Freitag, 29. Januar 2010

Vollständige Überwachung

(In den vergangenen Monaten habe ich mich mit dem Thema "Überwachung" intensiver auseinander gesetzt und meine Überlegungen jetzt zu Papier gebracht. Das Ergebnis ist ein ziemlicher Brocken und wahrscheinlich nicht für jeden leicht verdaulich. Ich empfehle Zeit und Kaffee. Viel von beidem.)

Die Medien berichten immer wieder von Bestrebungen der Politik, die Bürger des Staates im zunehmenden Umfang zu überwachen. Besonders präsente Diskussionen drehen sich um die Videoüberwachung und in letzter Zeit vermehrt die Kontrolle dessen, was der Bürger im Internet tut. Dazu gehört allerdings auch die inzwischen selten diskutierte Überwachung der Telekommunikation (Telefonüberwachung), aber auch die jüngst geschaffene Möglichkeit des Staates, auf Kontobewegungen des Bürgers zuzugreifen und diese zu überwachen. Die biometrischen Daten des Bürgers zu katalogisieren und zu sammeln gehört ebenso dazu, wie auch das automatische Überwachen des Verkehrs auf zum Beispiel Autobahnen, wie zum Beispiel "Toll Collect", aber auch Systeme der automatischen Überwachung der Einhaltung von Geschwindigkeitsbegrenzungen gehören dazu. Die Liste ist damit längst nicht abgeschlossen.

Die Diskussionen um die Einführung und Anwendung dieser Systeme dreht sich in der Öffentlichkeit um den Punkt der Grundrechte des Bürgers, um seine Privatsphäre und sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Fragestellung, warum der Staat allerdings überhaupt diese Überwachung will, wird meistens reduziert auf zwei Faktoren: Erstens wird unterstellt, dass der Staat auf diesem Wege dem Bürger mehr und effizienter Geld abnehmen kann (z. B. Toll Collect, Finanzämter, Bußgelder, etc.) Zweitens wird dem Staat unterstellt, er wolle den Gläsernen Bürger, damit dieser - salopp formuliert - tut wie ihm befohlen.

Beide Argumente greifen aber zu kurz. Warum sollte der Staat ein Interesse daran haben, dem Bürger "leichter" Geld abnehmen zu können? Anders als noch im Mittelalter landen die Steuereinnahmen heute nicht mehr im Privatvermögen der Regierenden. Die Einnahmen des Staates bleiben in erster Linie im Staat und dienen damit grundsätzlich dem Allgemeinwohl - auch wenn die Erfahrung zeigt, dass es durchaus immer wieder Korruption und Selbstbedienungsmentalität in der politischen Führung gibt. Trotzdem: Die Politiker werden nicht unmittelbar über die Höhe und Gesamtsumme der eingenommenen Steuern (und anderer Einnahmequellen) besoldet, sondern über per Gesetz von demokratisch gewählten Volksvertretern festgelegte Besoldungstabellen (Diäten).

Das Argument, dass durch staatliche Subvention an die Wirtschaft die Politiker wiederum monetäre Zuwendungen aus der Wirtschaft erhalten und so indirekt über Mehreinnahmen ihr eigenes Einkommen deutlich verbessern, ist grundsätzlich durchaus korrekt. Diese Möglichkeiten unterliegen aber ebenfalls dem Regulativ durch die geltenden Gesetze, die wiederum ebenfalls auf dem Wege der demokratischen Willensbildung geschaffen und ausgestaltet werden. Mit anderen Worten: Wenn alle Bürger dagegen sind, dass Politiker diese Möglichkeit haben, dann können sie ihrem Willen Ausdruck verleihen und auf dem Wege der verfassungsmäßig garantierten Optionen der Teilnahme an der Politik (Demokratie) entsprechende Mehrheiten schaffen und solche Veränderungen herbeiführen. Das geschieht auch tatsächlich, aber es geschieht nicht in Form einer von einer breiten Mehrheit getragenen Forderung nach einem pauschalen Verbot, sondern explizit auf dem Wege, dass speziell der Korruption und Vorteilsnahme (bzw. der Vorteilsgewährung) versucht wird Einhalt zu gebieten.

Es kann also - von verschiedenen Einzelfällen abgesehen - kaum argumentiert werden, dass die Vermehrung der staatlichen Einnahmen dem Zweck der persönlichen Bereicherung der Politiker dient. Dazu unterliegen auch Politiker in viel zu engem Rahmen der Kontrolle. Davon abgesehen stehen Politiker weder neben noch über dem Gesetz (Die berechtigte Diskussion darüber, ob diese Kontrolle ausreicht oder im ursprünglich gewollten Umfang stattfindet, soll an dieser Stelle nicht betrachtet werden.) Das Argument der persönlichen Bereicherung als maßgebliche Kraft hinter der zunehmenden Kontrolle des Bürgers ist damit kaum tragfähig und muss deshalb weitestgehend abgelehnt werden.

Welches Interesse hat der Staat daran, seine Bürger zu entmündigen und ihnen eine Meinung und eine Denkweise aufzuzwingen? Da zumindest in Deutschland kein Politiker auf Lebenszeit in sein Amt kommt und grundsätzlich quasi jederzeit aus seinem Amt abberufen werden kann, müsste man unterstellen, dass alle Politiker ein gemeinsames Ziel haben, das losgelöst von deren politischen Ansichten ist. Dieses Ziel müsste den Interessen des Bürgers entweder entgegenstehen oder aber zumindest durch den Bürger gefährdet sein. Da die Verfassung aber jedem Bürger Zugang zur Politik garantiert, stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob es dann nicht sinnvoller wäre, den Zugang zur Politik anders zu begrenzen. Gerade das Entstehen von Parteien wie Bündnis 90 / Die Grünen, der Linkspartei und in jüngster Vergangenheit der Piratenpartei zeigt aber, dass dieser Zugang zur Politik eher erleichtert als erschwert wird und außerdem im zunehmenden Maße auch noch von Bürgern genutzt wird.

Damit das Argument der Abschottung der Politik gegenüber dem Bürger in irgendeiner Form belastbar wird, müsste man unterstellen, dass auch die, die jetzt neu in die Politik eingestiegen sind, bereits vorher in irgendeiner Form zu dem durch die Politik protektionierten Kreis gehörten und die neu entstandenen Parteien sich aus dem Kreise der bereits zu diesem Kreise gehörenden Personengruppen rekrutieren. Diese Überlegung hält jedoch keiner Überprüfung stand. Spätestens das Entstehen der Piratenpartei hat das Gegenteil gezeigt, denn diese konstituiert sich nach eigenem Bekunden aus Mitgliedern, die früher gar kein Interesse an politischer Beteiligung hatten, sich jetzt jedoch verpflichtet sehen, ihre Interessen selbst wahren zu müssen.

Der Zugang zur Politik ist als Kernelement der Demokratie in der Verfassung garantiert. Den Zugang zur Politik und damit zur aktiven politischen Beteiligung zu verbauen, wäre maßgebliches Element dieses hypothetischen Selbstschutzes. Die Zugangskontrolle zu den bereits an der Politik beteiligten Parteien obliegt zwar den Parteien selbst (Anforderungen an die Mitgliedschaft), bzw. den regierenden Parteien (gesetzliche Regulierung zu Parteien und deren Mitglieder), jedoch stehen alle Parteien allen Bürgern offen und jeder Bürger kann sich grundsätzlich jeder Partei anschließen (außerhalb der und gegen die Verfassung operierende Parteien mal außen vor gelassen). Eine solche Abschottung findet de facto nicht statt.

Bliebe die Überlegung, dass es eine Art "Masterplan" gibt, der alle Bürger gleichschalten soll, über den die Politik Opposition verhindern will. Gerade das Beispiel der DDR zeigt, dass das selbst in einem nahezu absolut kontrollierten und ideologisch gleichgeschalteten Staat nicht gelingt. Besonders das Beispiel DDR hat gelehrt, dass sich Opposition nicht verhindern lässt. Insbesondere die Globalisierung zeigt mit aller Deutlichkeit, dass sich heute Ideen und Ansichten nicht mehr einsperren lassen. Selbst Oppositionsgruppen in überaus restriktiv handelnden Staaten, wie zum Beispiel dem Iran oder China, schaffen es, ihre Ideen international zu verbreiten. Das Internet spielt dabei eine wichtige, aber nicht die einzige Rolle. Medien anderer Länder, Reisefreiheit, Literatur, internationale Austauschprogramme, Städtepartnerschaften, internationale Organisationen, weltweit agierende Firmen und so weiter verhindern, dass heute die Ansichten (oder die Vorstellungen, Ideen, Konzepte) einer Gruppe überhaupt an einem Ort eingesperrt werden können. Sobald eine Idee zwischen mehreren Individuen Konsens findet, wird sie kommuniziert und findet damit nahezu zwangsläufig auch Verbreitung - auch international.

Zieht man zu diesen Überlegungen noch die Tatsache hinzu, dass nicht nur in Deutschland eine Ausweitung der Überwachung des Bürgers im Gange ist, sondern in nahezu allen modernen Staaten, würde die Gleichschaltung der Bürger nur dann funktionieren, wenn alle Bürger aller Staaten identisch gleichgeschaltet würden. Es ist mehr als fraglich, wie angesichts kultureller, moralischer, ethischer, wirtschaftlicher, politischer (und so weiter) Unterschiede eine globale Gleichschaltung aller Bürger überhaupt theoretisch funktionieren könnte. Nimmt man den erforderlichen Zeitansatz hinzu, dann fällt schnell auf, dass in den vielen, vielen Jahren seit dem Entstehen der Diskussion um den Überwachungsstaat und den gläsernen Bürger zwar die Überwachung ausgeweitet wurde, die davon aber gemäß der Theorie einer Intention des Selbstschutzes der Regierenden profitierenden Personen in vielen Fällen schon lange nicht mehr im Amt und zum Teil sogar bereits verstorben sind. Die These, dass hier eine Kaste einen Masterplan verfolgt, der auf den ultimativen Selbstschutz ausgerichtet ist und ein Machtmonopol errichten soll (Stichwort Illuminaten), ist zwar nicht undenkbar, aber angesichts der Faktenlage dann doch etwas zu phantastisch. Das Argument wäre demnach auch als nicht tragfähig abzulehnen.

Das Unterstellen von Bereicherung und Abgrenzung setzt daneben noch eine ganz gravierende Grundlage voraus: Alle Politiker müssten den Bürger als Gegner verstehen, den Staat in seiner demokratischen Ausgestaltung als Feind begreifen und im Kern Moralvorstellungen leben, die sich mit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nicht decken können. Mit anderen Worten: Den Politikern müsste unterstellt werden, dass sie im Kern ihres Wesens böse sind. Diese Vorstellung ist kaum haltbar, denn Politiker kommen aus der Mitte des Volkes, an deren (politischer) Spitze sie letztendlich zu finden sind. Wenn schon Politiker per se bösartig sind, dann wäre es angesichts der Vielzahl der Politiker und der bunten Streuung deren gesellschaftlicher Herkunft nur naheliegend zu behaupten, dass ALLE Menschen böse sind. Die Philosophie hat mehrfach gezeigt, dass der Mensch eben nicht a priori gut oder böse ist. Diese Vorstellung muss deshalb zurückgewiesen werden.

Wenn folglich die beiden naheliegenden Argumente Bereicherung und Abgrenzung ebenso abzulehnen sind wie die Unterstellung, dass Politiker grundsätzlich böse und gegen den Bürger eingestellt sind, welches Motiv sollten dann Politiker bzw. Staaten haben, dass sie die Überwachung des Bürgers zunehmend ausweiten? Immerhin wird erhebliche Unruhe in der eigenen Innenpolitik in Kauf genommen, die zuweilen sogar soweit geht, dass Politiker die eigene Entmachtung in Kauf nehmen. Trotzdem wird die möglichst umfassende Überwachung jedes Individuums im Staate vorangetrieben.

Warum streben selbst Politiker an, sich letztendlich dieser allumfassenden Überwachung zu unterwerfen? Gerade und insbesondere Politiker haben doch ein extremes Interesse daran geheim zu halten, was sie tun und vorhaben, mit wem sie sich treffen, was sie besprechen und so weiter. Warum sollten ausgerechnet diese Politiker eine Überwachung forcieren, die letzten Endes ihren eigenen Interessen widerspricht? Als Bürger ihres Landes stehen sie ja gerade wegen ihres Amtes und ihrer Funktion nicht außerhalb von Recht und Gesetz, sondern unterliegen im Gegenteil sehr viel häufiger noch sehr viel umfangreicheren Kontrollen und Überwachungen.

Warum sollten sich dann ausgerechnet diese Politiker ins eigene Fleisch schneiden? Trotz aller die Überwachung vereinfachenden Gesetzgebungen, die im Laufe der letzten Jahre geschaffen wurden, findet sich dort nirgends eine Ausnahmeregelung, die Politiker von eben jener Überwachung ausschließt oder sie vor dem Auswerten und Benutzen der durch diese Überwachungen gewonnen Informationen schützt. Im Gegenteil. Die Ausnahmen der von der Überwachung ausgeschlossenen Personenkreise (Priester und Ärzte z. B.) wurden sogar noch deutlich reduziert.

Um sich der Frage nach dem "Warum?" nähern zu können, muss man zunächst verstehen, woraus sich ein Staat zusammensetzt und was ihn zusammenhält. Nach der klassischen Definition besteht ein Staat aus drei Elementen: einem Volk (Staatsvolk), eine Territorium (Staatsgebiet) und einer Regierung (Staatsgewalt). Diese Definition geht auf Machiavelli zurück und wurde erstmals in seinem Werk "Il Principe" formuliert. Regierung und Bevölkerung bilden zusammen die Gesellschaft. Die Regierung entsteht zwangsläufig aus derjenigen Bevölkerung, der sie vorsteht und kann nur in der erfolgreichen Interaktion mit ihr existieren. Geht diese erfolgreiche Interaktion verloren, geht die Regierung unter, siehe z. B. Französische Revolution.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht aus dem Innern der Gesellschaft heraus. Es finden solidarische und partizipatorische Prozesse statt, aus denen Konsens über gesellschaftliche Normen entsteht, welcher durch Mechanismen der sozialen Kontrolle durchgesetzt wird. Diese in der Gesellschaft geltenden Werte und Normen werden aber nur zum Teil in Form von Gesetzen manifestiert.

Viele gesellschaftliche Normen finden sich in keinem einzigen Gesetz wieder und werden als Idee, als Moralvorstellung innerhalb der Gesellschaft kommuniziert und angewendet. Beispiele dafür mögen Benimmregeln sein oder auch religiöse Ansichten, deren Einhalten und Missachten zwar weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen haben, aber nicht unbedingt in Form eines Gesetzes irgendwo nachzuschlagen sind. Wo zum Beispiel ist in Deutschland das Gesetz zu finden, dass vorschreibt, dass Menschen, die sich begegnen, einander Begrüßen müssen? Ein solches Gesetz gibt es nicht, trotzdem ist dieses Verhalten gesellschaftlich verankert und das Missachten dieser gesellschaftlichen Norm hat weitreichende praktische Konsequenzen, wie jeder leicht im Selbstversuch nachvollziehen kann.

Die Veränderung der Welt, der globalen Zusammenhänge, der Arbeitswelt, der Kommunikation, der Vorstellungen, Werte, Ziele und nicht zuletzt der technologische Fortschritt führen zu einer Zersplitterung der individuellen Ansichten. Je individueller die Ansichten über geltende Werte und Normen, desto kleiner der gemeinsame Nenner, über den überhaupt gesellschaftlicher Konsens bestehen kann. Ein Beispiel dafür mag die zunehmend Verbreitung findende Vorstellung sein, dass die Straßenverkehrsordnung lediglich eine Empfehlung ist, aber nicht verbindlich ist, erst Recht dann nicht, wenn sie einem selber gerade nicht in den Kram passt. (Stichwort "eingebaute Vorfahrt", "diese Fahrspur gehört mir", "warum soll ich blinken, ich weiß doch wo ich hin will und die anderen sehen das dann schon" usw.)

Konsens über gesellschaftliche Normen bedeutet, dass die Gesellschaft über integrative Kräfte verfügt, welche diese verbindlich machen. Wie eben gezeigt ist der Verlust der Homogenität innerhalb der Gesellschaft offensichtlich. In der Soziologie wird diese Entwicklung darauf zurückgeführt, dass an die Stelle von Konvention und Tradition die Selbständigkeit des Handelns und der Ausdruck einer pluralisierten Lebensform treten (Anthony Giddens). Daraus erfolge, so die These, ein Verfall zivilisatorischer Regeln der Begegnung der Mitglieder der Gesellschaft im öffentlichen Raum. Die Gründe für den Verlust sozialer Normgefüge liegen in Prozessen der sozialen und gesellschaftlichen Desintegration.

Sozioökonomische Polarisierung und soziokulturelle Heterogenisierung führen zu einer Vergrößerung der sozialen Distanz zwischen den Individuen. Der sozialen Polarisierung können auch der Verfall zivilisatorischer Regeln für die Nutzung des öffentlichen Raums zugeschrieben werden. Notlagen wie Arbeitslosigkeit, unzureichende Wohnverhältnisse oder biographische Perspektivlosigkeit bedeuten Ausschluss aus einer auf Wohlstand und Konsum fixierten Gesellschaft. In der Soziologie versteht man diese (eher negative) Sichtweise unter der Theorie des Kommunitarismus.

Wenn der gesellschaftlich akzeptierte Rahmen von Werten und Normen jedoch erodiert und letztendlich durch die Gesellschaft selber nicht mehr getragen wird, dann fällt die Gesellschaft auseinander, denn es fehlt der Gesellschaft genau das, was eine Gesellschaft im Innern zusammen hält. Eine Gesellschaft, eine Nation, ein Volk, definiert sich letztendlich durch eine gemeinsame Idee, ein Konzept, wie auch der Begriff einer Nation, eines Volkes letztendlich auch nur eine Idee, ein Konzept ist. Ohne diese gemeinsame Idee fällt die Gesellschaft auseinander und verwandelt sich in eine Gruppe zusammenhangsloser Individuen mit eigenen Wertevorstellungen, die in keinerlei Relation oder Bezug zu den anderen sie umgebenden Individuen stehen.

Die Soziologin und Moralforscherin Gertrud Nunner-Winkler brachte das in "Zurück zu Durckheim?" auf den Punkt: "In dem Maß, in dem sich die Bindungen der Menschen an kulturell vorgeschriebenen Ziele oder zugelassene Mittel abschwächen, resultiert Ungewissheit über die Substanz und die Legitimität von Normen in sozialen Interaktionen, resultieren abweichendes Verhalten und Delinquenz, kurz, die Gesellschaft zerfällt."

Am Ende dieses Zerfalls steht die Anarchie, hat in der hier gemeinten Form jedoch nichts mit jener ideologisch verklärten Gesellschaftsutopie zu tun, die von weit links außen immer wieder als vermeintliches Ideal einer Gesellschaft propagiert wird. In Abgrenzung zu jenem Ideal der linksextremen (politischen) Utopie gibt es in der sich durch bezugslos agierenden Individuen geprägten Anarchie nämlich kein gemeinsames gesellschaftliches Ziel, keinen alle verbindenden Überbau, sondern es gelten für jedes Individuum ausschließlich die eigenen Interessen als Maßstab, Motivation und Rechtfertigung. Die unmittelbare Folge sind das Recht des Stärkeren und andere wenig erstrebenswerte Konsequenzen, die bis hin zur Sklaverei und der Aufhebung der Menschen- und Bürgerrechte reichen. Insgesamt ein wenig erstrebenswerter Zustand, der, wenn er eingetreten ist, nicht weniger bedeutet, als den Untergang der Gesellschaft und damit das Ende der Existenz des davon betroffenen Staates. Die Situation in Afghanistan um 2000 / 2001 herum mag als ungefähres bildhaftes Beispiel dienen.

Eine andere Theorie der Soziologie besagt, dass der Prozess der Individualisierung nicht zwangsläufig den eben beschriebenen, negativen Weg einschlagen muss. Der prozedurale Liberalismus erklärt die Treue des Bürgers durch ein aufgeklärtes Selbstverständnis. Mit anderen Worten: Je stärker das einzelne Mitglied der Gesellschaft aufgeklärt ist, desto stärker wird sich dieses Individuum an den Werten und Normen der ihn umgebenden Gesellschaft halten, weil es deren Richtigkeit erkennt und begreift. Kommunitarismus und prozeduraler Liberalismus sind in der Soziologie heftig umstrittene Theorien über die Gesellschaft der Zukunft und es besteht massiver Dissens darüber, inwieweit Individualität auch positiv gewertet werden kann und wie soziale Kontrolle in einer von Desintegrationsprozessen betroffenen Gesellschaft überhaupt funktionieren kann.

Unabhängig von der wissenschaftlichen Diskussion muss es aber immer das oberste Ziel eines jeden Staates sein, seinen eigenen Bestand, sein eigenes Überleben zu sichern. Wenn der Verlust eines gemeinsamen Wertesystems am Ende den Zusammenbruch der Gesellschaft bedeuten KANN, dann muss der Staat zwangsläufig dafür sorgen, dass das bestehende Wertesystem in der Gesellschaft Beachtung findet, denn kein Staat kann sich das Glücksspiel leisten darauf zu hoffen, dass schon das bessere Ergebnis eintreten wird, insbesondere dann nicht, wenn die beobachtbare Realität eher befürchten lässt, dass die negativen Folgen die positiven bei weitem überwiegen werden.

Was hat das aber mit dem scheinbaren Ausufern staatlicher Überwachung des einzelnen Bürgers und seiner zunehmenden Beschneidung seiner Grundrechte zu tun?

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer sagt in "Was hält die Gesellschaft zusammen?": "Gleichwohl muss nachlassende Integrationskraft nicht zu einer Instabilität der Gesellschaft führen, solange ein offen repressiver und in Zukunft hochtechnisierter, ‚sanft' erscheinender Machtapparat die zunehmend isolierten und kaum noch zu dauerhaften Gruppenbildungen anzuhaltenden Menschen in Schach halten, monetär befriedigen und gruppenspezifisch ausgrenzen kann."

Integration und Desintegration sind die Mechanismen, auf die der Staat einwirken muss. Diese Einflussnahme muss zwangsläufig über staatliche (institutionalisierte) Mechanismen geschehen, da die Gesellschaft in Folge der gesellschaftlichen Desintegrationsprozesse in zunehmend geringerem Maße über die die Möglichkeit gesellschaftlicher Selbstkontrolle verfügt. Je weniger Konsens über gesellschaftliche Normen besteht, desto geringer die Möglichkeiten der Gesellschaft die Einhaltung eben dieser Normen zu erzwingen.

Die Realität der Erosion gesellschaftlicher Normen ist belegbar. Es ist davon auszugehen, dass dieser Prozess noch weiter zunehmen wird. Daraus folgt, dass der Staat eingreifen muss. Daraus folgt, dass der Umfang und der faktische Bedarf an sozialer Kontrolle in Folge der weiterhin zunehmenden gesellschaftlichen Desintegration und Individualisierung zunehmen wird. Der technische Fortschritt ermöglicht es, dass diese Kontrolle rationalisiert werden wird, wie dies auch in der industriellen Produktion zu beobachten ist. Demzufolge wird der Einsatz der technischen Möglichkeiten des Staates seine Bürger dahingehend zu überwachen, dass sie die gesellschaftlich verbindlichen Normen auch einhalten, im Laufe der Zeit technisch einfacher und billiger werden.

Die Beachtung gesellschaftlicher Normen ist von verschiedenen individuellen Beweggründen abhängig, zum Beispiel der Achtung einer Autorität, oder der Einsicht ihrer Richtigkeit, aber auch der Angst vor Strafe. Gerade der letztgenannte Effekt lässt sich leicht ausnutzen und wird durch den technologischen Fortschritt stark begünstigt, denn durch verbesserte Kontrollmöglichkeiten kann ein präventiver Disziplinareffekt erzielt werden.

Die massenhafte (technologisierte) Überwachung des Individuums findet sich in zwei klassischen Werken vorweggenommen. Focault interpretierte das Panoptikums von Bentham ("Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses"), George Orwell konstruierte in seinem dystopischen "1984" einen totalitären Überwachungsstaat.

Nach Focault verändert die Disziplinargesellschaft die grundlegende Funktionsweise der (staatlichen) Macht: "Die traditionelle Macht ist diejenige, die sich sehen lässt, die sich zeigt, die sich kundtut und die die Quelle ihrer Macht gerade in Bewegung ihrer Äußerung findet. (...) Die Disziplinarmacht setzt sich durch, indem sie sich unsichtbar macht, während sie den, von ihr Unterworfenen, die Sichtbarkeit aufzwingt." Der Beobachtende wird unsichtbar, der Beobachtete wird (permanent) sichtbar.

Focault beschreibt, dass sich gegen Ende des klassischen Zeitalters die Normalisierung zu einem großen Machtinstrument entwickelte. Das Durchsetzen der Disziplin verhilft der Macht, der Norm, zum Durchbruch. Über die Disziplinierung wird das Einhalten von Normen (Gesetzen) gewährleistet. Diese Entwicklung erwartet Focault durch die Entwicklung von disziplinierenden Kasernen, aber auch in der Kindererziehung und in Gefängnissen. Die Disziplin als Instrument der Normierung einer Gesellschaft (d. h. ihrer Normalisierung) führt zu neuen Ideen ihrer Überwachung. Focault: "Eine lichtscheue Kunst des Lichtes in der Sichtbarkeit hat unbemerkt in den Unterwerfungstechniken und Ausnutzungsverfahren ein neues Wissen über den Menschen aufgebaut."

Das totalitaristische Überwachungsregime, das von Orwell im dystopischen "1984" beschrieben wird, bedient sich der Techniken eben jener unsichtbaren Überwachung, die bereits Focault beschrieb. Bei der von Orwell beschriebenen disziplinierenden Gewalt handelt es sich nicht um eine triumphierende Gewalt, wie sie z. B. bei den Herrschern des Mittelalters zu beobachten war, sondern um eine im Vergleich dazu bescheidene und misstrauische Gewalt. Sie behandelt Individuen als Objekte. Die Disziplinierung verfestigt Individuen und bestraft Verstöße gegen Normen.

Bemerkenswert ist, dass bei Orwell nicht mehr der Akt des Bestrafens an sich das Hauptwerkzeug der Machtausübung ist, sondern die dem vorausgehende Verhaltenskontrolle. Das lückenlose Strafsystem wirkt normend, normierend und normalisierend. Der technische und systemische Erfolg der Disziplinarmacht wird bei Orwell durch vergleichsweise einfache Mittel erreicht: Das Einrichten eines hierarchischen Blicks, die normierende Sanktion, die Kombination im Verfahren der Prüfung. Die "Prüfung" verändert bei Orwell das Verhältnis der Sichtbarkeit. Das Durchsetzen des Einhaltens der Normen wird durch die Einrichtung des "prüfenden Blicks" erreicht. Je besser und umfassender das das einzelne Mitglied der Gesellschaft (Orwell: "das Objekt") sichtbar ist, desto besser funktioniert die Kontrolle. Je unsichtbarer der Kontrollierende ist, desto einschüchternder funktioniert die Disziplinierung.

Focault beschreibt die räumliche Umsetzung des "prüfenden Blicks" mit dem Panoptikum. Das Panoptikum wurde von J. Bentham bereits 1791 entwickelt. Das Panoptikum ist ein "ideales" Gefängnisgebäude, das ringförmig um einen Turm in seiner Mitte herum konstruiert ist. Das Gebäude ist in einzelne Zellen unterteilt, die sich vom Turm aus jederzeit unbemerkt und vollständig einsehen lassen. Das Panoptikum trennt Sehen und Gesehen werden: Der Überwachte sieht den Überwachenden nicht mehr. Gleichzeitig wird die permanente Möglichkeit der verdeckten und vollständigen Überwachung persönlichen Handelns technisch realisierbar konstruiert.

Das Prinzip der Macht beruht sowohl bei Orwell als auch bei Focault auf der Sichtbarkeit der Macht bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit der Herrschaft. Beide schaffen Mechanismen, die ständige Optionen des Eingreifens, der faktischen und körperlichen Machtausübung schaffen, die den ihr Unterworfenen bewusst sind. Durch dieses Bewusstsein übernimmt der Überwachte selbst die Zwangsmittel der Macht und wendet sie gegen sich selber an. Der Überwachte wird so zu seinem eigenen Überwacher.

Die reine Möglichkeit der permanenten Überwachung führt beim Überwachten dazu, dass der die Dominanz des Überwachers dauerhaft internalisiert. Für den Überwacher bedeutet das auf der anderen Seite, dass die tatsächliche Überwachung gar nicht mehr ständig stattfinden muss. Die reine Möglichkeit der permanenten Überwachung macht das überwachte Subjekt unmittelbar zum Teil des Herrschaftsapparates.

Grenzen der Disziplinierung der Überwachten ergeben sich allerdings aus dem Versagen der Reaktion und dem Nichtfolgen von Konsequenzen auf deviantes Verhalten seitens der Überwachenden. Die Dominanz des Überwachers wird dadurch nachhaltig in Frage gestellt und dadurch die Wirksamkeit des Konzepts der Überwachung zum Erzwingen des Einhaltens von Regeln unterwandert. In England zeigte sich, dass der präventive Erfolg der flächendeckenden Videoüberwachung durch CCTV-Systeme im Laufe der Zeit deutlich nachgelassen hat, weil immer öfter unmittelbare Sanktionen ausblieben.

Demokratische Gesellschaften definieren Regeln, die der Überwachung Grenzen auferlegen und dem Individuum Rechte einräumen, die durch die Überwachung nicht verletzt werden dürfen. In Deutschland zum Beispiel das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung und das Briefgeheimnis. Da die Regeln der Überwachung in Demokratien durch demokratisch gewählte Regierungen geschaffen werden, haben es letztendlich die (zukünftig) Überwachten in der Hand, wo sie die Grenzen der erlaubten staatlichen Überwachung ziehen wollen. Solange der Prozess demokratischer Meinungsbildung funktioniert, funktioniert auch die Kontrolle des Kontrolleurs. Wenn sich allerdings die Überwacher dem demokratischen Prozess entziehen, werden Missbrauchsängsten und dystopischen Visionen reale Existenzgrundlagen gegeben, die ihrerseits sehr wahrscheinlich zu einem schwerwiegenden Bruch zwischen Bevölkerung (den Überwachten) und der Regierung (den Überwachenden) führen, weil das demokratische Prinzip in Frage gestellt ist.

Andererseits drückt das Erlauben einer umfassenden Überwachung der Gesellschaft durch den Staat ein hohes Maß an Vertrauen des Bürgers an seine Machthaber aus, was wiederum ein starkes Indiz für eine stabile Gesellschaft sein kann. Paradoxerweise setzt dieses Vertrauen seitens der überwachten Gesellschaft in seine Regierung zwangsläufig ein deutliches Misstrauen eben jener Regierenden gegenüber denjenigen voraus, die ihnen so viel Vertrauen entgegen bringen: Die tatsächliche Überwachung ist Manifestation eben jenes Misstrauens. Auf Deutschland bezogen ergeben sich hier besonders Probleme durch die im Grundgesetz garantierte Unschuldsvermutung gegenüber dem Bürger, denn die staatliche Überwachung verletzt diese Unschuldsvermutung zwangsläufig. Die Notwendigkeit dieser Beschneidung der Grundrechte ist allerdings sowohl hoheitlich als auch gesellschaftlich begründbar.

Focault beschreibt zwei Prinzipien sozialer Kontrolle, die auf zwei traditionellen Idealen der Gesellschaft beruhen. Systemisch lässt sich die technische Überwachung (z. B. CCTV, aber auch das protokollieren der Bewegungen im Internet u. a.) diesen Prinzipien zuordnen. Der von ihm entwickelte Panoptismus instrumentalisiert Integration und Exklusion, die Bestrafung als Folge des Normenverstoßes sichert das Funktionieren. Überwachung wirkt dann (wie oben erklärt) präventiv und damit integrativ, wenn sie Fehlverhalten verhindert, denn dann integrieren sich die Subjekte der Gesellschaft, indem sie die Gültigkeit der Normen und deren Einhaltung verinnerlichen.

Dies hat unmittelbar zur Folge, dass der Zugang zur (durch die Überwachung gewonnenen) Information unmittelbarer Ausdruck von Macht wird, wodurch sich wiederum die Gesellschaft von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft wandelt. Andererseits wirkt die Überwachung exklusiv (im Sinne von ausschließend, ausgrenzend), wenn sie der Identifikation von Normverstößen und der Selektion von Tätern dient, um diese im Anschluss von der Gesellschaft zu trennen.

Rechtstheoretisch ist dieser Ansatz durchaus behaviouristisch (und deshalb nicht unproblematisch), denn nicht die Ursache von deviantem Verhalten (Verbrechen) ist relevant, sondern das Management von Überwachung und Sanktion. Es geht nicht darum, Personen zu verändern, sondern um das Beeinflussen von Verhaltensabfolgen. Daraus ergeben sich wiederum andere, weitreichende Fragestellungen für die Gesellschaft, denen diese sich stellen muss, wenn die Gesellschaft nicht Gefahr laufen will, sich selbst die soziale Legitimation ihres Handelns zu entziehen, denn die Überwachung ist ein hoheitlicher Eingriff in das Kontrollgefüge der Gesellschaft, durch die ein hohes Maß an Machtkonzentration erzielt wird.

Auch durch die Gestaltung sozialer Räume kann soziale Kontrolle ausgeübt werden, ohne dabei ein Machtmonopol in Anspruch nehmen zu müssen. Soziale Räume sind dabei nicht zu verwechseln mit zum Beispiel Räumen in einem Haus oder Plätzen. Die Soziologie versteht unter dem Begriff des sozialen Raumes ein relationales Gebilde, das nicht unbedingt an eine Örtlichkeit gebunden sein muss (aber durchaus sein kann). Soziale Räume entstehen aus der Interaktion von Subjekten in diesem relationalen Raum. Soziale Räume sind diejenige Bühne, auf der soziales Handeln stattfindet. Sie sind konzeptionelle Behältnisse, in dem Subjekte handeln, und bestehen nur auf dieser Grundlage.

Kriminalität, die sich auf Objekte oder Subjekte bezieht (z. B. Sachbeschädigung oder Körperverletzung), finden überwiegend in solchen Räumen statt. Das subjektive Empfinden von Angst, das in dem Begriff "Angstraum" Ausdruck findet, ist räumlich konstituiert. Die Gestaltung von Räumen (im soziologischen Sinn) soll daher nicht etwa eine Veränderung sozialer Prozesse, wie systemische oder soziale Integration durch Raum (im territorialen Sinne) bewirken wollen, sondern das Potential der Interaktion unter der Hinnahme gesellschaftlicher Bedingungen ausnutzen. Das setzt allerdings voraus, dass auch diese sozialen Räume beobachtet werden. Diese Beobachtung soll dabei aber nicht etwa durch eine formelle oder technische Zugangskontrolle stattfinden, sondern durch eine Selbstkontrolle der im Raum handelnden Subjekte (informelle soziale Kontrolle). Soziale Räume werden aktiviert durch die ständige Präsenz von Akteuren. Diese wiederum aktivieren eine informelle soziale Kontrolle, sofern sie mit den anderen interagieren und bereit sind, unerwünschtes oder sogar kriminelles Handeln zu unterbinden.

Das kann entweder durch eigenes, unmittelbares Eingreifen oder durch das Anfordern hoheitlicher Autorität (z. B. Polizei) geschehen. Das Funktionieren dieses Prozesses bedeutet, dass die kommunikative Sozialintegration intakt ist. Dazu müssen die Akteure müssen allerdings am gesellschaftlichen Leben und sozialer Interaktion teilnehmen wollen und über ein Mindestmaß an gemeinsam akzeptierten Normen verfügen. Ist dies gegeben, wirkt ein mit dem panoptischen Blick vergleichbarer Mechanismus unter allen im sozialen Raum handelnden Subjekten. Die permanente Möglichkeit des Gesehenwerdens zusammen mit (faktischer) Autorität wirkt in dem Fall präventiv und erzwingt so Integration und Akzeptanz gesellschaftlicher Normen.

Da im gesellschaftlichen Raum die Autorität unmittelbar durch im Raum vertretene Subjekte ausgeübt wird, bedeutet die hier ausgeübte informelle soziale Kontrolle keinen hoheitlichen Eingriff in die Integrität des Individuums. Die informelle soziale Kontrolle wiederum ist eine inklusive (im Sinne von aufnehmend, integrierend) Strategie, die gerade im Wechselspiel mit Andersartigkeit sichere Verhältnisse ermöglichen kann. Die Prozesse der Individualisierung des gesellschaftlichen Wandels bedeuten daher nicht zwangsläufig, dass durch den Wandel von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft individuelle Eigenverantwortlichkeit verloren gehen muss. Vielmehr bietet dieser Wandel - zumindest theoretisch - die Möglichkeit, sowohl mit Individualität als auch mit kultureller Desintegration umzugehen, ohne sofort hoheitlich und exklusiv vorgehen zu müssen.

Insofern muss man die zunehmende Überwachung des Bürgers aus dem Kontext der gesellschaftlichen Gesamtstruktur heraus betrachten und verstehen, dass der gesellschaftliche Wandel zwangsläufig auch einen Wandel derjenigen Mechanismen mit sich bringen muss, der die Gesellschaft im Innern zusammen hält. Dies wird umso deutlicher, je mehr man im Alltag beobachten kann, wie althergebrachte Mechanismen unwirksam bleiben. Es muss allen Beteiligten klar sein, dass Überwachung alleine noch keine Sicherheit garantiert. Zusätzlich liegt eine große Schwäche der Überwachung durch Trennung des Zusammenhangs "sehen und gesehen werden" darin, dass nicht erkennbar ist, ob der Normenverstoß auch bemerkt wurde. Besonders dann, wenn man selber Opfer eines solchen Verstoßes (z. B. einer Straftat) wurde, ist das für das individuelle Sicherheitsempfinden sogar kontraproduktiv, wenn seitens der Überwachenden keine sichtbare Reaktion erfolgt.

Die Überwachenden müssen ihrerseits der allgegenwärtigen Überwachung durch ein umfassendes Reaktionssystem Rechnung tragen, wenn das System gesellschaftliche Akzeptanz finden soll (siehe Negativbeispiel der CCTV-Überwachung in England). Gleichzeitig darf die Ursachenforschung der Kriminalität und die Bekämpfung eben dieser Ursachen nicht vergessen werden. Überwachungssysteme einzuführen, bloß weil sie technisch machbar sind, führt nicht dazu, dass die Problemstellung der Kriminalitätsgeschehens weniger komplex wird. Auch dürfen solche Systeme nicht eingeführt werden, um andere Maßnahmen zu ersetzen oder um Personal einzusparen, denn das kann langfristig nicht erfolgreich sein. Darüber hinaus darf Überwachung nicht zu einer unnötig umfangreichen Kontrolle des Bürgers führen, denn die Privatsphäre des Einzelnen ist ein überaus wertvolles Rechtsgut, das nicht leichtfertig beschnitten werden darf.

Die Herausforderung für jeden einzelnen besteht darin, dass dieser Prozess des gesellschaftlichen Wandels maßgeblichen und unmittelbaren Einfluss auf ihn selbst hat und es deshalb im Interesse jedes Betroffenen liegen muss, diesen Wandel zu verstehen und sich an dessen Gestaltung zu beteiligen. Unsere Demokratie bietet dazu jede Menge Möglichkeiten. Man muss sie nur nutzen.

Mittwoch, 27. Januar 2010

Strategiewechsel

(Eines meiner Lieblingsthemen nutze ich als Testballon dafür, ob ich überhaupt noch schreiben kann. Der geneigte Leser möge mir stilistische Schwächen verzeihen. Ich bin etwas aus der Übung.)

Morgen, am 28.01.2010, beginnt die groß angekündigte Konferenz der an der ISAF beteiligten Staaten, Afghanistan und seiner Nachbarländer unter der Leitung des britischen Regierungschefs Gordon Brown und des UN Generalsekretärs Ban Ki-moon. Zusätzlich eingeladen wurden Repräsentanten der NATO, der EU und einiger anderer Organisationen, wie z. B. der Weltbank. Diese Konferenz nahm die Bundesregierung vor einiger Zeit zum Anlass, um ein neues, verändertes Engagement am Hindukusch zu verkünden. Wie zu erwarten war, stieß und stößt dies bei weiten Teilen der Bevölkerung Deutschlands auf wenig - um nicht zu sagen gar kein - Verständnis. Der Deutsche erwartet einen Rückzug, und zwar am besten gestern und keine Aufstockung der Truppen und erstrecht kein verstärktes militärisches Engagement. Was hat Deutschland schließlich da unten zu suchen?

In der heute vor dem Bundestag verkündeten Regierungserklärung zur neuen Afghanistanstrategie sagte die Bundeskanzlerin: "In London geht es also um nichts weniger als um eine Weichenstellung." Was die Bundeskanzlerin nicht sagte, war, worin diese "Weichenstellung" bestehen wird und auf welche Themenbereiche sich die Debatte erstrecken wird. Sie sagte nämlich unter anderem ausdrücklich nicht, dass auf dieser Konferenz das militärische Vorgehen, die Strategie, nicht diskutiert werden wird. Über diese neue militärische Strategie besteht nämlich zwischen den Führern der NATO und den zivilen Regierungen längst Konsens.

Diese "neue militärische Strategie" ist die im August / September letzten Jahres vorgestellte Strategie von General Stanley McChrystal, dem derzeit kommandierenden Befehlshaber der US-Streitkräfte in Afghanistan. Diese neue Strategie unterscheidet sich von den bis dato favorisierten Herangehensweisen in mehreren Punkten dermaßen fundamental, dass man getrost von einem Paradigmenwechsel sprechen kann. In den bisher angewandten Strategien ging es um einen militärischen Einsatz, der die Aufständischen in Afghanistan im Prinzip als militärischen Gegner im klassischen Sinne behandelte. Einen solchen Gegner gilt es (unter anderem) durch harte und gezielte militärische Schläge zu besiegen und aus den von ihm gehaltenen Gebieten zu verdrängen. So gesehen stellte man sich einen Einsatz ähnlich wie den im Irak vor, nur eben etwas anders.

Zurückblickend betrachtet war das aus vielen Gründen eine schlechte Idee. Es gab eine Menge Fehler zu begehen und ich bin mir ziemlich sicher, dass die in Afghanistan operierenden Kräfte mit wenigen Ausnahmen so ziemlich jeden Fehler in der einen oder anderen Form begangen haben, der irgendwie zu begehen war. Zwar hat man gemessen an der Zahl der getöteten Feinde und der zumindest zeitweise eroberten Gebiete nach der alten Strategie aus rein militärischer Sicht durchaus Erfolge erzielt. Aber diese Erfolge hatten mehrere schwerwiegende Schwächen und Fehler:

Fast alle diese Erfolge waren vorübergehender Natur. Viele der militärisch eroberten Gebiete fielen früher oder später an die Aufständischen zurück. Die getöteten Feinde scheinen trotz ihrer schieren Masse die Aufständischen zwar zu schwächen, aber ihr Engagement beeinträchtigte das wenig, geschweige denn gelang es, sie von eigenen fortwährenden Erfolgen abzuhalten. Zusätzlich wurden die zur Befreiung Afghanistans eingesetzten Streitkräfte zunehmend in Afghanistan selbst, aber besonders auch im Ausland, als Besatzer empfunden, was auch in aller Deutlichkeit auch von den Aufständischen kommuniziert und von den Medien bei jeder sich bietenden Gelegenheit verbreitet wurde.

In Deutschland wurde die Öffentlichkeit nahezu ausschließlich durch die Medien darüber informiert, was in Afghanistan "tatsächlich" los ist. Bei der Berichterstattung haben sich nicht viele Korrespondenten und Medienvertreter Attribute wie "unvoreingenommen" oder "objektiv" verdient. Die Politik wiederum hatte und hat noch immer deutlich Angst davor, sich dem Thema und der zwangsläufig damit verbundenen öffentlichen Diskussion zu stellen. Dies mag dem hierzulande in der politischen Kaste inzwischen immer mehr als erfolgreich identifizierten Diktum des "Erfolgs durch Abwarten" geschuldet sein, hat aber auch komplexe und komplizierte Ursachen und Wechselwirkungen in der gesellschaftlichen Struktur und unserer eigenen Geschichte. Ganz knapp zusammengefasst wird das Thema "Militär und Deutschland" dem Deutschen von Kindesbeinen an als ein Thema vermittelt, dass eigentlich nicht sein kann, weil es nicht sein darf, aber trotzdem sein muss - allerdings ohne so richtig zu erklären, warum. Es wird berechtigt auf die Zeit von '33-'45 verwiesen und immer wieder betont, dass "so etwas" nie wieder sein darf.

Was dabei allerdings nicht oder zumindest nicht verständlich bzw. begreifbar vermittelt wird, ist die Tatsache, dass sich die Welt und damit zwangsläufig auch Deutschland seit jener Zeit drastisch verändert haben und dass das Deutschland von heute nicht nur nicht mehr das Deutschland von 1945 ist. Damit aber nicht genug. In den Köpfen der großen Mehrheit der Bevölkerung herrscht noch immer der Glaube, dass Deutschland in der Welt von heute ja noch immer bloß die Rolle des von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs aufgepäppelten und am Leben gehaltenen Besiegten ist, der international aber nichts zu melden hat. Es wird sorgfältig vermieden, diesen Irrtum auszuräumen und der Bevölkerung zu vermitteln, wer wir inzwischen geworden sind und welche Rolle wir tatsächlich in der Welt spielen - ob gewollt oder erzwungen ist eine andere Frage. Salopp formuliert wird vermieden, dass "der Deutsche" stolz auf Deutschland sein (oder werden) könnte. Über die Gründe dafür darf man spekulieren.

Deutschlands Rolle in der Welt macht es unabdingbar, dass wir uns internationalen Aufgaben stellen müssen und unseren Teil dazu beitragen. Das in Afghanistan herrschende Regime wurde 2001 als internationale Bedrohung erkannt. Neben der desolaten Lage der Bevölkerung war das Kernproblem der von diesem Land ausgehende Terrorismus, maßgeblich finanziert u.a. durch Drogenhandel und Schmuggel, der im 11. September seinen Höhepunkt fand. Eine politische Lösung des Problems war unmöglich, da die Machthaber in Afghanistan nicht willens waren, eine andere politische Lösung herbeizuführen. Die USA begannen am 7. Oktober 2001 mit der Invasion Afghanistans (Operation Enduring Freedom), die nicht durch den Weltsicherheitsrat sanktioniert war. Erst Ende 2001 wurde durch den Weltsicherheitsrat der ISAF ein Mandat gegeben.

Dieses anfänglich eigenmächtige und umstrittene Handeln der USA gilt noch heute vielen Gegnern des Afghanistaneinsatzes als Primat: Weil der erste Angriff der USA nicht vom Weltsicherheitsrat genehmigt war, war er illegal und damit sind auch alle sich daran anschließenden oder diesen Angriff flankierende Einsätze illegal. Unter Hinweis auf (u.a.) das ISAF-Mandat möchte ich darauf verzichten, diese Sichtweise weiter zu diskutieren. Das ist an anderer Stelle bereits ausreichend geschehen und wer noch immer der Meinung ist, der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sei "illegal", der glaubt wahrscheinlich auch an den Erfolg des Marxismus-Leninismus unter Führung eines sozialistischen Russlands oder den Weihnachtsmann.

Eben aufgrund seiner tatsächlichen - und nicht der von der Bevölkerung gefühlten - Position und der damit verbundenen Rolle in der Welt, blieb Deutschland gar nichts anderes übrig, als sich an der ISAF zu beteiligen. Hätte sich Deutschland dem verwehrt, wäre der außenpolitische Schaden katastrophal gewesen und die Folgen nur schwer abschätzbar. Deutschland hätte sich durch ein Sperren gegen die Beteiligung international endgültig aufs Abstellgleis begeben und wäre fortan nicht mehr als Staat mit weltweitem Führungsanspruch, geschweige denn Mitspracherecht, akzeptiert worden. Andererseits wäre eine passive Beteiligung, z. B. durch rein finanzielle und logistische Mittel, durch die übrigen an der ISAF beteiligten Staaten nicht akzeptiert worden, was diese mehrfach und in aller Deutlichkeit klar machten. So gesehen hatte Deutschland keine echte Alternative, als sich aktiv am ISAF-Einsatz zu beteiligen.

Ein gravierender Fehler war allerdings der Bevölkerung Deutschlands den Einsatz nicht als das zu präsentieren, was er tatsächlich war und ist. Die politischen Führer aller Parteien gaben sich alle erdenkliche Mühe, der Bevölkerung den Einsatz in Afghanistan als "humanitären Wiederaufbau" zu verkaufen und verschwiegen dabei die tatsächliche Lage vor Ort. Unvergessen das Lavieren um das Wort "Krieg". Als im Laufe der Zeit durch ausländische Medien, nicht zuletzt aber auch durch den überaus beklagenswerten Tod von inzwischen mindestens 36 Bundeswehrsoldaten, auch in Deutschland immer mehr die Erkenntnis reifte, dass da in Afghanistan wohl doch etwas ganz Anderes am Kochen war, als man uns hierzulande verkaufen wollte, geriet die Politik in eine gefährliche Defensive.

Das Argument "die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigen" zu wollen (Peter Struck), war zwar von der Sache her zwar richtig, denn immerhin ging (und geht noch immer) von Afghanistan (und Umgebung) ein nicht geringer Teil des internationalen Terrorismus und Drogenhandels aus, der auch Deutschland bedroht. Allerdings nahm dieses Argument inzwischen kaum noch jemand für voll, denn es fehlte der argumentative und bedingungslos ehrliche Unterbau, den man nicht von jetzt auf gleich nachliefern konnte, ohne sich bis auf die Knochen zu blamieren und gegenüber dem Wähler als vollkommen unglaubwürdig zu präsentieren. Dazu hatte man in der Vergangenheit zu viel verschwiegen, verschleiert und beschönigt.

Einerseits wusste man unter den Entscheidungsträgern ganz genau, dass die Berichte aus dem Ausland über die Situation in Afghanistan überwiegend stimmten, andererseits wusste man aber auch, dass diese Berichte weit überwiegend nur (bestenfalls) die halbe (traurige) Wahrheit verkündeten. Der ganze Umfang des Dramas wurde nur nach und nach und das weit überwiegend auch nur durch ausländische Berichterstattung deutlich und hat sich in Deutschland bis heute noch lange nicht bei allen herumgesprochen. Die Folge ist eine durchaus verständliche Abneigung der Bevölkerung Deutschlands gegen den Einsatz, die zu einem nicht geringen Teil damit zu tun hat, dass die Bevölkerung der politischen Führung schlicht und ergreifend nicht (mehr) glaubt, was diese zum Thema Afghanistan von sich gibt. Selbst wenn eben jene Politiker zu (für deutsche Verhältnisse) teilweise erstaunlichen Zugeständnissen und Offenbarungen bereit sind, ändert das nur wenig an der öffentlichen Meinung.

Die Crux ist, dass Deutschland sich nicht von heute auf morgen aus Afghanistan zurückziehen kann. Deutschland ist verbindlich internationale Verpflichtungen eingegangen und hat seine Beteiligung am ISAF-Mandat gegenüber dem Weltsicherheitsrat (und damit letztendlich gegenüber der gesamten Welt) zugesichert. Ein sofortiger Abbruch der Mission bedeutet nicht weniger, als gegenüber dem Weltsicherheitsrat und den übrigen an der ISAF beteiligten Staaten vertragsbrüchig zu werden. Die Folgen dürften nicht weniger dramatisch sein als diejenigen, wenn Deutschland sich gar nicht erst am Einsatz beteiligt hätte. Diese Forderung, so verständlich sie auch im Kontext der Gegebenheiten in Deutschland ist, ist zwar moralisch und ideologisch nachvollziehbar, aber illusorisch.

Inzwischen hat man - was viele für unmöglich halten - eine Menge über Afghanistan und den Einsatz dort gelernt. Sozialwissenschaftler, Anthropologen, Historiker und Militärs haben meterweise Analysen, Essays und Erfahrungsberichte über Afghanistan und die komplizierten Verflechtungen innerhalb der Bevölkerung, Auswirkungen der militärischen Operationen, die Taliban und viele andere damit verwandte Themen verfasst. Zu meiner nicht geringen Verwunderung wurden die offensichtlich sogar von irgendwem gelesen, dem man zuhört. Die Folge der Erkenntnisse ist im Endeffekt die oben erwähnte neue Strategie McCrystals. Der Hauptunterschied zur bisherigen Strategie besteht darin, dass der militärische Einsatz jetzt den Schwerpunkt hat, die Bevölkerung zu schützen und den Wiederaufbau überhaupt erst zu ermöglichen, statt wie bisher "die Taliban" besiegen und nebenher das Land wieder aufzubauen zu wollen. Das mag sich nach einem unwichtigen Detail anhören, aber wer sich das Strategiepapier durchgelesen hat und das mit dem bisher (bekannten) Vorgehen vergleicht, wird auf den ersten Blick eine Vielzahl erheblicher Unterschiede sehen.

Auch diese Strategie hat ihre Schwächen. Das Kernproblem dieser Strategie ist jedoch nicht, dass sie nicht funktionieren kann, sondern dass sie voraussetzt, dass der Einsatz auf Nachhaltigkeit und Nähe zur Bevölkerung ausgerichtet ist und parallel dazu ein Fundament geschaffen werden soll, auf dem in Afghanistan überhaupt ein funktionierender Staat entstehen kann. Das impliziert mindestens drei Schwierigkeiten. Erstens wird dieser Ansatz Zeit in Anspruch nehmen. Niemand kann vorhersagen, wie viel Zeit dieser Ansatz brauchen wird. Zweitens wird dieser Ansatz teuer werden. Finanziell wie materiell ist der Einsatz in Afghanistan chronisch knapp gehalten. Gemessen an der Größe des Landes ist das, was die meisten beteiligten Nationen bisher dazu beigetragen haben, bei nüchterner Betrachtung bestenfalls halbherzig zu nennen. Außerdem - und das wird besonders in Deutschland ganz große Probleme verursachen - gilt der bisherige Einsatz der Truppen mit dem Primat der "Force Protection" als kontraproduktiv. Das bedeutet, dass die Truppen raus müssen aus ihren Panzerwagen und ihren Stellungen und 'ran müssen an das Volk und rein in die Problemzonen. Das dritte Problem ist, das trotz allem Engagements nicht garantiert ist, dass das Ganze am Ende auch Erfolg hat, wenn man dem Ansatz nicht genügend Zeit einräumt.

Alle drei Probleme dürften in Deutschland erhebliche Diskussionen und Widerstände auslösen. Geld haben wir gerade nicht so dicke und angesichts der lokalen finanziellen Probleme sieht kaum jemand ein, warum man Geld am anderen Ende der Welt für einen Einsatz ausgeben sollte, den sowieso niemand will. Zeit haben wir erstrecht nicht. Die Opposition will den sofortigen Abzug aller Truppen (Linke), bzw. die Benennung eines festen Datums des Truppenabzugs (Grüne) oder zumindest das Festlegen auf ein festes Datum, wann der Abzug beginnt (SPD). Angesichts der gestellten Aufgabe können solche Forderungen nicht nur nicht produktiv sein, sondern werden erstrecht nicht realistisch zu beantworten sein. Die Spekulation auf ein Zeitfenster von fünf Jahren ist mit Sicherheit diesem Druck geschuldet, aber bestimmt nicht anhand harter Fakten belegbar und daher eher eine Hoffnung denn eine verbindliche Aussage.

Die Bundeswehr aus ihren Lagern hinaus ins Land zu schicken und dann auch noch auf gepanzerte Fahrzeuge (usw.) zu verzichten und dazu auch noch die Force Protection hintenan zu stellen, wird nicht wenigen erhebliches Kopfzerbrechen bereiten. Es ist abzusehen, dass zumindest in der Anfangsphase die Verluste deutlich ansteigen werden. Angesichts der überaus empfindlichen Gemütslage des Wählers in Deutschland dürfte man seitens der Politik vor dieser (notwendigen) Unvermeidbarkeit erhebliche Angst haben. Vor diesem Hintergrund der innenpolitischen Situation ist es überaus verständlich, dass die Begeisterung für eine Verstärkung und Ausweitung des Engagements bei gleichzeitiger Erhöhung des Risikos für die eingesetzten Soldaten seitens der Politiker in Deutschland äußerst begrenzt ist. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass immerhin eine Truppenaufstockung von zunächst 500 Soldaten und später weiteren 350 Soldaten im Bundestag mehr oder weniger im Eiltempo durchgewinkt wurde. Auch die finanzielle Beteiligung an einem von Japan geführten Fond, mit dessen Hilfe Afghanistan substantielle Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden, mag mit 50 Millionen Euro jährlich zwar "geringfügig" aussehen, aber man sollte auch nicht übersehen, dass außerdem auch ein Anheben der finanziellen Entwicklungshilfe von derzeit 220 Millionen auf 430 Millionen Euro vorgesehen ist. Angesichts der Haushaltslage ist das doch schon ein eine ganze Menge Geld, das zusätzlich zu den ohne Zweifel deutlich steigenden Kosten des Einsatzes aufgewendet wird.

Am Ende stellt sich die Frage, ob dieser Strategiewechsel überhaupt Erfolg haben kann und ob deshalb eine Verstärkung des Engagements in Afghanistan überhaupt sinnvoll ist. Die neue Herangehensweise an das Problem Afghanistan berücksichtigt nahezu alle Kritikpunkte, die am bisherigen Einsatz vorgebracht wurden. McCrystal stellt in seiner Strategie fest, dass ein militärischer Sieg klassischer Art in Afghanistan nicht möglich ist, es sei denn, man will seine Truppen in Afghanistan bis in alle Ewigkeit als Besatzungsmacht belassen. McCrystals Strategie betont, dass es die Aufgabe des Militärs sein muss, die Bevölkerung zu schützen und überhaupt die Möglichkeit zu schaffen, dauerhafte Erfolge zu erzielen. Seine Strategie fußt klar erkennbar auf Clausewitz Erkenntnis, dass das Militär nur Werkzeug der Politik sein kann, nicht umgekehrt. Deutlich erkennbar sind die aus der Beinahekatastrophe von Wanat (13. Juli 2008) gezogenen Lehren. Parallel zu diesem veränderten Vorgehen muss allerdings - und das ist neu - seitens der Staatengemeinschaft dafür gesorgt werden, dass sich in Afghanistan überhaupt so etwas wie eine zentralisierte Regierung mit der unmittelbar dazugehörenden juristischen und exekutiven Infrastruktur bilden kann. An dieser Stelle sind die Politiker, aber auch und besonders die NGOs gefordert.

Als nicht militärisch lösbare Probleme wurden nicht nur die Korruption und der Drogenhandel erkannt, sondern auch die überwiegend fehlende Gerichtsbarkeit und die praktisch nicht existente Durchsetzung verhängter Strafen. Welche Form eine zukünftige Regierung in Afghanistan haben wird, welche Strukturen und Gesetzgebungen sich die Afghanen selber geben, das können nur die Afghanen selber entscheiden. Diese Aufgabe kann und darf das Militär nicht übernehmen. Um das aber überhaupt tun zu können, brauchen die Afghanen erst einmal die Luft zum Atmen und den Freiraum, sich über solche Probleme überhaupt Gedanken machen zu können. Dieser Freiraum kann am Anfang nur durch das Militär geschaffen werden, denn der Gegenspieler, die Aufständischen, haben wenig Skrupel ihre Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen und zu verteidigen. Es ist vollkommen illusorisch davon auszugehen, dass z. B. das THW oder das DRK alleine durch seine Wiederaufbauarbeit dazu in der Lage wäre, die Gesamtsituation zu verändern, geschweige denn den Bestand des Erreichten zu sichern. Dazu ist die Situation viel zu gewalttätig und wird es auch noch einige Zeit bleiben. Singen, klatschen und im Kreis tanzen wird da wenig helfen. Eins ist klar: Die Aufständischen werden sicherlich nicht widerstandslos zusehen und von jetzt auf gleich wird sich die Lage auch nicht ändern.

So gesehen: McCrystals Strategie klingt auf dem Papier sehr erfolgversprechend. Die Frage ist, ob sie auch entsprechend umgesetzt werden kann und wird. Wenn er Recht hat - und meiner Meinung nach hat er das - dann steht am Ende des Einsatzes in der jetzt geplanten Form ein eigenständiger Staat Afghanistan, der zumindest dazu in der Lage ist, sich Schritt für Schritt selber zu entwickeln und zu Formen. Von innen heraus. Ohne aufgezwungene Regierung, sei es nun vom "Westen" oder durch die Taliban, oder die Warlords oder sonst wen. Macht es Sinn, diese Strategie zu unterstützen und den Einsatz fortzuführen? Ja. Ein Abbruch des Einsatzes wäre eine Bankrotterklärung der sich zurückziehenden Staaten und hätte nicht abzuschätzende negative Folgen für die alles andere als auf ewig gefügte Weltpolitik dieser Staaten. Abgesehen davon wäre ein Afghanistan, aus dem sich heute alle Staaten zurückziehen, sehr schnell wieder dort, wo es 2001 schon mal war, wenn nicht schlimmer, und DAS wollen wir alle ganz bestimmt nicht.

Insgesamt könnte die Strategie McCrystals "die Wende" bringen und sie klingt vielversprechend. Schade nur, dass keine einzige der jetzt von deutschen Politikern proklamierten "neuen Ideen" auf deren Mist gewachsen ist, sondern dem Konzept der US-Armee entstammen.

Freitag, 22. Januar 2010

Lebenszeichen aus dem Dschungel

Vor über einem Jahr gab es von mir an dieser Stelle das letzte Lebenszeichen. Vereinzelt wurde ich in der Vergangenheit gefragt, was denn nun mit der Herde sei und ob denn da noch irgendetwas käme oder man das Thema ad acta legen müsste. Ich habe lange, wirklich sehr lange mit mir selber gerungen, ob - und wenn ja: was - ich denn überhaupt zur Welt beizutragen habe und ob es überhaupt sinnvoll sein könnte, das Thema Herde erneut anzufassen.

Um es vorwegzunehmen: Diese Überlegungen sind weit entfernt von einem greifbaren Ergebnis. Das hat nichts damit zu tun, dass sich die Situation in der Welt und in Deutschland so weit geändert hätte, dass man darüber nicht mehr nachzudenken bräuchte. Im Gegenteil. Die Frage, die sich mir noch immer stellt, ist viel mehr die, ob es mir hilft, mich über das Medium Herde damit auseinander zu setzen. Habe ich "es" noch? Kann ich noch immer schreiben? Beim Schreiben dieser Zeilen habe ich so meine Zweifel. Diese Fragen kann ich noch nicht beantworten und ich rechne ganz bestimmt nicht mit einer Antwort von außen. Ohne eine Antwort auf diese Frage ist aber die Frage für mich nicht zu beantworten, ob sich die Herde wieder aus dem Dschungel heraus ans Licht trauen wird oder soll oder kann.

Ich erwähnte damals, dass in meinem Leben eine Menge aus dem Ruder lief und mir gravierende Veränderungen erhebliche Schwierigkeiten bereiteten. Zurückblickend bleibt festzustellen, dass die Konsequenzen der anfänglichen Ereignisse im Wahrsten Sinne des Wortes lediglich eine Ouvertüre darstellten. Ein geflügeltes Wort lautet: "Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen." Nun, ich konnte nicht lächeln, von "froh sein" ganz zu schweigen und es kam erwartungsgemäß schlimmer. Erheblich schlimmer sogar. Details will ich mir und Euch ersparen. Es mag der Hinweis genügen, dass sich kompetente Fachleute noch immer erhebliche Sorgen um mich machen, ohne wirklich sagen zu können, wie das Trümmerfeld auch nur ansatzweise bereinigt werden könnte.

Auf der "Haben"-Seite sind ein paar Zugewinne zu verzeichnen. Ein neues Handy (ein innovatives Smartphone amerikanischer Herkunft) eröffnete mir die Welt der mobilen Vernetzung, die ich nicht mehr missen möchte. Mein neuer Rechner (auf Basis eines Phenom II 955BE) begeistert mich durch einerseits nie gekannte Rechenleistung und andererseits nachgerade phänomenal großen Speicherplatz, der bei mir durch das Fotografieren immer chronisch knapp ist. Eine neue Kamera (Canon 7D) zeigte mir, dass es nicht nur einen rein finanziellen Unterschied zwischen "Consumer Class" und "Profisektor" gibt: Nach und nach verstehen meine neue Kamera und ich uns sogar soweit, dass das, was meine Kamera macht und das, was ich von ihr will, sogar irgendetwas miteinander zu tun hat.

In Sachen Fotografie habe ich insgesamt angeblich bemerkenswerte Fortschritte gemacht, die mir - für mich vollkommen überraschend - aus unerwarteter Richtung Respekt und Anerkennung einbrachten. Wirklich "vorwärts" geht es hier nach meinem Empfinden aber eher nicht. Keine Ahnung, was sich daraus entwickeln wird. Völlig überraschend wurden mir ein paar kleinere Aufträge zur eigenverantwortlichen Gestaltung von (Print-)Werbung eines international sehr bekannten Herstellers von Grafiksoftware zugeschanzt, die zwar finanziell nicht mal annähernd unter "erwähnenswert" abzuhandeln sind, sich aber ganz gut in der Vita machen.

Die "Soll"-Seite ist erwartungsgemäß nicht wirklich schön. Das Beobachten des alltäglichen Wahnsinns fuhr ich lange Zeit auf Sparflamme, was unmittelbare Konsequenzen in Bezug auf das Mitredenkönnen hat. Beruflich darf man ohne zu übertreiben von einer erschreckenden Stagnation und Perspektivlosigkeit sprechen. Mein Privatleben hat sich radikal verändert. Tiefe Wunden wurden geschlagen und alte Wunden aufgerissen.

Die Folgen sind bislang bestenfalls als "schwerwiegend" - realistischer wohl als "katastrophal" - zu beschreiben. Mein "Sozialverhalten", aber auch Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl haben gravierenden Schaden genommen. Meine Neigung, dem Gegenüber den "benefit of a doubt" zu gewähren, ist nahezu auf einem Nullpunkt angekommen. Zu etlichen Menschen habe ich den Kontakt vollständig abgebrochen und zu sehr vielen anderen Menschen den Kontakt dramatisch heruntergeschraubt. Ich beschäftige zwar manchmal mit mir selbst, aber wohl nicht so, wie es erfolgversprechend(er) wäre - können und wollen liegen weit auseinander. Vom Thema "Frauen" fange ich besser gar nicht erst an, sonst artet das hier in einen brutalen Rundumschlag aus.

Kurzum: Ja, man kann sagen, dass ich meinen Kopf schon ein gutes Stück tief in meinem eigenen Rektum versenkt habe. Klar, auch das Leben anderer Menschen ist schwierig und nicht immer schön und mein "Schicksal" (ich habe ernsthafte Schwierigkeiten mit diesem Wort) ist bestimmt nicht das hässlichste, schwierigste, grausamste auf dieser Welt. Es ist aber das einzige, das mich im Moment unmittelbar interessiert. Gibt es Hoffnung? Das hängt davon ab, wen man dazu befragt. Ich habe eine sehr trockene Meinung dazu und an Wunder glaube ich nicht. Ich werde der Welt aber sicherlich noch einige Zeit erhalten bleiben - was manchen freuen, andere sehr stören wird.

Was bedeutet das alles für die Herde? Ganz ehrlich: Ich weiß es noch nicht. Vielleicht bin ich langsam wieder so weit, mich an die Herde heranzutrauen, vielleicht auch nicht.

Wir werden sehen.