Donnerstag, 18. Februar 2010

Ein Bauernopfer?

Die New York Times berichtete, dass der kürzlich verhaftete "zweite Mann" der al-Qaida, Abdul Ghani Baradar, seitens offizieller amerikanischer Regierungsstellen als "bedeutsamste Figur der Taliban" bezeichnet wird, die bisher überhaupt festgenommen werden konnte. In dem jetzt mehr als acht Jahre andauernden Krieg in Afghanistan konnte bislang keine so bedeutsame Führungsperson festgesetzt werden. Wir sprachen bereits darüber.

Inzwischen haben sich auch die Taliban zu der Festnahme geäußert. Am Dienstag behauptete ein Sprecher der Taliban:
"Das ist bloß ein Gerücht, das von den Ausländern verbreitet wird, um die Aufmerksamkeit von der Offensive in Marja abzulenken." "Sie sehen sich in Marja großen Problemen gegenüber. Tatsächlich ist gar nichts dran an der Festnahme von Baradar. Er ist in Sicherheit und frei und er ist in Afghanistan."

Zabiullah Mujahid
Die Kooperation zwischen CIA und ISI lässt erahnen, dass sich das Verhältnis zwischen Pakistan und Amerika verändert. Nach Angaben amerikanischer Regierungsvertreter sind maßgebliche Führungspersonen in Pakistan, unter anderem der Chef der Armee, General Ashfaq Parvez Kayani, langsam zu der Überzeugung gelangt, dass sie die Taliban nicht mehr länger unterstützen können - wie sie es im Stillen seit Jahren getan haben - ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Dafür spricht auch, dass offizielle amerikanische Stellen schon länger darüber spekuliert haben, dass der ISI Baradar bereits vor langer Zeit hätte festnehmen können.

Offizielle Vertreter amerikanischer Geheimdienste vermuten, dass bestimmte Elemente des ISI die Taliban heimlich mit Geld und logistischer Hilfe unterstützt haben, damit Pakistan nach dem Abzug der Amerikaner in Afghanistan Verbündete haben wird. Brisant wird dieser Vorwurf unter anderem durch die Tatsache, dass amerikanische Geheimdienste dem ISI bereits mehrfach präzise Informationen über Aufenthaltsorte von ranghohen Taliban mitgeteilt haben, der ISI sich jedoch üblicherweise weigert irgendetwas zu unternehmen. Es sieht aber inzwischen wohl so aus, als wenn man in Pakistan erkannt hat, dass die Taliban langfristig die Regierung in Pakistan gefährden, was wiederum erklären würde, warum der ISI plötzlich mit der CIA kooperiert und sich offen gegen die Taliban stellt.

Dieser Wandel korreliert mit den seit Monaten kursierenden Gerüchten, dass eine stetig wachsende Zahl von Führern der Taliban nach Pakistan und besonders nach Karachi geflohen sein sollen. Ein Diplomat in Kabul sagte in einem Interview vor über einem Monat, dass sich selbst Mullah Omar in Begleitung einiger "Kollegen" inzwischen in Karachi aufhalten sollte. Baradar als einen solchen "Kollegen" anzusehen ist mehr als gerechtfertigt. Dazu passt auch, was der frühere offizielle Vertreter der Taliban in Kabul, Wahid Muzhda, der den Kontakt zu seinen ehemaligen Regierungskollegen aufrecht erhält, über die Schattenregierung der Taliban sagt.

Nach seinen Aussagen trifft sich das Gremium, das aus mehr als einem Dutzend der bestbekannten Führungsköpfe der Taliban besteht, alle drei bis vier Monate. Bei diesen Treffen werden politische, religiöse und militärische Entscheidungen getroffen. Vor drei Jahren soll - so Muzhda - dieses Gremium aus 19 Mitgliedern bestanden haben. Inzwischen wurden sechs getötet oder verhaftet und andere sind geflohen. Allerdings wurden die Ausfälle wieder ersetzt.

Ein führender Vertreter der Nordallianz, jener Gruppe Taliban, die mit den US Streitkräften zusammenarbeitet, sagte, dass im November 2001, nach der Invasion der USA und dem folgenden Zusammenbruch der Streitkräfte der Taliban, Baradar und einige weitere führende Köpfe der Taliban von der afghanischen Miliz verhaftet worden sind. Der pakistanische ISI habe sich jedoch eingeschaltet und die Freilassung der Verhafteten erzwungen.

Stellt sich die Frage, was das Umdenken in Pakistan ausgelöst hat. Die Bemühungen der Amerikaner alleine werden es mit einiger Sicherheit nicht sein, denn die waren schon seit ganz langer Zeit auf hohem Niveau - finanziell, materiell und personell. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Führung in Islamabad erkannt hat, was aus den pakistanischen Taliban geworden ist. Zwar hoffte man, durch die Unterstützung der pashtunischen Taliban den pakistanischen Einfluss in Afghanistan zu vergrößern. Aber inzwischen sind pakistanische Regierungseinrichtungen und Politiker selbst zum Ziel von Bombenanschlägen und anderen terroristischen Angriffen geworden. Man hat erkannt, dass genau jene Taliban, die man sich als Verbündete aufzubauen erhoffte, es sich offenbar zum Ziel gesetzt haben, die Regierung Pakistans zu stürzen, was folgerichtig zu einer strategischen Neubewertung des Wertes eben jener Verbündeten führen musste. Nur in diesem Kontext ist der plötzliche Gesinnungswandel in Pakistan erklärbar.

Aber ist das wirklich alles? Ist das wirklich der Grund? Diese Motivation ist so offensichtlich, dass es schon fast dazu zwingt sie als alleiniges Motiv infrage zu stellen. Pakistan will seinen Einfluss in Afghanistan festigen, um Indien zuvor zu kommen. Für Pakistan wäre es eine Katastrophe, wenn es Indien gelänge, ein zukünftiges, stabiles, Afghanistan auf seine Seite zu ziehen. Genau das war der Grund, warum Pakistan die Taliban überhaupt erst unterstützt hat. Die Überlegung, dass sich ein stabilisiertes Afghanistan mit Indien verbünden könnte, ist nicht so ganz abwegig, denn immerhin gilt Indien als Verbündeter der USA und die USA als Hauptverantwortlicher des Afghanistanfeldzuges werden letztendlich darüber bestimmen, wer welchen Teil des Kuchens vom Wiederaufbau zugeteilt bekommt - siehe Irak, Kuweit, etc.

Es ist deshalb kaum anzunehmen, dass sich die Interessen Pakistans verändert haben, denn die Ausgangslage hat sich ebenfalls nicht verändert. Es sei denn, die USA haben mit Pakistan einen Deal vereinbart, der Pakistan zukünftig eine besondere Rolle in Afghanistan garantiert. Es wäre von großem Vorteil für Amerika, wenn Pakistan im Kampf gegen die Taliban massiv und eindeutig auf seiner Seite wäre. Der Beginn des Truppenabzugs in rund 18 Monaten ist ein Zeitfenster, dass selbst die gewählte Regierung in Kabul unter Karzai mit wenig Zuversicht sieht. Karzai geht selber davon aus, dass es noch mindestens 10 bis 15 Jahre dauern wird, bevor Afghanistan sich ohne fremde militärische und finanzielle Hilfe wirklich selbst verwalten können wird.

Für alle drei, Afghanistan, Pakistan und auch Amerika wäre es von Vorteil, wenn sich Pakistan massiv in den Konflikt einschaltet. Pakistan könnte den Taliban nicht nur die Unterstützung entziehen, sondern auch - wie gerade geschehen - durch z. B. gemeinsame Aktionen mit den US Geheimdiensten die Führungsspitze der Taliban ausdünnen. Wenn gleichzeitig deren Bastionen im pakistanischen Grenzgebiet zu Afghanistan angegriffen werden, dann hilft Pakistan nicht nur aktiv dabei Afghanistan zu stabilisieren und ein Ende der Kämpfe zu erzwingen, sondern verbessert gleichzeitig auch noch langfristig sein Verhältnis zu den USA.

Die USA wiederum erhielten auf diesem Wege nicht nur militärische und geheimdienstliche Unterstützung in Pakistan, sondern könnten gleichzeitig auch sehr davon profitieren, wenn sich das Verhältnis zu Pakistan verbessert. Immerhin regiert in Pakistan das Militär und das hat eigene Atomwaffen zur Verfügung, ebenso wie Indien. Im Gegensatz zu Indien gilt Pakistan aber nicht als Verbündeter der USA. Deshalb ist Pakistan nicht unbedingt ein Staat, den man gegen sich haben möchte, selbst dann nicht, wenn man die USA ist.

Andererseits kann es aber auch sein, dass es ganz andere Hintergründe gibt. Baradar wurde in Karachi und nicht in Quetta, Peshwar oder in den autonomen Stammesgebieten festgenommen. Von daher könnte es gut sein, dass die Operation zwar als "gemeinsam mit dem ISI" verkauft wird, tatsächlich aber alleiniger Verdienst der US Geheimdienste ist. Politisch wäre es natürlich unklug einen solchen Alleingang als eben solchen zu präsentieren. Ein "Joint Venture" wäre eine naheliegende Vertuschung, die nicht zu weit von den wirklichen Ereignissen weg wäre, als das man sich später in irgendeiner Form in Widersprüchen verzetteln müsste. Die Tatsache, dass Baradar von Mitarbeitern der US Geheimdienste verhört wird, während er sich in Pakistan, in der Hand pakistanischer Sicherheitskräfte befindet, unterstützt diese Theorie. Wenn diese Theorie zutreffend wäre, würde das bedeuten, dass die USA ihre verdeckten Operationen in Pakistan verstärkt hätten.

Eine weitere denkbare Theorie wäre, dass Baradar von General Kayani geopfert wurde, um Omar eine eindeutige Warnung zukommen zu lassen. Mit der Festnahme würde Omar deutlich gemacht, dass die Taliban der Quetta Shura besser nicht jene Linie überschreiten, die von Rawalpindi gezogen wurde. Das würde die Taliban zum Beispiel dazu zwingen, mit den USA zu verhandeln und sich ernsthaft mit der Regierung Karzai auseinander zu setzen. Vielleicht war es aber auch genau das, nämlich geheime Gespräche zwischen dem als eher gemäßigt eingestuften Baradar und der Regierung Karzai und den Streitkräften der USA, wie der Economist vermutet. In jedem Fall bedeutet diese Theorie, dass die Regierung Pakistans zu extremen Maßnahmen greift, um die Taliban in ihre Schranken zu weisen.

Noch eine andere denkbare Theorie wäre, dass Baradar nur deshalb geopfert wurde, um den ständig wachsenden Druck seitens der USA von der pakistanischen Regierung zu nehmen. Das wäre zwar denkbar und plausibel, lässt jedoch die unangenehme Frage im Raum stehen, wer sich sonst noch alles in Karachi versteckt. Wäre diese Theorie zutreffend, sähe sich Pakistan einer ganzen Reihe von Problemen ausgesetzt, die nicht ignoriert werden können, denn mit der Festnahme von Baradar haben die USA jetzt den ultimativen Beweis dafür in der Hand, dass die Taliban sich nahezu frei in Pakistan bewegen können. Das wiederum könnte die Rolle und den Einfluss Pakistans auf der internationalen Ebene maßgeblich schwächen und am Ende dazu führen, dass sich Pakistan plötzlich selbst auf der Liste derjenigen Staaten wiederfindet, die den internationalen Terrorismus nicht nur fördern, sondern auch noch schützen. Angesichts der Atomwaffen in Pakistan ein nicht eben erstrebenswertes Szenario, aber dennoch ist auch diese Theorie plausibel.

Letztlich könnte natürlich auch Pakistan einfach beschlossen haben, dass sie die Quetta Shura Taliban los werden wollen. Das hätte nicht unbedingt etwas mit einem Gesinnungswandel zu tun, wie es der Guardian vermutet, sondern wäre nichts Anderes als eine Neubewertung des strategischen Wertes jener Gruppierung. Für Pakistan sind die Quetta Shura Taliban zwar von Bedeutung, sehr viel wichtiger ist aber die Haqqani Miliz. Zwar ist diese Theorie nicht völlig von der Hand zu weisen und damit theoretisch im Bereich des Möglichen - besonders in Bezug auf Pakistan muss man immer mit nahezu allem rechnen - aber nicht eben wahrscheinlich.

Ich halte die Theorie des geheimen Deals mit Pakistan für die wahrscheinlichste Lösung, wobei ich allerdings auch die Option des Druckabbaus als nicht völlig unsexy ansehe. Ich bin echt gespannt, wie sich das weiter entwickelt.

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