischen Verhandlungen gelegt. Allerdings bedeutet das nicht, dass die militärischen Auseinandersetzungen mit den Aufständischen und gegen die al-Qaida an Intensität nachgelassen hätten. Vielmehr wird nur weniger darüber berichtet.

Nach den besonders Medienwirksamen Erfolgen der Festnahmen hochrangiger Figuren muss sich unter den Aufständischen eine gewisse Unruhe ausgebreitet haben. Zwar hat insbesondere die al-Qaida unter Beweis gestellt, wie gut sie die Macht und die Zusammenarbeit mit den Medien versteht, jedoch lässt die Präsenz ihrer Positionen in den Medien mehr und mehr nach. Es entsteht der Eindruck, die al-Qaida wäre "beinahe besiegt" und der Kampf gegen die militanten Aufständischen wäre im Prinzip gewonnen. In den letzten Tagen bemühten sich Taliban und al-Qaida darum, dieses Bild zu ändern.

Zunächst meldete sich Osama bin Laden zu Wort. In einer Tonaufzeichnung warnte er insbesondere die USA dringend davor, festgenommene hinzurichten. Er drohte damit, dass in dem Fall, dass einer oder mehrere Festgenommene der al-Qaida hingerichtet würden, alle Soldaten, derer die al-Qaida habhaft werden könnten, ebenfalls getötet würden. Abgesehen vom martialischen Inhalt der Drohung fällt doch auf, dass bei al-Qaida irgendwo etwas klemmt, denn gerade Khalid Sheikh Mohammed, der zugegeben hat, die Anschläge vom 11. September 2001 geplant zu haben, hat gestanden und darum gebeten als Märtyrer hingerichtet zu werden. Das mag zwar als ein kleines Detail erscheinen, weist aber entweder auf Kommunikationsschwierigkeiten oder einen spontanen Strategiewechsel hin.

Gleichzeitig treten in der letzten Zeit vermehrt Vertreter der Taliban und der al-Qaida an die Presse heran, um ihre Sicht der Dinge mitzuteilen. In manchen Fällen ist es nicht ganz einfach nachzuvollziehen, welche Stellung die jeweiligen Sprecher in Bezug auf die Organisationen haben, für die sie zu sprechen behaupten. Jedoch ist davon auszugehen, dass diese Sprecher kaum ohne Auftrag mit westlichen Medien sprechen. In diesem Kontext ist auf das Interview der Asian Times zu sehen, in dem ein anonymes Mitglied der früheren Talibanregierung Afghanistans interviewt wurde.
"I assure you, 300%, neither Moulvi Abdul Kabir nor Syed Tayyab Agha has been arrested. It was false reporting. Mullah Abdul Salam and Mullah Mir Muhammad were arrested at least a month before Mullah Baradar, but their arrest was shown after Mullah Baradar's. I have not been in direct contact with Mullah Mustasim Jan Agha so I cannot claim with surety about his status, but I was told by his friends that he was not arrested."
Nun wäre es nicht das erste Mal, dass Pakistan falsche Erfolgsmeldungen verbreitet. Allerdings wäre es doch erstaunlich, wenn die USA sich auf solche Erfolge berufen würde und behauptet, an diesen Erfolgen unmittelbar mit beteiligt gewesen zu sein. Die Tatsache, dass Reihenfolge und Zeitpunkte der Festnahmen in den Veröffentlichungen abweichen, ist aus geheimdienstlichen Überlegungen heraus erklärbar. Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass die CIA eine Vielzahl Festnahmen verkündet, die gar nicht stattgefunden haben. Solange das Gegenteil nicht bewiesen ist, kann deshalb wohl davon ausgegangen werden, dass die infrage stehenden Führungsmitglieder der Taliban in Haft sind.

Bemerkenswert ist, dass in dem Interview die Nähe zwischen bestimmten Gruppen der Taliban und Pakistan unterstrichen wird. Besonders bemerkenswert ist der Hinweis, dass manche Widerstandskämpfer Pakistan meiden, wenn sie der al-Qaida zu nahe stehen. Auch scheint die Zusammenarbeit für beide Seiten zunehmend kompliziert zu werden. Ein Hinweis darauf ist, dass der Interviewpartner andeutete, dass der Druck auf Pakistan täglich größer wird und Pakistan dadurch zu verschiedenen Handlungen gezwungen wird, die die dortige Führung möglicherweise gar nicht möchte. Bemerkenswert ist insbesondere, dass nachdrücklich abgestritten wird, Mullah Ghani Baradar hätte im Auftrag von Mullah Omar mit den USA und der Regierung Karzai Kontakt aufgenommen. Das lässt vermuten, dass mögliche Verhandlungen innerhalb der Organisation zurzeit nicht mehrheitsfähig sind und die Führung verhindern möchte, verhandlungsbereit zu erscheinen. Dazu passt auch die Distanzierung von verschiedenen Figuren im politischen Schachspiel.

Besonders interessant ist das Interview wegen der Verbindungen der Taliban zum Iran, was allerdings gut ins Bild passen würde und andere Berichte der jüngeren Vergangenheit bestätigt. So wurden z. B. kürzlich größere Waffenlager im Süden Afghanistans entdeckt, deren Inhalt Rückschlüsse darauf zulässt, dass die Waffen aus dem Iran stammen.

In Bezug auf Pakistan scheinen sich die Taliban neu zu orientieren. Die Aussage, dass die Angriffe auf die Regierung in Karachi durch die Tehrik-e-Taliban Pakistan ohne Sanktionierung seitens der übrigen Taliban stattfanden, zeigt deutlich, dass sich die Taliban in die Nähe des pakistanischen Militärs bewegen. Verschiedene Aussagen im Interview machen deutlich, dass es offenbar eine zunehmende Distanz zwischen den Taliban und der al-Qaida gibt. Die Bemerkungen über die Aufständischen Punjabi weisen auf andere Schwierigkeiten in der Organisation des Widerstandskampfes hin, in dem offenbar zunehmend einander widersprechende Zielsetzungen aufeinander prallen. Das wiederum scheint dazu zu führen, dass sich die einzelnen Gruppierungen mit zunehmendem Misstrauen beobachten.

Im größeren Zusammenhang scheint sich damit zu bestätigen, dass sich einige Taliban näher zum pakistanischen Militär, den ISI und den Iran zu stellen. Gleichzeitig rücken diese Taliban weiter von al-Qaida weg. Ob es in dieser Situation überhaupt möglich ist, mit allen Taliban an den Verhandlungstisch zu kommen, ist schwierig einzuschätzen. Selbst wenn dies gelänge, ist es zumindest im Augenblick unwahrscheinlich, dass aus diesen Verhandlungen jemand Anderes als die militanten Taliban als Sieger hervorginge.

Zitat des Tages (6)

"If you pick up a starving dog and make him prosperous, he will not bite you; that is the principal difference between a dog and a man."

Mark Twain

Donnerstag, 25. März 2010

Forderungen der Hizib-i-Islami

Die 15 Forderungen der Hizib-i-Islami unter Gulbuddin Hekmatyar sind bekannt geworden. Sie lauten:
1. Abzug aller ausländischen Truppen innerhalb von 6 Monaten ab Juli 2010.

2. Sofortiger Abzug aller ausländischen Truppen aus Städten und dicht besiedelten Gebieten und ihre Beschränkung auf Militärbasen.

3. Ausländische Truppen dürfen keine unabhängigen militärischen Operationen mehr durchführen. ANA und ANP übernehmen die Verantwortung.

4. Die gegenwärtige Regierung kann bis zur nächsten Wahl weiterhin im Amt bleiben, mit Ausnahme von "Personen, die an Korruption, Verrat und Kriegsverbrechen beteiligt" waren oder sind.

5. Gründung eines nationalen Sicherheitsrates mit sieben Mitgliedern, die Entscheidungen über alle Sicherheitsbelange treffen. Dieser Rat muss in einer Provinz beheimatet sein, die ausschließlich von afghanischen Truppen kontrolliert wird.

6. Neuwahlen für das Amt des Präsidenten, des Parlaments und der Provinzregierungen im Frühjahr 2011, basierend auf einer proportionalen Repräsentation.

7. Minister und Gouverneure müssen drei Monate vor der Wahl zurücktreten, wenn sie in dieser Wahl gewählt werden wollen (keine Amtsinhaber).

8. Die erste Regierung, die im nächsten Jahr gebildet wird, muss eine Koalitionsregierung sein.

9. Ausschließlich Parteien, die mindestens 10% der Stimmen bei der Wahl im Frühjahr 2011 erzielen, können bei der darauf folgenden nächsten Wahl teilnehmen.

10. Sofortiger Waffenstillstand und Freilassung aller Gefangenen.

11. Eine neue Verfassung, die vom ersten gewählten Parlament zu verfassen ist.

12. Ausländische Kräfte sollten keine Gefängnisse auf afghanischem Boden betreiben dürfen, keine Festnahmen durchführen dürfen und keine afghanischen Staatsbürger deportieren dürfen.

13. Die Shari'a soll für Drogenschmuggler, Kriegsverbrecher und korrupte Beamte gelten.

14. Nach dem Abzug ausländischer Truppen soll der Einsatz ausländischer Truppen verboten werden.

15. Eine "Vereinigte Verteidigung" - eine vereinte Front - gegen "jene Afghanen und Ausländer, die der gegenseitigen Versöhnung entgegenstehen".
Einige dieser Forderungen halte ich für durchaus sinnvoll, andere sehe ich eher skeptisch. Besonders Punkt 1 und 2 halte ich in dieser Form für illusorisch. Punkt 3 halte ich für sinnvoll und er deckt sich auch mit der aktuellen Strategie der von den UN beauftragten Truppen. Punkt 4 finde ich grundsätzlich gut, allerdings ist die Forderung nach "baldigen Neuwahlen" (siehe auch Punkt 6) in Afghanistan nicht eben unproblematisch. Der in Punkt 5 geforderte Nationale Sicherheitsrat ist eine gute Idee, die wir uns in Deutschland auch mal ernsthaft überlegen sollten. Punkt 7, 8 und 9 sind offensichtlich sehr politische Forderungen, die mit Sicherheit unmittelbar mit den gewünschten bzw. angestrebten Machtverhältnissen der zukünftigen Regierung zusammenhängen. Punkt 10 ist meiner Meinung nach eine eher illusorische Forderung. Punkt 11 ist schwer einzuschätzen, könnte aber durchaus sinnvoll sein. Punkt 12 klingt nach einer guten Idee. Punkt 13 halte ich für problematisch, aber das hängt mit meiner Skepsis gegenüber Rechtsprechung aufgrund von religiösen Vorschriften zusammen. Punkt 14 sehe ich zwar als ideologisch gutes Ziel an, in der Praxis halte ich es jedoch zumindest für die nähere Zukunft eher für undurchführbar. Punkt 15 klingt auf dem Papier erst einmal gut, die Frage ist, wie man sich das in der Praxis vorstellen muss und gegen wen da tatsächlich Front gemacht werden soll.

Mittwoch, 24. März 2010

Zitat des Tages (5)

"Der durchschnittliche digitale Profi ist 36,1 Jahre alt, meist männlich und berufstätig. Dieser Typus verfügt sowohl Zuhause als auch im Büro über eine sehr gute digitale Infrastruktur. Seine Kompetenzen sind umfangreich, was sich insbesondere in ihren professionellen Fähigkeiten widerspiegelt. Ob Makroprogrammierung oder Tabellenkalkulation, der digitale Profi fühlt sich auch auf diesem komplexen Terrain zuhause."

tns infratest, Pressemitteilung vom 18.03.2010

Nachfolger, Verhandlungen und Festnahmen

Die Festnahme der Nummer zwei in der Hierarchie der militanten Taliban um Mullah Mohammad Omar wurde begleitet von der Spekulation, dass dies kaum negative Auswirkungen auf die militärische Schlagkraft und Einsatzfähigkeit der Aufständischen haben werde. Die Daily Times berichtet, dass Omar zwei Nachfolger benannt hat, die Omars langjährigen Gefährten und Stellvertreter Abdul Ghani Baradar ersetzen sollen.

Ein hochrangiges Mitglied der der Taliban teilte mit, dass Abdul Qayum Zakir und Akthar Mohammad Mansoor als neue Stellvertreter Omars benannt wurden. Die Ernennung ist als Signal zu verstehen, dass die Festnahme keine nachhaltig negativen Folgen auf die innere Struktur der Taliban hat. Zakir war Insasse in Guantanamo Bay, Mansoor gilt als charismatischer Anführer und war Teil der Talibanregierung vor den Anschlägen am 11. September 2001. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen tauschten die neuen Stellvertreter einige Schattengouverneure aus. Mit dieser Maßnahme wollen sie die Effizienz des Aufstands steigern. Bislang ist nicht bekannt wer ersetzt wurde und gegen wen.

Zakir wird wahrscheinlich als oberster Truppenführer eingesetzt worden sein. Problematisch ist daran besonders, dass Zakir für seinen schon beinahe fanatischen Hass für die USA bekannt ist. Dieser Hass gilt als unmittelbare Folge seiner Inhaftierung in Guantanamo. Seine Ernennung zeigt, dass die Befürchtungen im Zusammenhang mit den Festnahmen in Pakistan korrekt waren. Die Taliban nutzen die entstandenen Lücken in der Hierarchie zu einer Umstrukturierung, hin zu einer radikaleren, noch weniger verhandlungsbereiten Organisation. Das wiederum bedeutet, dass die ab einem bestimmten Punkt unvermeidbaren Verhandlungen mit den radikalen Taliban deutlich erschwert werden.

Gleichzeitig gab ein Sprecher von Gulbuddin Hekmatyar, Anführer der Hizib-i-Islami, bekannt, dass die sich in Kabul aufhaltende Delegation sich zum Essen mit Präsident Karzai im Präsidentenpalast getroffen hat und man sich erneut treffen werde. Ein Sprecher von Präsident Karzai sagte gegenüber der Presse, dass der Präsident den Friedensplan der Delegation genau studiere, wollte das jedoch nicht weiter kommentieren. Ein Berater von Präsident Karzai sagte, mehr als die Hälfte der offenen Fragen bereits geklärt werden konnten. Er erwartet, dass eine Übereinkunft noch vor Ende der Woche möglich sei. Ein Mitglied der Delegation von Hekmatyar sagte, man wolle die Hauptstadt nicht ohne eine Übereinkunft verlassen.

Soweit aus verschiedenen inoffiziellen Quellen bekannt ist, enthält der Plan der Hizb-i-Islami eine deutliche Forderung nach einem frühen Abzug ausländischer Truppen. Es ist unklar, ob diese Forderung lediglich dazu dient, das Gesicht zu wahren oder ein echtes Problem bei den Verhandlungen darstellt. Erfahrungen aus der Vergangenheit lassen vermuten, dass dieser Punkt von Hekmatyar eher pro forma eingebracht wurde und damit verhandelbar ist und nicht zum Scheitern der Gespräche führen wird.

In Saudi Arabien teilte inzwischen der Sprecher des Innenministeriums, Mansur al-Turki, mit, dass dort 113 mutmaßliche Angehörige der al-Qaida festgenommen wurden. Die Festgenommenen stehen in dem dringenden Verdacht, Anschläge auf die Öl-Industrie im Osten des Landes geplant zu haben, die unmittelbar bevorstanden. Unter den Festgenommenen befinden sich nach Angaben al-Turkis 47 saudische Staatsbürger, die übrigen Verdächtigen stammen aus dem Jemen, Eritrea und Bangladesch. Die einzelnen Gruppen, die nicht miteinander in Kontakt standen, sind vom Jemen aus geführt worden.

Dienstag, 23. März 2010

Zitat des Tages (4)

"Der Unterschied zwischen Sein und Haben entspricht dem Unterschied zwischen dem Geist einer Gesellschaft, die zum Mittelpunkt Personen hat, und dem Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht."

Erich Fromm

Politisch motivierte Kriminalität 2009

In Deutschland steigt die politisch motivierte Kriminalität an. Das Bundesministerium des Innern veröffentlichte auf einer Pressekonferenz die Zahlen für 2009, die einen deutlichen Anstieg aufzeigen.

2009 wurden in Deutschland insgesamt 33.917 politisch motivierte Straftaten gemeldet, 2008 waren es 31.801. Dies bedeutet einen Anstieg um rund 6,7 Prozent. Bei den politisch motivierten Gewalttaten ist in Deutschland ein Zuwachs von mehr als 20 Prozent zu verzeichnen, nämlich von 2.529 im Jahr 2008 auf 3.044 im Jahr 2009. Bemerkenswert ist, dass die Anzahl der vom rechten Spektrum verübten Kriminalität zurückging, während die vom linken Spektrum verübte Kriminalität deutlich zunahm. Insgesamt werden allerdings noch immer die meisten Delikte vom politisch rechten Spektrum begangen.

Spektrum20082009+/- %
politisch motivierte Kriminalität "rechts"20.42219.468-4,7%
politisch motivierte Kriminalität "links"6.7249.375+39,4%
politisch motivierte Ausländerkriminalität1.484966-34,9%
politisch motivierte Kriminalität "sonstige"3.1714.108+29,5%

Bundesminister des Innern Dr. Thomas de Maizière stellte fest, dass sich immer mehr Gewaltstraftaten unmittelbar gegen die Polizei richten:
"Mit Sorge betrachte ich den in allen Phänomenbereichen zu beobachtenden - wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägten - Anstieg der gegen die Polizei gerichteten Straftaten. Besonders Körperverletzungen und Widerstandsdelikte gegenüber Polizeikräften haben vor allem durch Angehörige der linken Szene deutlich zugenommen. Diese Entwicklung zeigt wie wichtig die Umsetzung des im Koalitionsvertrag verankerten Ziels ist, strafrechtlich den Schutz von Polizeikräften gegen brutale Angriffe zu verbessern." "So wurden erstmals mehr Körperverletzungen aus politisch linker als politisch rechter Motivation begangen. Dabei richteten sich diese Taten in mehr als der Hälfte der Fälle gegen Polizeikräfte - fast alle übrigen Körperverletzungsdelikte gegen Angehörige der rechten Szene." "Die sog. "Autonomen Nationalisten" scheinen sich weiter zu etablieren und auch die Straftaten gegen links haben zugenommen."
Offensichtlich sind zunehmend weniger Menschen mit der Situation in unserem Lande zufrieden und zunehmend mehr Menschen bereit, ihrem Unmut gewalttätigen Ausdruck zu verleihen. Da die Polizei für die meisten Menschen unmittelbar direkter Bezugspunkt zum Staat ist, weil Polizisten für die meisten die im Alltag am häufigsten anzutreffenden Vertreter staatlichen Handelns sind, ist es nachvollziehbar, warum gerade die Delikte gegen diese steigen. Ich bin gespannt, welche konkreten Maßnahmen dieser Entwicklung folgen werden, denn schöne Worte und die etwas lahme Aufforderung des Innenministers, dass doch jeder Bürger bitte entschieden gegen politisch motivierte Kriminalität einschreiten möge, kann nicht das ganze Handlungskonzept sein. Falls doch, hat Deutschland es nicht besser verdient.

Verhandlungen mit Aufständischen

Reuters berichtet, das eine Delegation der Hauptgruppierungen des afghanischen Widerstandes, Hezb-i-Islami, eine Delegation mit ranghohen Vertretern in Kabul eingetroffen ist. Die Delegation will mit der Regierung Karzai über einen möglichen Waffenstillstand verhandeln. Angeführt wird die Delegation vom ehemaligen Premierminister Qutbuddin Helal, der Stellvertreter des Anführers der Hezb-i-Islami, Gulbuddin Hekmatyar, ist. Offizielle Regierungssprecher in Kabul bestätigten dies.

Die Vermutung ist naheliegend, dass Hezb-i-Islami eine Trennung von den militanten Taliban vorbereitet, möglicherweise um auf diesem Weg einen Sitz für Gulbuddin Hekmatyar in einer zukünftigen Regierung nach einem kommenden Waffenstillstand zu sichern.

Montag, 22. März 2010

Eine Theorie zur Zukunft Deutschlands

Die FAZ veröffentlichte heute einen Artikel von Professor Dr. Dr. Gunnar Heinsohn, in dem der eine Prognose über die Entwicklung Deutschlands formuliert und daraus eine Handlungsanweisung ableitet. Der Herr Professor ist Soziologe und Ökonom und sein Spezialgebiet ist die Demographie. Seine Theorie für Deutschland lautet wie folgt:

Von 100 Kindern, die geboren werden müssten, um ein weiteres Schrumpfen der Bevölkerung Deutschlands zu verhindern, werden 35 nicht geboren. Von diesen 65 Kindern, die geboren werden, sind am Ende ihrer Schulzeit 15 nicht auf dem Wissens- und Fähigkeitsstand, dass sie erfolgreich eine Ausbildung absolvieren könnten. Von den 50 Kindern, die zu einer Ausbildung befähigt und geeignet wären, verlassen 10 das Land. Den benötigten 100 Nachwuchskräften stehen am Ende 40 verfügbare und befähigte gegenüber.

Dies ist eine optimistische Prognose, denn jene 40 Kinder werden immer mehr ermutigt, Deutschland zu verlassen: Die Belastungen durch den Sozialstaat werden zunehmen. 2060 wird es nur noch 65 Millionen Menschen in Deutschland geben, die jedoch werden ein Durchschnittsalter von 54 Jahren haben. Heute sind es 81 Millionen Menschen mit einem Durchschnittsalter von 44 Jahren. 2060 werden 30 Millionen Menschen im Alter zwischen 24 und 65 Jahren 22 Millionen Alte und zusätzlich 13 Millionen Junge versorgen. Selbst bei einer Vollbeschäftigung aller Bürger im erwerbsfähigen Alter müssten dann 100 Verdiener knapp 120 Nichtverdiener versorgen.

Diese Zahlen sind nicht neu und können jedem bekannt sein. Professor Heinsohn langt jedoch mit dem jetzt folgenden Part derbe zu. Was diese Zahlen bis hier verschweigen, ist eine andere, versteckte Entwicklung, die der Prognose eine noch sehr viel bedrohlichere Krone aufsetzt.

Im Februar 2010 erhalten 6,53 Millionen Bürger Sozialleistungen ("Hartz IV"). Von diesen 6,53 Mio. sind 1,7 Millionen Kinder unter 15 Jahren, das sind 26 Prozent. In dem zum Bruttosozialprodukt ihren Beitrag leistenden Teil der Bevölkerung von 58 Millionen Bürgern unter 65 gibt es hingegen nur 9,5 Millionen Kinder, entsprechend 16 Prozent. Eine Zunahme der Anzahl derjenigen Kinder, die Hartz IV empfangenden, ist quasi eine Gewissheit, denn bereits heute empfangen sehr viel mehr jüngere als ältere Kinder Hartz IV. In Bremerhaven waren von allen Kindern, die Hartz IV empfingen, 33 Prozent zwischen 7 und 15 Jahre alt. Dem gegenüber waren aber 45 Prozent 0 bis 3 Jahre alt.

Professor Heinsohn befürchtet angesichts dieser Zahlen, dass in einigen Jahrzehnten weit mehr als ein Viertel der Menschen in eine Hightech-Gesellschaft mit ihren hohen Qualifikationsanforderungen nicht passen wird.

Ein Königsweg, um dieser Entwicklung auf Dauer entgegen zu wirken, wäre die Einwanderung nach Deutschland zu fördern. Besonders die sogenannten "qualifizierten Einwanderer" wären für die Lösung des Problems ideal, denn sie verfügen zum Beispiel über einen vergleichsweise hohen Bildungsstand und eignen sich deshalb als Fachkräfte. Seit 1987 sind über 12 Millionen Menschen nach Deutschland eingewandert. Manche Kinder dieser Einwanderer schaffen bessere Abiturnoten als der Nachwuchs des deutschen Bildungsbürgertums. In Kanada gelten fast 100 Prozent der Einwanderer als "qualifizierte Einwanderer" im Sinne der politischen Ökonomie. In Australien sind es knapp 90 Prozent. Kanada wird zur ersten Nation, die bei den (oft chinesischen) Kindern von Zuwanderern einen höheren Intelligenzquotienten (IQ) misst als bei den Alteingesessenen.

Im Vergleich dazu liegt Deutschland mit seinen Einwanderern am exakt gegenüber liegenden Ende der Skala. Von allen Einwanderern nach Deutschland gelten gerade mal 5 Prozent als "qualifizierte Einwanderer". Nirgendwo sonst auf der Welt ist der Abstand zwischen Kindern von Einwanderern und Alteingesessenen bis auf vereinzelte Ausnahmen größer. Die OECD konnte nachweisen, dass die Kinder von Einwanderern in Deutschland als Fünfzehnjährige zwei Lernjahre im Rückstand sind. 20 Prozent unserer Bevölkerung sind Migranten (rund 16,2 Millionen), doch von denen bleiben 44 Prozent ohne Berufsausbildung. Ein Wandel ist nicht abzusehen, denn Deutschland rekrutiert seine Einwanderer nicht unter den Eliten der Auswanderungsländer, sondern unter den sogenannten "Niedrigleistern".

Professor Heinsohn vergleicht diese Ausgangssituation mit der in den USA. Dort wurde zwischen 1964 und 1984 die Sozialhilfe sehr stark erhöht, mit dem Ziel, insbesondere den so besser versorgten Müttern den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu erleichtern. Statt des erwarteten Rückgangs stieg die Zahl der "Sozialhilfemütter" und ihrer Kinder in dieser Zeit von 4 auf 14 Millionen. Der Politologe und Ökonom Charles Murray folgerte daraus in seiner Studie "Losing Ground", dass die Bezahlung der Mutterschaft für arme Frauen zu immer mehr solchen Müttern führt.

In Deutschland ist zu beobachten, dass die Leistungsstandards an den Schulen immer weiter abgesenkt werden, um möglichst viele Kinder mit einem Schulabschluss aus dem Bildungssystem in die Arbeitswelt zu schleusen. Das jedoch führt zu einem weiteren Nachlassen der Leistungsbereitschaft bei den Kindern, denn warum sich anstrengen, wenn einem der Abschluss mehr oder weniger hinterhergeworfen wird? Auch das beobachtete Murray in den USA.

Eine dritte, sehr weitreichende Beobachtung von Murray bezieht sich auf ein zunehmend in den Medien präsentes und ebenso zunehmend als bedrohlich empfundenes Thema, nämlich die Jugendkriminalität. 10 Prozent der Jugendlichen, die von Sozialhilfe abhängig sind, begehen 50 Prozent der Delikte. Diese Entwicklung als "Versagen der Gesellschaft" darzustellen, treibt die Deliktzahl weiter nach oben. Die vierte und wahrscheinlich für uns unbequemste Erkenntnis von Murray war, dass die Abschaffung der Sozialhilfe für die Betroffenen hilfreicher wirkt als ihre "Belohnung" mit einer lebenslang garantierten Versorgung für immer mehr bildungsferne Kinder.

Zum 1. Januar 1997 schaffte Linksliberale Präsident Clinton das Recht auf lebenslange Sozialleistungen in den USA ab. Stattdessen wurde ein auf fünf Jahre begrenztes Recht auf Unterstützung mit tatkräftiger Hilfe nicht zu irgendeiner abstrakten Integration, sondern zum Übergang in echte Arbeitsverhältnisse. Vor der Reform bezogen 12,2 Millionen US-Bürger Sozialhilfe, 2005 waren nur noch 4,5 Millionen. Die Frauen der Unterschicht betrieben jetzt aktive Geburtenkontrolle. Die Zahl der "welfare mothers" sank drastisch und in der Folge ebenso die Kriminalität der Kinder dieses Milieus.

Bezogen auf Deutschland erleben wir eine andere Entwicklung. 1965 lebten 130.000 Kinder unter 15 Jahren in Westdeutschland ausschließlich von Sozialhilfe. 1991 waren es bereits 630.000 im wiedervereinten Deutschland. Im Februar 2010 sind es 1,7 Millionen, Tendenz steigend. Hinzu kommt, dass in Deutschland nicht nur 10 Prozent aller Babys wie damals in Amerika durch Steuergelder finanziert werden, sondern bereits 20 Prozent. Frauen, die in Deutschland nicht von Hartz IV leben, haben in der Regel ein Kind. Die Quote bei Migrantinnen in vergleichbaren Lebensbedingungen nähert sich dem stark an. Dagegen steigt die Geburtenrate bei denjenigen Frauen an, die von Hartz IV leben. Am Beispiel Bremerhaven zeigen sich die damit verbundenen Probleme. Dort sind rund 40 Prozent der Jugendlichen von Sozialleistungen abhängig und für rund 90 Prozent der Gewaltkriminalität verantwortlich.

Aus diesen Beobachtungen leitet Professor Heinsohn seine Forderung ab:
"Solange die Regierung das Recht auf Kinder als Recht auf beliebig viel öffentlich zu finanzierenden Nachwuchs auslegt, werden Frauen der Unterschicht ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen. Allein eine Reform hin zu einer Sozialnotversicherung mit einer Begrenzung der Auszahlungen auf fünf Jahre statt lebenslanger Alimentierung würde wirken - nicht anders als in Amerika. Eine solche Umwandlung des Sozialstaats würde auch die Einwanderung in die Transfersysteme beenden. Deutschland könnte dann im Wettbewerb um ausländische Talente mitspielen, um seinen demographischen Niedergang zu bremsen."
Instinktiv möchte ich dem widersprechen und mir fallen Schlagworte ein wie "Recht auf Fortpflanzung kann nicht vom sozialen Stand abhängig gemacht werden" und "Soziale Verantwortung" und so weiter. Aber je länger ich diese und andere Argumente den nüchternen Zahlen gegenüberstelle, desto mehr frage ich mich, ob meine Argumente tatsächlich stichhaltig sind. Oder andersherum: Was bringt mir ein hoher moralischer Standard, das hohe Gut von Generationsvertrag und gegenseitiger sozialer Absicherung, wenn das System zusammenbricht und niemand mehr da ist, um diese Ideale mit einem finanziellen Fundament zu versehen? Ist es wirklich so schlimm, wenn der Staat die Sozialleistungen auf einen überschaubaren Zeitraum begrenzt, diesen Zeitraum aber gleichzeitig dafür nutzt, dem Leistungsempfänger echte und nachhaltige Hilfe anzubieten und nicht solche - Entschuldigung - albernen Projekte wie ABM, Lehrgänge zum Schreiben von Bewerbungen etc. und so dem Empfänger wirklich hilft, anstatt ihn nur zu verwalten?

Angesichts der Zahlen frage ich mich wirklich, ob wir uns unser System - so toll es theoretisch auch sein mag - wirklich noch leisten können, ob wir nicht vielleicht doch ein klein wenig zu blauäugig sind gegenüber den Fakten und den Erfahrungen anderer Länder in ähnlichen Situationen? Oder übertreibt Professor Heinsohn? Angesichts der Tatsache, dass ich aus dem Stand kein einziges Land in einer vergleichbaren Situation kenne, das sich ein solch luxuriöses Sozialsystem leistet wie Deutschland und damit Erfolg hat, habe ich da doch so meine Zweifel.

Zitat des Tages (3)

"Die Bundesrepublik Deutschland sei wegen ihrer Beteiligung an "CERN" von Verfassungs wegen verpflichtet, auf diese Organisation einzuwirken, um die bei der Versuchsreihe eingesetzte Energie auf ein unbedenkliches Maß zu beschränken. Dies gelte jedenfalls solange, wie die Warnung, die Erde könne zerstört werden, nicht empirisch widerlegt sei."

Bundesverfassungsgericht,
Pressemitteilung Nr. 14/2010 vom 9. März 2010,
Beschluss vom 18. Februar 2010 – 2 BvR 2502/08

Die Wüste lebt

[Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Sven "DeichShaf" Wagner]

Vor mehreren Wochen versprach ich unserem Alphatapir einen Aufsatz über das Thema Service. Meine Erfahrungen damals - vor allem meinen Frust - wollte ich mir gerne von der Seele schreiben.

Ich fing also damit an, mir einen Text aus den Fingern zu saugen, der ein möglichst objektives Bild der Situation wiedergibt. Natürlich mit allen Höhen und Tiefen. Bereits beim Schreiben überkamen mich erste Zweifel: Konnte dieser Ansatz richtig sein? Ich verwarf den bis dahin geschriebenen Text und begann von vorne. Der zweite Versuch sollte die Servicelandschaft in Deutschland nicht nur aus meiner Sicht darstellen sondern auch das, was andere davon wahrnehmen.

Unschwer ist zu erraten, dass auch dieser Versuch zum Scheitern verurteilt war: Zu wenige Leute waren Willens, sich darüber mal objektive Gedanken zu machen. Die meisten waren voreingenommen - entweder durch entsprechende berufliche Tätigkeit oder aber durch einseitige Erfahrungen.

Und so blieb mir nichts anderes übrig, als auch diesen Ansatz zu beerdigen. Ich griff also auf das zurück, was sich häufiger schon als richtig herausgestellt hatte: Eine zwar gefärbte aber dennoch um Objektivität bemühte Schilderung meiner ureigensten Erfahrungen und Gedanken zu diesem Thema...

Die Wüste lebt.

Dem einen oder anderen ist mit Blick auf Dienstleistungen aller Couleur schon aufgefallen, dass einem bisweilen erfreuliche Dinge widerfahren, während an anderer Stelle einfach Murphys Law zuschlägt - in vollem Umfang. Die Wüste lebt also - und das tut sie, weil es Oasen in der ansonsten trostlosen Landschaft gibt.

Der Service, tja - Service - das ist in Deutschland noch weitgehend ein falsch verstandenes Fremdwort. Service heißt, dass ein Kunde zu dem erhoben wird, was er ist: Die eigene Daseinsberechtigung. Service heißt aber nicht die entwürdigende Darbietung einer beispiellosen Arschkriecherei, wie sie vielfach praktiziert wird. Service heißt gleichfalls auch nicht, dass man einem Kunden Freundlichkeit und Zuvorkommen heuchelt, während er einem am Ende egal ist.

Als leuchtendes Negativbeispiel der jüngeren Vergangenheit möchte ich einen Telefonanbieter aufführen. Die Hansenet Telekommunikation, dem einen oder anderen mit dem Produkt "Alice" sicher nicht unbekannt.

Bekannte hatten Probleme mit dem ISDN-Anschluss, ein Mitarbeiter von Alice stellte nach einer Störungsmeldung bei einer Messung einen Leitungsfehler fest und ein Technikertermin wurde anberaumt. Doch der Techniker erschien nicht zum genannten Termin. Es folgte auch kein Anruf. Erst als man selber tätig wurde, kam wieder Bewegung in die Sache. Im Ganzen waren es drei avisierte Technikerbesuche, bis überhaupt jemand kam - und elf Tage sind alles andere als eine annehmbare Zeitspanne, um einen unbenutzbaren Telefonanschluss wieder nutzbar zu machen.

Die Mitarbeiter dort sind meist freundlich und sichtlich bemüht, Kunden zu helfen - doch sind sie in ihren Befugnissen derartig kastriert, dass sie quasi handlungsunfähig sind, sobald ein Problem leicht von Schema-F abweicht.

Es gibt in jedem Callcenter auch Leute, die mal einen schlechten Tag haben. Doch wenn man einfach auflegt oder dem Kunden pampige Antworten gibt, trägt das auch nicht zu einem Imagegewinn bei. So geschehen bei meinem schließlich vollzogenen Wechsel zur Telekom - eine Änderungsmitteilung, die mich wissen ließ, dass zu einem bestimmten Termin etwas geändert wird - bloß nicht *was* denn geändert werde, war hier Stein des Anstoßes: Ich wollte wissen, was denn nun alles geändert wird, und da auf meine Mails nicht adäquat reagiert wurde, rief ich an. Der Mitarbeiter erklärte mir auch den Änderungsumfang, doch mein Verlangen nach einer schriftlichen Ausfertigung seiner Ausführungen war er nicht bereit oder nicht in der Lage zu erfüllen. Nicht nur aus meiner Sicht ein klarer Vertragsverstoß, wo es doch in den AGB eindeutig heißt, dass es der Schriftform bedarf, wenn es um Änderungen geht.

Hier wird das letzte Wort noch nicht gesprochen sein und wohl leider von einem Richter gesprochen werden müssen...

Diese Starrheit und der Mangel an Kompetenzzugeständnissen an Mitarbeiter ist ein echtes Problem. Es kann nur nach Schema-F verfahren werden, selbst wenn Mitarbeiter das gerne anders wollen. Jeder, der schon einmal Schriftverkehr mit eBay hatte, wird das bestätigen können...

Anders sieht es dagegen bei der Telekom aus. Ausgerechnet in dem Unternehmen, dem man nachsagt es sei der Inbegriff und quasi das Sinnbild für schlechten Service, wird einem als Kunde mittlerweile ein Service gedungen, der deutlich über das hinaus geht, was andere Anbieter leisten.

Es sind dabei nicht die kostenfreien Rufnummern, die das Bild positiv beeinflussen. So etwas wie Service darf ruhig etwas kosten. Nein, die weitreichenden Kompetenzen und Befugnisse der Mitarbeiter sind es, die mich fasziniert haben: Ein einziger Mitarbeiter kann den Auftragsstatus einsehen, Änderungen vornehmen, technische Fragen beantworten und Störungen entgegen nehmen. Und wo er das nicht kann, wird man kurzerhand weiterverbunden.

Anstatt aber dem neuen Gesprächspartner seine Litanei erneut vortragen zu müssen, ist dieser bereits im Bilde oder muss nur kurz die Stichworte erfassen und weiß dann, worum es geht.

Als Beispiel: Ich erteilte den Auftrag für VDSL50, zugleich für einen Telefonanschluss und schließlich für die Portierung meiner Rufnummer von Alice zur Telekom. Die Telekom übernimmt dabei - branchenüblich - Namens und mit Vollmacht des Rufnummerninhabers die Kündigung beim vorigen Anbieter. Während sich Alice in vornehmes Schweigen darüber hüllte, wann denn nun der Anschluss abgeschaltet würde, wurde ich von der Telekom stets auf dem Laufenden gehalten. Auch wurde mir von Anfang an klar gesagt, wann welche Leistung wie geschaltet werden würde. Lediglich eine Formalie war, dass auf der Auftragsbestätigung eine Gutschrift für den Wechsel nicht erwähnt wurde.

Ein Anruf bei der Hotline und die Sache ist geklärt, zwei Tage später gabs das noch mal schriftlich und es hatte sich. Nach der Schaltung des Anschlusses ein technisches Problem - und um es gleich zu sagen: Selbstverschuldet und durch falsche Prämissen hervorgerufen - doppelte Einwahl geht eben nicht bei TDSL und ein verkonfigurierter Speedport-Router ist eben auch für affines Volk manchmal eine harte Nuss :). Doch ein Anruf bei der Hotline brachte hier problem- und kostenlos Klärung. Und das obwohl es eigentlich um ein Endgerät ging, für das eine völlig andere (und nebenbei bemerkt kostenpflichtige) Hotline zuständig wäre.

Es gibt viele interessante Beispiele wie man es nicht macht. Dieter Nuhr hat 1998 in seinem Programm "Nuhr nach vorn" recht amüsant beschrieben, was ihn an der Servicewüste fasziniert und nervt. Wenn man bei Anrufen einen kilometerlangen Sermon vorgetragen bekommt, bei dem man einen Kaffee trinken gehen kann, bevor die Begrüßungsfloskel komplett ist, möchte man am liebsten schon nach dem "...was kann ich für Sie tun?" rufen "Die Fresse halten und zuhören!" In der Tat fällt auf, dass in bestimmten Bereichen ein falsches Verständnis davon herrscht, was ein Kunde will, wenn er anruft.

Wenn ich bei Firma XYZ anrufe, dann deshalb, weil ich diese Nummer irgendwo her habe, wo ebendiese Firma als am ehesten in Frage kommendes Unternehmen für mein Anliegen zu finden war. Mit anderen Worten: Ich weiß bereits vorher grob, was diese Firma macht. Da will ich nicht bei der Begrüßung am Telefon von meinem Klempner erzählt bekommen, was er alles machen kann. Dazu habe ich einen Mund, kann Fragen stellen und dann darauf hoffen, dass mein Gegenüber so pfiffig ist und mit einem freundlichen "Ja" oder "Nein" antwortet.

Auch vor Ort ist der Service sehr unterschiedlich. Ich gehe, weil es sich nicht vermeiden lässt, gelegentlich einkaufen. Experten empfehlen eine geregelte Nachrungsaufnahme und die lässt sich kostengünstiger über die Nahrungsbeschaffung in den örtlichen Grundversorgungspunkten, vulgo Supermärkten realisieren.

Es gibt Läden, in denen herrscht so eine drückende Enge in einigen Filialen (gelbe Schrift, roter Grund, den Rest denke man sich selbst), dass dort keine zwei Einkaufswagen aneinander vorbei passen. Entprechend trägt der jeweilige Filialleiter dem auch Rechnung: Es gibt überhaupt nur ein handvoll Einkaufswagen. Die dort arbeitenden Leute zeigen einem meist ein teilnahmsloses Gesicht und ein umfassendes Desinteresse an den Wünschen der Kunden - mit viel Wohlwollen kann man noch von Apathie sprechen, doch "böswillige Folgsamkeit" trifft es bei einigen eher. Vereinzelt begegnen einem Menschen, die einem derartig herabgezogene Mundwinkel zeigen, dass dagegen spätgothische Torbögen geradezu eine waagerechte Linien bilden.

Man erkennt schon recht eindeutig, dass das Arbeitsklima für wenig Begeisterung sorgt - und die wird, ganz stilgerecht, 1:1 an die Kunden weitergegeben. Frei nach dem Motto "Wenn ich schon keinen Spaß hier haben darf, dann soll auch kein anderer hier welchen haben dürfen". Das betrifft nicht alle Filialen, aber es fällt auf, dass in anderen Supermärkten, in denen es etwas großflächiger zugeht, zwar eine ebenfalls geschäftige, aber wenigstens nicht unfreundliche Atmosphäre herrscht.

Interessant übrigens in dem Zusammenhang die Frage: Was frustriert eigentlich mehr: Fehlender Service und fehlende Freundlichkeit, oder vollmundige Versprechen derselben und trotzdem das Fehlen von beidem?

Es gibt Lichtblicke. Es muss sie geben um eine Ausnahme von der Regel zu haben. Und es muss sie geben, weil Firmen Alleinstellungsmerkmale brauchen, um als besser wahrgenommen zu werden. Nur über den Preis kann man heute kaum noch Kunden halten. Trotz der Krise in der wir uns befinden, nehmen Kunden es nicht mehr ohne Murren hin, wenn sie behandelt werden, als wären sie nur ein notwendiges Übel, das man schnell abfertigen muss.

Es tut einem Kunden gut, wenn er etwas Honig um den Bart geschmiert bekommt. Wenn das nur heiße Luft ist, merkt der Kunde das recht schnell. Wenn es aber ernst gemeint ist, merkt der Kunde das auch. Bei solchen Firmen wird ein Kunde wieder kaufen. Er wird sich eher dorthin gezogen fühlen, wo man seine Anliegen ernst nimmt und ihm das Gefühl gibt, dass man sich darum kümmert.

Es gibt nur wenige Bereiche, wo Kunden wissen, dass sie keinen Service brauchen werden und deshalb auf den billigsten Anbieter zurückgreifen. Doch in der Mehrzahl der Fälle schneidet sich eine Firma ins eigene Fleisch, wenn sie den Service vernachlässigt.

Ostern 2010 - ich freu' mich drauf

Der Kreis meiner Bekannten ist bunt und vielschichtig und manche aus diesem Kreise sind durchaus "anders". Ich vergesse gerne, wie anders Menschen sein können, was wohl mit dem Gewöhnungseffekt zu tun hat.

Am vergangenen Wochenende traf ich mich nachmittags mit einem meiner sehr computeraffinen Bekannten im Cafe. Dieser Bekannte - nennen wir ihn "Erik" - spielt mit an Fanatismus grenzender Inbrunst World of Warcraft (WoW). Ich kann diesem Spiel nicht besonders viel abgewinnen, aber darum geht es jetzt nicht. Erik spielt eine Dunkelelfe. Ich habe ehrlich gesagt keinen Schimmer, was eine "Dunkelelfe" eigentlich ist, von "Schurke" als Charkterklasse ganz zu schweigen, aber ich habe verstanden, dass Erik mit seiner Dunkelelfe eine Menge verbindet und diese Figur wohl auch so etwas wie "die Wucht in Tüten" sein muss. Jedenfalls betont er das immer wieder.

Erik spielt eine weibliche Figur und ich habe ihn schon einige Male versucht damit scherzhaft aufzuziehen. Erfolglos. Ich kenne Erik schon einige Jahre und weiß, dass er sehr auf Frauen fixiert ist, allerdings auf die gesunde Art. Oder anders ausgedrückt: Erik ist ungefähr so sehr homosexuell veranlagt, wie ich Multimilliardär bin, nämlich gar nicht. Und Geschlechtsumwandlung... Nein. Nicht bei Erik. Erik als Frau wäre ein Desaster für alle, die gezwungen wären, das zu erleben. Alleine die Vorstellung... Oh Gott. Kopfkino.

Erik ist chronischer Single, was zum Teil wohl auch an seinem Job liegt. So wie er mir WoW immer wieder beschreibt, scheint das eine Art globaler Kontakt- und Partnerschaftsbörse zu sein. Ich bin geneigt, ihm das bis zu einem bestimmten Punkt zu glauben, denn immer wieder beschreibt er mir bei unseren seltenen Treffen, wie viele tolle Menschen, Männer wie Frauen, er dort schon kennengelernt habe. Und außerdem haben sich da schon total viele Paare gefunden, die schon seit Jahren zusammen sind. Mit dem Treffen im wirklichen Leben, da hapert es oft, denn jemanden aus der Nachbarschaft in den Weiten jener Onlinewelt zu finden ist nicht eben trivial.

Bei unserem Treffen eröffnete mir Erik, dass es ihn "total erwischt" hat. Erik ist verliebt. So richtig derbe. Rosa Brille, kleine Herzchen in den Augen, abwesender Blick, das volle Programm. Endlich hat auch er sein passendes Gegenstück gefunden. In WoW. Die beiden kennen sich schon recht lange, sagte er mir. Und sie sei "ein absoluter Traum". Endlose Nächte hätten die beiden schon am Rechner miteinander verbracht, er vor seinem - sie vor ihrem. Sie spielt in WoW übrigens einen weiblichen Charakter und er beschreibt ihre Spielfigur so, dass daneben die Venus von Milo potthässlich sein muss: "Sie ist ein menschlicher Paladin. Und wunderschön. Ihre Eleganz und Grazie... So wie sie kämpft keine andere. Und sie ist so warmherzig und gut..." - Mir war spontan nach Alkohol in großen Mengen.

Vor einigen Tagen, so erzählte mir Erik, hat er seiner Angebeteten seine Zuneigung gestanden. Meine Vorstellung ob dieses Vorgangs ist "farbig", denn Erik ist ein gestandenes Mannsbild von fast 30 Jahren, Sportler, selbstbewusst und charismatisch - nur leider vollkommen verklemmt und unfähig wenn es um Frauen geht. Verglichen mit seinem Talent Frauen anzugraben bin ich auf dem Gebiet beinahe ein omnipotentes Genie, und ich bekomme da schon absolut gar nichts auf die Reihe. In meiner Fantasie sah ich einen stark schwitzenden Erik am Rechner sitzen, der vor Nervosität Nägel kauend und Kette rauchend mit sich selbst und gegen die Tücken der Technik kämpfend versucht, einer Frau am anderen Ende der Welt zu erklären, dass er sein Herz an sie verloren hat. Die Vorstellung hatte eindeutig etwas für sich und ich konnte mir ein Grinsen nur mühsam verkneifen.

Trotzdem: Erik hatte Erfolg. Seine Angebetete erhörte sein Flehen und nun sind die Beiden wohl ein Paar. Auch Bilder hätte man schon ausgetauscht und telefoniert hätte man auch schon ein Mal. So sehr kleben die beiden aneinander, dass sie sich entschlossen haben, in WoW zu heiraten. Ich muss zugeben, dass ich mit dieser Idee meine ganz eigenen Probleme habe, aber ich bin aufgeschlossen und finde, dass jeder seinen (oder ihren) ganz eigenen Weg finden muss, um seine Verbundenheit auszudrücken. Von den modernen Medien sollten Mann und Frau sich da nicht bremsen lassen. Begleitet von meinen besten Wünschen gingen wir auseinander, denn Erik musste unbedingt pünktlich zum Treffen mit seiner Angebeteten erscheinen. So eine Hochzeit will ja auch vorbereitet sein.

Ich hätte diese Episode beinahe wieder vergessen, wenn mich nicht spät abends am Samstag ein anderer Bekannter angerufen hätte. Ich nenne ihn mal "Daniel" (Name der Redaktion bekannt). Auch Daniel kenne ich schon Ewigkeiten und Daniel ist ein typisch süddeutsches Kellerkind und Zocker der ersten Garde: Progamer, Clanleader, Hardwarefrickler, lichtscheu und - welch Zufall - unbeweibt. Daniel platzte vor Mitteilungsbedürfnis: "Hey Frank. Na wie geht's? Du, ich hab' ne Freundin!" Ich war platt. Daniel und eine Freundin? Ich sah aus dem Fenster. War die Hölle zugefroren? War die Apokalypse angebrochen? Regnete es Geld? Daniel mit Freundin das war in etwa so wahrscheinlich, wie drei Mal in Folge den Jackpot im Lotto zu knacken. Viel schlimmer: Wieso der und nicht ich? Sowas wurmt. Trotzdem gab ich den interessierten und sich erfreuten Zuhörer und wollte natürlich wissen, wie es denn dazu gekommen war.

Daniel hatte sie im Internet kennengelernt. Schon vor Monaten. Und die beiden haben echt ganz super toll viel Zeit miteinander verbracht. Und sie ist sooooooo toll. Und intelligent. Und überhaupt. Und gut sieht sie auch noch aus. "Okay," dachte ich mir, "das ist dann jetzt der Zweite in kurzer Zeit." Vielleicht sollte ich meine Ansichten über das Internet und die Partnersuche dort doch noch mal überdenken - Ich glaube nämlich NULL an das Internet als funktionierender Heiratsmarkt. Daniel schwärmte mir weiter von seiner Angebeteten vor. Wie gut sie zuhören könne, wie intelligent sie sei. Und so natürlich. Ich schaltete auf Durchzug, denn ganz ehrlich: verliebtes Geschwafel ist ja gut und schön, aber mir damit spätabends auf den Sack zu gehen, steigert meine Laune nicht gerade, wenn ich in diesem Geschwafel keine Rolle spiele und ganz besonders dann nicht, wenn ich bereits kurz vorher einen ähnlichen Textanfall überstanden habe.

Irgendwann kam Daniel zum eigentlichen Anliegen seines Anrufs: "Du bist doch Fotograf, oder?" Ja, bin. "Und Du kannst gut mit Bildern umgehen und so." Das nahm ich als Kompliment und Feststellung. "Hast Du auch einen WoW-Account?" Nein, habe ich nicht, will ich auch nicht. Aber die Neugierde siegt: "Warum?" fragte ich. "Ich heirate morgen und will ein paar schöne Hochzeitsfotos haben..."

Ich war hellwach. Hochzeit in WoW? Das hatte ich doch irgendwo schon mal gehört. Ich hakte nach. Daniel erzählte mir von den vielen, langen Nächten, die die beiden schon gemeinsam in was weiß ich für gottverlassenen Pixelwelten verbracht hätten, von endlosen Gesprächen, gemeinsamen Abenteuern und so weiter und so fort. Und wie toll sie natürlich aussähe. Und wie tolerant sie doch sei. Daniel war vollkommen verknallt. Jenseits von Gut und Böse. Weit jenseits.

Neugierig wie ich bin ließ ich mir von Daniel beschreiben, wie man sich als Außenstehender und Unwissender eine Hochzeit in WoW vorstellen müsste. Daniel beschrieb mir das "Happening" so gut er konnte und er war ehrlich bemüht, mich dafür zu begeistern. Allerdings erreichte er damit bei mir vor allem eins: Stirnrunzeln. Nicht etwa, weil er in einem Onlinespiel heiraten will, nein, das nun nicht. Jeder nach seiner façon. Was mir nicht aus dem Kopf ging, das war ein Satz, den Daniel locker flockig so dahin sagte: "...und da stört es auch niemanden, wenn zwei Frauen heiraten." Äh, Moment... "Zwei Frauen?"

Daniel klärte mich auf - oder glaubte zumindest mich aufzuklären - dass man in solchen Spielen Rasse, Aussehen und Geschlecht seiner Spielfigur frei wählen könnte. Und seine Freundin spielt halt eine Dunkelelfe und er eine menschliche Frau. Das sei nicht ungewöhnlich und völlig normal. Das war nicht der Punkt, mir ist doch völlig egal, wer da wen heiratet, solange alle glücklich sind. Nein, mir ging es um etwas ganz Anderes: "Was spielt ihr da denn für Klassen?" Daniel war begeistert und witterte die Chance, mich nach all den Jahren endlich für WoW ködern zu können. Er beschrieb mir in epischem Umfang das System der Charakterklassen und wiedermal vermisste ich die Taste für "vorspulen" bei einem Gesprächspartner. Daniel kam zum Punkt. "Ich spiele einen menschlichen weiblichen Paladin und meine Freundin eine Dunkelelfen-Schurkin."

Ich ging ans Regal, Telefon in der Hand, und wählte sorgfältig. Lagavulin, 16 Jahre, erschien mir angemessen. Ich nahm ein Glas, goss großzügig ein. Dabei fragte ich Daniel, ob er seine Freundin denn schon mal gesehen hätte. "Ich habe Bilder von ihr!", prahlte er und vor meinem geistigen Auge konnte ich in diesem Moment eine wahre Kaskade von Screenshots, Webcam-, Handy- und Sonstwasfotos auf Daniels Bildschirm aufgehen sehen. "Getroffen haben wir uns noch nicht, sie wohnt bei Dir da im Norden irgendwo und das sind ja ein paar Kilometer." Ich fragte ihn, wann denn die Hochzeitsnacht geplant sei. Etwas verlegen meinte Daniel, dass sie sich "über Ostern" treffen wollten, weil sie beide dann frei hätten. "Und da bin ich sowieso bei meinen Eltern in Osnabrück, das wäre dann für uns beide der halbe Weg... Aber Du, ich muss jetzt auch Schluss machen, meine Freundin kommt gleich online. Kannst Dir das mit den Fotos ja noch überlegen. Schühüüüsss!" Und weg war er.

Ich dachte an Daniel und seine stockkonservativen Eltern und stellte mir das Osterfest in dieser Familienkonstellation vor. Ein Osterfest, zu dem der einzige Spross seiner Familie eröffnet, dass er im Internet geheiratet hat. Ein Osterfest, bei dem die größte Überraschung seit Jahren wohl tatsächlich die Eier sein dürften...

Prost.


[PS]

Wegen der Nachfragen:

Ja, mir ist klar, dass beide gegenüber dem jeweils anderen behauptet haben, eine Frau zu sein. Den beiden offensichtlich nicht...
Ja, die beiden haben inzwischen "geheiratet".
Nein, ich habe keine Ahnung, wie zwei Männer miteinander telefonieren können und den jeweils anderen für eine Frau halten können.
Nein, ich habe es den beiden (noch) nicht gesagt. Ich bin ja kein Spielverderber.

Learning by doing

Unser Bildungssystem ist nicht eben optimal. Diese Kritik ist nicht neu und kaum jemand mag dem ernsthaft widersprechen. Entscheidend für die Qualität dessen, was dieses System produziert, sind letztendlich die Lehrer. Schüler haben ihre eigene, meist negative, Meinung über Lehrer. Auch das ist nicht neu und hat in den meisten Fällen wenig mit der Kompetenz der Lehrkraft zu tun. Was aber, wenn ein Lehrer tatsächlich weit hinter dem zurückbleibt, was von ihm erwartet werden kann?

In jedem Unternehmen hat die geleistete Arbeit unmittelbare Auswirkungen auf das Beschäftigungsverhältnis. Wer sich als ungeeignet für einen Job erweist, wird entweder auf eine andere Stelle versetzt, die seiner Befähigung eher entspricht oder entlassen. Naheliegend zu erwarten, dass das auch für den Bildungsbetrieb gilt, denn gerade hier haben die Arbeitsleistungen der Mitarbeiter (lies: der Lehrer) weitreichende Folgen. Ein inkompetenter Lehrer verdirbt nicht nur ein paar Akten oder Blumentöpfe, sondern die Zukunft anderer Menschen.

Nicht wenige Lehrer in meinem Bekanntenkreis brüsten sich gerne damit, dass sie ihren Schülern gegenüber gerne mit einer entsprechenden Drohkulisse auftreten:
"Die Schüler mögen mir ein oder zwei Jahre das Leben schwer machen, aber ich kann denen das ganze Leben versauen."
In mindestens zwei Fällen weiß ich, dass dieser Satz nicht einfach nur so dahingesagt ist, sondern durchaus ernst zu nehmen ist. Andererseits verstehen Eltern Schule zunehmend als Dienstleister, der ihnen und ihrem Nachwuchs gegenüber in der Pflicht steht. Eltern zahlen Steuern und die werden für die Bildung investiert. Sie haben für eine Leistung bezahlt und erwarten zu Recht eine adäquate Gegenleistung. Wird die nicht erbracht, ziehen Eltern heute mehr als früher vor Gericht.

Diese Entwicklung kann eigenartige Ausmaße annehmen, wie bestimmte Schulbezirke zeigen. So wird zum Beispiel von einem Schulbezirk am Starnberger See berichtet, in dem mehr als 50% der Schüler auf das Gymnasium gehen - was natürlich nichts damit zu tun hat, dass in dieser Gegend viele reiche Bundesbürger leben. Auch die Proteste um das Schulsystem in Hamburg zeigen in aller Deutlichkeit, dass der Zugang zum Abitur von den Wohlhabenden als alleiniges Recht verstanden wird, das gerne und oft eingeklagt wird. Diese Entwicklung kann auf lange Sicht nicht gut gehen.

Es ist oft schwierig von außen zu unterscheiden, ob Eltern eine Schule wegen tatsächlicher Mängel oder eher wegen ihres Standesdenkens vor den Kadi ziehen. Wenn eine Schule aber einen Lehrer beschäftigt, über den sich alle beschweren, dann liegt die Vermutung nahe, dass hier etwas im Argen liegt. In einer Schule in Frankfurt wird ein Mathelehrer beschäftigt, der insbesondere dadurch auffällt, dass er seine Schülerinnen häufiger mit "anzüglichen Bemerkungen" bedenkt, er auffallend oft nicht da ist und wenn doch, sein Unterricht einige offensichtliche qualitative Mängel hat. Die Leistungen der von ihm unterrichteten Klassen bleiben deutlich hinter dem zu erwartenden Schnitt zurück. Klausuren müssen regelmäßig wiederholt werden und Schüler beschweren sich in großer Zahl über mangelhafte Vermittlung des Lehrstoffes. Selbst die Schulleitung räumt ein, dass es hier Defizite seitens des Lehrers gibt.

In mindestens einem Fall hatte das unmittelbare Auswirkungen auf die schulische Kariere einer Schülerin. Die Eltern zogen damit durch die Instanzen und versuchten die Situation für ihre Tochter und die anderen Schülerinnen und Schüler zu verbessern. Erfolglos. Die Behörden sitzen die Sache aus, verschleppen Termine und behandeln das Thema trotz der erdrückenden Faktenlage sehr zurückhaltend. Aber nicht nur das. Die Lehrer erfahren maximalen Schutz des Systems.

Nach dem Grund befragt, warum das Schulamt nicht eingreife, sagte ein Sprecher:
"Es hilft niemandem, unfähige Lehrer in Bibliotheksdienste abzuschieben, man muss sie befähigen, guten Unterricht zu machen."
Mit anderen Worten: Wer einmal im Schuldienst angekommen ist, muss sich keine Sorgen mehr machen, denn das System bietet ihm maximalen Schutz. Egal wie schlecht seine pädagogischen und fachlichen Leistungen und Kompetenzen sind, egal welche Entgleisungen er sich leistet, er wird weiterhin auf den Nachwuchs losgelassen und darf mit dem Segen von ganz oben weiter vor sich hin wurschteln. "Learning by doing" auf Kosten des Nachwuchses, denn besser vielen Schülern die Zukunft versauen als einen Lehrer zu feuern.

Angesichts solcher Protektion, die selbst eklatante Inkompetenz nicht nur schützt, sondern systematisch fördert, ist es mehr als verständlich, dass sich Eltern und Schulen immer weiter voneinander weg bewegen. Aber nicht nur das. Gerade solche Fälle und der Umgang damit zeigen, wie schlimm es tatsächlich um unser Bildungssystem und damit um die Zukunft unseres Landes bestellt ist.

Sonntag, 21. März 2010

Fotos

In den letzten Tagen war ich (endlich) mal wieder etwas fotografieren, was die verhältnismäßige Ruhe hier erklärt. Dabei sind Fotos von einer Bekannten (danke für die spontane Gelegenheit), von der Vernissage der Werkschau von Herlinde Koelbl und vom Juniortapir und mir.

Battle of the Cams: Alphatapir vs. Juniortapir
Vernissage Herlinde Koelbl Werkschau
Ein Nachmittag im Schloss